Normen
B-VG Art139 Abs1 Z1
COVID-19-MaßnahmenG §2
EpidemieG 1950 §24, §43 Abs4a
COVID-19-MaßnahmenV des Landeshauptmanns von Tirol vom 20.03.2020 §3, §4 Abs1, §4 Abs2, §4 Abs4, §4 Abs5
VfGH GO §42
VfGG §7 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VFGH:2020:V535.2020
Spruch:
I. 1. §3 und §4 Abs4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl für Tirol Nr 35/2020, waren bis zum Ablauf des 4. April 2020 gesetzwidrig.
2. Die als gesetzwidrig festgestellten Bestimmungen sind nicht mehr anzuwenden.
3. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumenten-schutz ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Bundesgesetzblatt II verpflichtet.
II. §4 Abs1, Abs2 und Abs5 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl für Tirol Nr 35/2020, war gesetzwidrig.
III. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Antrag
Mit dem vorliegenden, auf Art139 Abs1 Z1 B‑VG gestützten Antrag begehrt das Landesverwaltungsgericht Tirol, der Verfassungsgerichtshof möge feststellen, dass
"1. §4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020, LGBl Nr 35/2020, in eventu §4 Abs1, in eventu §4 Abs1 und Abs2 der Verordnung, gesetzwidrig war;
2. §3 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, in eventu §3 Abs1, in eventu §3 Abs1 und 2 der Verordnung, gesetzeswidrig war."
II. Rechtslage
Die maßgebliche Rechtslage stellt sich wie folgt dar:
1. §2 und §3 des Bundesgesetzes betreffend vorläufige Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 (COVID‑19-Maßnahmengesetz), BGBl I 12/2020, lauteten in der bis zum Ablauf des 4. April 2020 (§2) bzw bis zum Ablauf des 25. September 2020 (§3) geltenden Stammfassung:
"Betreten von bestimmten Orten
§2. Beim Auftreten von COVID‑19 kann durch Verordnung das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden, soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 erforderlich ist. Die Verordnung ist
1. vom Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Bundesgebiet erstreckt,
2. vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf das gesamte Landesgebiet erstreckt, oder
3. von der Bezirksverwaltungsbehörde zu erlassen, wenn sich ihre Anwendung auf den politischen Bezirk oder Teile desselben erstreckt.
Das Betretungsverbot kann sich auf bestimmte Zeiten beschränken.
Strafbestimmungen
§3. (1) Wer eine Betriebsstätte betritt, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
(2) Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte, deren Betreten gemäß §1 untersagt ist, nicht betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro zu bestrafen. Wer als Inhaber einer Betriebsstätte nicht dafür Sorge trägt, dass die Betriebsstätte höchstens von der in der Verordnung genannten Zahl an Personen betreten wird, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen.
(3) Wer einen Ort betritt, dessen Betreten gemäß §2 untersagt ist, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von bis zu 3 600 Euro zu bestrafen."
2. §24 und §43 Epidemiegesetz 1950, BGBl 186/1950, laute(te)n in der am 28. März 2020 geltenden Fassung BGBl I 114/2006 (§24) bzw BGBl I 63/2016 (§43):
"Verkehrsbeschränkungen für die Bewohner bestimmter Ortschaften.
§24. Sofern dies im Hinblick auf Art und Umfang des Auftretens einer meldepflichtigen Erkrankung zum Schutz vor deren Weiterverbreitung unbedingt erforderlich ist, hat die Bezirksverwaltungsbehörde für die Bewohner von Epidemiegebieten Verkehrbeschränkungen zu verfügen. Ebenso können Beschränkungen für den Verkehr mit den Bewohnern solcher Gebiete von außen angeordnet werden.
V. HAUPTSTÜCK.
Allgemeine Bestimmungen.
Behördliche Kompetenzen.
§43. (1) Die Bestimmungen des Gesetzes vom 30. April 1870, RGBl Nr 68, betreffend die Organisation des öffentlichen Sanitätsdienstes, bleiben durch die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes unberührt.
(3) Beim Auftreten von Scharlach, Diphtherie, Abdominaltyphus, Paratyphus, Flecktyphus, Blattern, Asiatischer Cholera, Pest, Ägyptischer Augenentzündung, Wutkrankheit, Bißverletzungen durch wutkranke oder wutverdächtige Tiere sowie in sonstigen Fällen dringender Gefahr sind die im §5 Abs1 bezeichneten Erhebungen und die in den §§7 bis 14 bezeichneten Vorkehrungen auch sofort an Ort und Stelle von den zuständigen, im öffentlichen Sanitätsdienste stehenden Ärzten zu treffen.
(4) Die Einleitung, Durchführung und Sicherstellung sämtlicher in diesem Gesetze vorgeschriebener Erhebungen und Vorkehrungen zur Verhütung und Bekämpfung anzeigepflichtiger Krankheiten beziehungsweise die Überwachung und Förderung der in erster Linie von den zuständigen Sanitätsorganen getroffenen Vorkehrungen sind Aufgabe der Bezirksverwaltungsbehörde.
(5) Dem Landeshauptmann obliegt im Rahmen seines örtlichen Wirkungsbereichs die Koordinierung und Kontrolle der Maßnahmen der Bezirksverwaltungsbehörden gemäß Abs4. Besteht der Verdacht oder die Kenntnis über einen bundesländerübergreifenden Ausbruch einer Erkrankung gemäß §1 Abs1 und 2, so haben die Landeshauptmänner der betroffenen Bundesländer zusammenzuarbeiten und ihre Tätigkeiten zu koordinieren.
(6) Das Bundesministerium für Gesundheit, Familie und Jugend ist im Fall von Krankheitsausbrüchen vom Landeshauptmann unverzüglich zu verständigen."
3. Art49 Z5 des 3. COVID‑19-Gesetzes, BGBl I 23/2020, fügte §43 Epidemiegesetz 1950 mit Wirkung vom 5. April 2020 folgenden Abs4a ein:
"(4a) Soweit in diesem Bundesgesetz eine Zuständigkeit zur Erlassung von Verordnungen durch die Bezirksverwaltungsbehörde vorgesehen ist, sind Verordnungen, deren Anwendungsbereich sich auf mehrere politische Bezirke oder das gesamte Landesgebiet erstreckt, vom Landeshauptmann zu erlassen. Einer Verordnung des Landeshauptmanns entgegenstehende Verordnungen der Bezirksverwaltungsbehörde treten mit Rechtswirksamkeit der Verordnung des Landeshauptmanns außer Kraft, sofern darin nicht anderes angeordnet ist."
4. Die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes (im Folgenden: Verordnung des LH von Tirol), LGBl 35/2020 (§§1 Abs2 und 7 Abs2, 3 und 4 idF LGBl 41/2020), lautete am 28. März 2020 wie folgt (die angefochtenen Bestimmungen sind hervorgehoben):
"§1
(1) Zur Verhinderung der weiteren Verbreitung von COVID‑19 ist das Betreten öffentlicher Orte im gesamten Landesgebiet nach Maßgabe der §§2 bis 5 unter Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs für alle Gemeinden verboten.
(2) Durch diese Verordnung bleiben etwaige durch die zuständige Bezirksverwaltungsbehörde für die Gemeinden des Paznauntals und die Gemeinde St. Anton am Arlberg sowie für die Gemeinde Sölden erlassene verkehrsbeschränkende Maßnahmen nach dem Epidemiegesetz 1950 und für diese Gemeinden erlassene Maßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 nach §2 Z3 COVID‑19-Maßnahmengesetz unberührt.
§2
(1) Österreichische Staatsbürger und Staatsangehörige anderer Staaten, die nicht über einen Wohnsitz in Tirol verfügen, haben das Landesgebiet unverzüglich zu verlassen, sofern sie nicht einer beruflichen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit nachgehen.
(2) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die über einen Wohnsitz in Tirol verfügen und sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung nicht im Landesgebiet aufhalten, ist die Einreise gestattet. Dies gilt auch für Personen, die im Landesgebiet einer beruflichen Tätigkeit zur Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit nachgehen.
(3) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die nicht über einen Wohnsitz in Tirol verfügen, ist abweichend von Abs2 die Einreise in das Landesgebiet gestattet, wenn dies zur Besorgung wichtiger und unaufschiebbarer persönlicher Verpflichtungen (zB Begräbnis, Obsorgeverpflichtungen) unbedingt notwendig ist.
(4) Österreichischen Staatsbürgern und Staatsangehörigen anderer Staaten, die über einen Wohnsitz im Landesgebiet verfügen und sich im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung im Landesgebiet aufhalten, ist das Verlassen des Landesgebietes untersagt; sie haben sich unverzüglich zu ihrem Wohnsitz zu begeben. Das Verlassen des Landesgebietes ist bei Vorliegen von triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinn des §4 Abs5 gestattet, zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit jedoch nur zum Zweck der Aufrechterhaltung von kritischer Infrastruktur oder der Versorgungssicherheit; diese Einschränkung gilt nicht für Personen, die zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit die Felbertauernstraße passieren müssen.
(5) Abweichend von Abs1 bis 4 ist die Durchreise durch das Landesgebiet ohne Zwischenstopp auf der kürzest möglichen Route zulässig, sofern die Ausreise sichergestellt ist.
(6) Als Wohnsitz im Sinn dieser Verordnung gelten der Hauptwohnsitz, der Nebenwohnsitz oder der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts im Landesgebiet.
§3
(1) Die Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet werden verboten.
(2) Abs1 gilt nicht für:
a) (Einsatz‑) Fahrten der Blaulichtorganisationen,
b) Allgemeine Versorgungsfahrten durch Zulieferer (zB Lebensmitteltransporte) und Fahrten zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge (zB Straßendienst, Müllabfuhr, Dienstleistungsbetriebe, öffentlicher Verwaltungsdienst, öffentlicher Kraftfahrlinien- und Schienenverkehr) und im Bereich der versorgungskritischen öffentlichen Infrastruktur (zB Strom- und Wasserversorgung),
c) Fahrten zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsfürsorge und Alten- und Krankenpflege, insbesondere individuell unaufschiebbare Fahrten (zB Dialyseversorgung, Bestattung nächster Angehöriger), und
d) Fahrten aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinn des §4 Abs5.
(3) Zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs ist das Durchfahren der Gemeinden im Landesgebiet erlaubt.
§4
(1) Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes (§2 Abs6) ist verboten.
(2) Ausgenommen vom Verbot nach Abs1 ist das Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen. Das Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist dabei auf ein zeitlich und örtlich unbedingt notwendiges Minimum zu beschränken.
(3) Ab dem Verlassen des eigenen Wohnsitzes ist, abgesehen von Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, gegenüber anderen Personen ein Abstand von mindestens einem Meter einzuhalten. Bei der Benützung von Kraftfahrzeugen zu nicht privaten Zwecken, die außer dem Lenkplatz Plätze für mehr als vier Personen aufweisen, oder bei Benützung von öffentlichen Verkehrsmitteln ist ein Abstand von mindestens einem Meter gegenüber anderen Personen einzuhalten.
(4) Beim Verlassen des eigenen Wohnsitzes aus triftigem Grund zur Deckung von Grundbedürfnissen ist das Überschreiten der Grenze des jeweiligen Gemeindegebietes verboten. Ein Übertreten der Grenzen des Gemeindegebietes zu dem im §3 Abs2 litd genannten Zweck ist nur dann zulässig, wenn nachweislich die Grundbedürfnisse nicht innerhalb der Grenzen des Gemeindegebietes gedeckt werden können. Dies ist im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
(5) Triftige Gründe zur Deckung von Grundbedürfnissen, die ein Verlassen des eigenen Wohnsitzes rechtfertigen, sind die Ausübung beruflicher Tätigkeiten, die Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (zB Arztbesuch, medizinische Behandlungen, Therapie), sonstige Handlungen zur Versorgung der Grundbedürfnisse (zB Lebensmitteleinkauf, Gang zur Apotheke oder zum Geldautomat, Besuch bei Alten, Kranken oder Menschen mit Einschränkungen in ihrem jeweiligen privaten Bereich) und Handlungen zur Versorgung von Tieren. Diese triftigen Gründe sind im Falle von Kontrollen durch die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes glaubhaft zu machen.
§5
Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben die Beschränkungen zu überwachen und gegebenenfalls sicherheitspolizeilich einzuschreiten.
§6
Wer dieser Verordnung zuwiderhandelt, begeht gemäß §3 Abs3 COVID‑19-Maßnahmengesetz eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe von bis zu 3.600,‑ Euro, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe bis zu vier Wochen, zu bestrafen.
§7
(1) Diese Verordnung tritt mit 21. März 2020 in Kraft, soweit in den Abs2, 3 und 4 nicht anderes bestimmt wird.
(2) Für die Gemeinde St. Anton am Arlberg treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(3) Für die Gemeinden im Paznauntal treten §1 Abs2 und §4 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(4) Für die Gemeinde Sölden treten §1 Abs2, §4 Abs1, 2, 3 und 5 sowie in Bezug auf diese Bestimmungen die §§5 und 6 mit 21. März 2020 in Kraft.
(5) Diese Verordnung tritt mit dem Ablauf des 13. April außer Kraft.
(6) Die Verordnung des Landeshauptmannes nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 33/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 34/2020, tritt mit dem Ablauf des 20. März 2020 außer Kraft."
5. Die Verordnung des LH von Tirol, LGBl 35/2020 idF LGBl 41/2020, trat gemäß den §§1 und 2 der "Verordnung des Landeshauptmannes [von Tirol] vom 6. April 2020, mit der die Verordnung nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl Nr 35/2020, in der Fassung der Verordnung LGBl Nr 41/2020, aufgehoben wird", LGBl 44/2020, mit Ablauf des 6. April 2020 außer Kraft.
III. Antrag und Vorverfahren
1. Beim Landesverwaltungsgericht Tirol ist zur Zahl LVwG-2020/15/1506 die Bescheidbeschwerde gegen ein Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Lienz vom 4. Juni 2020 anhängig, mit welchem dem Beschwerdeführer vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol sowohl ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 als auch in Tateinheit gegen §4 Abs1 der Verordnung des LH von Tirol, LGBl 35/2020, zur Last gelegt wurde, weil der Beschwerdeführer am 28. März 2020 gegen 23.00 Uhr in einer fremden Wohnung in Lienz angetroffen worden sei und somit entgegen § 3 leg cit von Nussdorf-Debant ab- und zu der Gemeinde Lienz zugefahren sei bzw. entgegen §4 leg cit seinen Wohnsitz in Nussdorf-Debant verlassen habe.
2. Aus Anlass dieses Verfahrens stellt das Landesverwaltungsgericht Tirol den vorliegenden Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B‑VG an den Verfassungsgerichtshof.
3. Das Landesverwaltungsgericht Tirol führt zur Zulässigkeit seines Antrages wie folgt aus (ohne Hervorhebungen im Original):
"Einleitend ist zu berücksichtigen, dass das in §1 Abs2 VStG normierte 'Günstigkeitsprinzip' im vorliegenden Fall nicht anzuwenden ist: Zwar sieht §1 Abs2 VStG vor, dass sich die Strafe nach dem zur Zeit der Tat geltenden Recht richtet, es sei denn, dass das zur Zeit der Entscheidung geltende Recht in seiner Gesamtauswirkung für den Täter günstiger wäre. Dieses Günstigkeitsprinzip gilt allerdings nicht für 'Zeitgesetze': Dabei handelt es sich um Gesetze, die von vorn herein nur für einen bestimmten Zeitraum gegolten haben und der Wegfall der Regelung somit nicht auf einem geänderten Unwerturteil des Normgebers basiert (vgl dazu etwa generell VwGH 22.07.2019, Ra 2019/02/0107).
Die Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 wurde mit Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 6. April 2020, LGBl Nr 44/2020 aufgehoben, zumal sich die Gesamtsituation betreffend die Verbreitung des SARS‑CoV‑2 Virus in Tirol zu diesem Zeitpunkt wiederum deutlich verbessert hat. Die Aufhebung der Verordnung ist somit eindeutig auf eine Änderung der für die Anordnung relevante Sachlage zurückzuführen und nicht auf eine nachträglich andere Beurteilung der Gefährlichkeit des Virus.
Da die Handlungen des Beschwerdeführers unter die zum Tatzeitpunkt geltende Verordnung des Landeshauptmannes vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes zu subsumieren sind und der behördliche Strafvorwurf auch in Übereinstimmung mit dieser Rechtsgrundlage gesetzt wurde, ist zu Spruchpunkt 1. §4 und zu Spruchpunkt 2. §3 dieser Verordnung hier anzuwenden.
Zumal der Beschwerdeführer auch gar nicht bestreitet, dass er seinen Wohnsitz in 9990 Nußdorf‑Debant […] für ein Treffen mit M*** in dessen Wohnung in 9900 Lienz […] verlassen hat und somit auch eine Zufahrt zu bzw eine Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet stattgefunden hat, ist die Sache im Sinne des §28 Abs2 VwGVG entscheidungsreif. Dass die Verordnung bereits außer Kraft getreten ist, ist nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichts unbeachtlich, wozu auf die obenstehenden Ausführungen zu §1 Abs2 VStV verwiesen wird."
4. Das Landesverwaltungsgericht Tirol legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, wie folgt dar (ohne Hervorhebungen im Original):
"Nach der Bundesverfassung (Art18 Abs2 B‑VG) sind Verordnungen nur 'auf Grund der Gesetze' zu erlassen. Das heißt, dass eine Verordnung bloß präzisieren darf, was in den wesentlichen Konturen bereits im Gesetz selbst vorgezeichnet wurde (etwa VfSlg 11.639/1988 und die dort zitierte Vorjudikatur sowie VfSlg 14.895/1997). Soll ein Gesetz mit Durchführungsverordnung vollziehbar sein, müssen daraus also alle wesentlichen Merkmale der beabsichtigten Regelung ersehen werden können (Prinzip der Vorausbestimmung des Verordnungsinhaltes durch das Gesetz: VfSlg 4644/1964, 4662/1964, 5373/1966, 7945/1976); eine bloße formalgesetzliche Delegation, die der Verwaltungsbehörde eine den Gesetzgeber supplierende Aufgabe zuweist, stünde mit Art18 Abs1 (und 2) B‑VG in Widerspruch (zB VfSlg 4072/1961, 14.512/1996 und 16.902/2003 sowie VfSlg 17.476/2005).
Die Grenze zwischen einer noch ausreichenden materiellen Bestimmtheit des Gesetzes und einer formalen Delegation wird in einzelnen Fällen nicht immer leicht zu bestimmen sein. Entscheidungskriterium ist hier stets die Frage, ob die im Verordnungsweg getroffene (Durchführungs‑)Regelung auf ihre inhaltliche Gesetzmäßigkeit überprüft werden kann (zB VfSlg 1932/1950, 2294/1952, 4072/1961, 11.859/1988).
Dabei sind in Ermittlung des Inhalts des Gesetzes alle zur Verfügung stehenden Auslegungsmöglichkeiten auszuschöpfen: Nur wenn sich nach Heranziehung aller Interpretationsmethoden immer noch nicht beurteilen lässt, was im konkreten Fall rechtens ist, verletzt die Bestimmung die in Art18 B‑VG statuierten rechtsstaatlichen Erfordernisse (vgl VfSlg 8395/1978, 11.639/1988, 14.644/1996, 15.447/1999 und 16.137/2001).
In den Erläuterungen zum selbständigen Antrag der Abgeordneten August Wöginger und Sigrid Maurer, BA, nach §26 GOG‑NR, 396/A XXVII. GP , wird zu §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz ausgeführt, dass 'auch die Möglichkeit bestehen (soll), das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. Dies können etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Diese Orte können in der Verordnung abstrakt ("Kinderspielplätze", "Sportplätze") oder durch eine genaue Ortsangabe (zB betreffend bestimmte konsumfreie Zonen, Ortsgebiete, Gemeinden) oder eine Kombination aus beidem (Kinderspielplätze in einem bestimmten Bundesland) umschrieben werden.'
§2 COVID‑19-Maßnahmengesetz eröffnet somit die Möglichkeit durch Verordnung das Betreten 'bestimmter Orte' durch Verordnung zu untersagen. Als bestimmte Orte gelten nach den Erläuterungen der Antragsteller etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen.
Die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz ist nach der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 14.07.2020, V363/2020‑25) von vornherein dahingehend begrenzt, dass mit der Ermächtigung, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, nur das Zusammentreffen von Menschen eben an bestimmten Orten unterbunden werden kann. §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz geht also vom Grundsatz der Freizügigkeit aus und ermächtigt den Verordnungsgeber dazu, diese Freizügigkeit durch Betretungsverbote bestimmter Orte einzuschränken, wobei das Gesetz auch deutlich macht, welche Merkmale diese Orte, deren Betreten der Verordnungsgeber zum Zweck der Verhinderung von COVID‑19 untersagen kann, aufweisen müssen, nämlich, dass die Nutzung dieser Orte zum persönlichen Zusammentreffen mehrerer Menschen außerhalb der eigenen Wohnung führt.
Der Verordnungsgeber kann dabei die Orte, deren Betreten er zur Verhinderung der Verbreitung von COVID‑19 untersagt, konkret oder abstrakt umschreiben, er kann für Außenstehende auch, wie die Erläuterungen deutlich machen, das Betreten regional begrenzter Gebiete wie Ortsgebiete oder Gemeinden untersagen; es ist ihm aber verwehrt, durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art8 EMRK) ein — wenn auch entsprechend der räumlichen Ausdehnung der Verordnung gemäß §2 Z2 oder 3 COVID‑19-Maßnahmengesetz regional begrenztes — Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen. Damit ist die gesetzliche Ermächtigung des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz dahingehend begrenzt, dass das Betreten von bestimmten Orten untersagt werden darf, nicht aber, dass Menschen auf Grundlage des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz dazu verhalten werden können, an einem bestimmten Ort, insbesondere auch in ihrer Wohnung, zu verbleiben.
[…] Zu §4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020:
Zumal daher nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes das COVID‑19-Maßnahmengesetz eine Ermächtigung zum Untersagen des Verlassens der eigenen Wohnung nicht enthält, wurde die angefochtene Verordnung ohne gesetzliche Ermächtigung erlassen.
Vollständigkeitshalber wird betreffend §4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020, auch auf den bereits eingebrachten Antrag gemäß Art139 Abs1 Z1 B‑VG des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 03.08.2020 (V512/2020) verwiesen.
[…] Zu §3 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20.03.2020, LGBl Nr 35/2020:
Nach Ansicht des Landesverwaltungsgerichts Tirol ist infolge der obzitierten Judikatur des Verfassungsgerichtshofes eine Ermächtigung zum Untersagen der Zufahrt zu und der Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet im COVID‑19-Maßnahmengesetz ebenso nicht enthalten. Mit diesem allgemein gehaltenen Verbot wird auf den Verbleib in einer 'bestimmten' Gemeinde abgestellt. Auf Grundlage des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetzes können Menschen jedoch nicht dazu verhalten werden, an einem bestimmten Ort – der jeweiligen Gemeinde, in der sie ihren Wohnsitz haben – zu verweilen. Somit wurde die angefochtene Verordnung auch diesbezüglich ohne gesetzliche Ermächtigung erlassen.
Zusammengefasst wäre das beim Landesverwaltungsgericht Tirol mit Beschwerde bekämpfte Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Lienz somit insgesamt nach zwei Bestimmungen einer Verordnung zu beurteilen, der dafür die gesetzliche Grundlage fehlt."
5. Der Landeshauptmann von Tirol hat als verordnungserlassende Behörde die Akten betreffend das Zustandekommen der zur Prüfung gestellten Verordnung vorgelegt und eine Äußerung erstattet, in der die Zulässigkeit des Antrages, hinsichtlich §4 der Verordnung auch die Begründetheit bejaht, den im Antrag erhobenen Bedenken gegen §3 der angefochtenen Verordnung aber wie folgt entgegengetreten wird (ohne Hervorhebungen im Original):
"Zum Verbot der Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet nach der Verordnung LGBl Nr 35/2020:
§3 Abs1 der Verordnung verbietet die Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet. Ausnahmen bestehen nur nach den Abs2 und 3 dieser Verordnungsbestimmung. Nach Abs2 sind neben Einsatzfahrten der Blaulichtorganisationen (lita) allgemeine Versorgungsfahrten durch Zulieferer und Fahrten zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der Daseinsvorsorge und der versorgungskritischen Infrastruktur ausgenommen (litb), weiters Fahrten zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsfürsorge und der Alten- und Krankenpflege (litc) sowie Fahrten aus triftigen Gründen zur Deckung von Grundbedürfnissen (litd; […]). Schließlich ist nach Abs3 dieser Verordnungsbestimmung zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des freien Warenverkehrs auch das Durchfahren der Gemeinden im Landesgebiet erlaubt.
Auch das hier in Rede stehende Verbot fügt sich in das vorhin […] beschriebene Gesamtsystem, das sich in der seinerzeitigen Krisensituation – so die Sichtweise bei Verordnungserlassung – in gesetzlich zulässiger Weise darauf beschränkt hat, ausgehend von einem an sich umfassend angelegten Verbot des Betretens öffentlicher Orte, jene Ausnahmen und Begleitregelungen vorzusehen, die zwingend notwendig waren, um zum einen das öffentliche Leben und die öffentliche Versorgung im Land im notwendigen Umfang aufrechterhalten zu können, und zum anderen aber auch um auf Seite der Rechtsunterworfenen nicht unverhältnismäßig in Grundrechtspositionen einzugreifen.
Es besteht hier jedoch ein wesentlicher Unterschied zu dem durch §4 Abs1 der Verordnung LGBl Nr 35/2020 normierten Verbot des Verlassens des eigenen Wohnsitzes. Ein Verbot der Zufahrt zu und der Abfahrt aus einer Gemeinde, das im Ergebnis eine Quarantäneregelung für die betroffene Gemeinde bewirkt, kann für sich alleine bestehen, es impliziert nicht ein Verbot auch des Verlassens des eigenen Wohnsitzes. Gerade darin hat der Verfassungsgerichtshof aber im Erkenntnis V363/2020‑25 vom 14. Juli 2020 ein von §2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes in der damals in Geltung gestandenen (Stamm‑)Fassung gesetzlich nicht gedecktes Ausgangsverbot schlechthin gesehen. Im Besonderen ist hier auf Rz 56 dieses Erkenntnisses zu verweisen, wonach es dem Verordnungsgeber verwehrt ist 'durch ein allgemein gehaltenes Betretungsverbot des öffentlichen Raumes außerhalb der eigenen Wohnung (im weiten Sinn des Art8 EMRK) ein [..] Ausgangsverbot schlechthin anzuordnen.' Eben dies sieht die in Rede stehende Quarantäneregelung für sich genommen nicht vor; sie verbietet im Ergebnis zwar – von Ausnahmen abgesehen – das Verlassen des Gemeindegebietes, beschränkt die Freizügigkeit innerhalb der betroffenen Gemeinden aber nicht. Ein allgemeines Verbot, den öffentlichen Raum zu betreten, bewirkt eine solche Gemeindequarantäne sohin gerade nicht.
Insofern scheint es fraglich, ob die Erwägungen des VfGH in diesem Erkenntnis – wie vom Landverwaltungsgericht Tirol offenkundig angenommen – tatsächlich auf diese Konstellation übertragbar sind. Insbesondere führen die Gesetzesmaterialien (vgl den Ausschussbericht BlgNr 396/A 27. GP ) als Beispiele für Orte, deren Betreten untersagt werden kann, ausdrücklich auch Gemeinden an. Eine explizite Aussage des Verfassungsgerichtshofes dazu liegt jedenfalls noch nicht vor.
[…] Zu den maßgebenden Gründen für die Erlassung der Verordnung LGBl Nr 35/2020:
Im Folgenden soll dargelegt werden, warum es aus Sicht des Landeshauptmannes angesichts der von ihm als Verordnungsgeber vorgefundenen Krisensituation im Interesse des Gesundheitsschutzes notwendig war, zum Zweck der Verhinderung der weiteren Verbreitung und des Eindämmens von COVID‑19 zeitlich befristet die in Rede stehenden Verbote vorzusehen.
Tirol war aufgrund etlicher Faktoren (wie dem sehr starken Wintertourismus mit etlichen touristischen Ballungszentren und nicht zuletzt der räumlichen Nähe zum schwer betroffenen norditalienischen Raum, vor allem der Lombardei) in einer besonders exponierten Situation. Zu alledem hatte Tirol im Vergleich zu den anderen Bundesländern nicht zuletzt auch signifikant höhere Erkrankungszahlen und Zuwachsraten (bis hin zu 2.040 aktiv Erkrankte zum 2. April 2020 [bei insgesamt 2.700 positiv Getesteten]). Angesichts dieser Lage war es Mitte März 2020 praktisch nicht mehr möglich, eine effiziente Nachverfolgung und Absonderung von Kontaktpersonen durchzuführen, was einen weiteren Grund darstellte, der generelle Quarantänemaßnahmen unumgänglich machte (Verordnung des Landeshauptmannes LGBl Nr 33/2020, nachfolgend Verordnung des Landeshauptmannes LGBl Nr 35/2020, jeweils mit Novellen). Die Einschränkung der menschlichen Bewegungsfreiheit zuerst in den hauptbetroffenen Gemeinden des Paznauntales, in St. Anton am Arlberg und Sölden, in weiterer Folge aber dann im gesamten Landesgebiet, war zwingend notwendig, um die exponentiell steigende Infektionskurve wieder soweit abzuflachen und zu stabilisieren. Als sich dann infolge all dieser Maßnahmen die erwünschte positive Entwicklung eingestellt und manifestiert hatte wurde die landesweite Quarantäne, die ursprünglich bis zum Ablauf des 13. April 2020 dauern sollte, mit dem Ablauf des 6. April 2020 vorzeitig beendet.
Dies alles spiegelte sich auch in der Entwicklung des Reproduktionsfaktors wieder. Lag dieser Faktor am 17. März 2020 landesweit noch bei 2,7, sank dieser bis zum 2. April auf 1 und in weiterer Folge auf unter 1. (Quelle: AGES, Epidemiologische Parameter des COVID19 Ausbruchs, Ausgabe 30.04.2020, als Anlage angeschlossen). Damit war vom 2. April an die exponentielle Ausbreitung von COVID‑19 in Tirol nachhaltig gestoppt. Eine ganz besonders negative Situation bestand demgegenüber unmittelbar vor Beginn der landesweiten Quarantäne, lag der Reproduktionsfaktor kurze Zeit, und zwar zwischen dem 12. und 14. März, sogar nahe bei 15 (!), um dann – wie erwähnt – bis zum 17. März auf 2,7 abzufallen (Quelle: AGES, Lageupdate, Österreich, Stand 30.03.2020, als Anlage ebenfalls angeschlossen).
Dies alles zeigt, warum aus damaliger Sicht die getroffenen Maßnahmen notwendig erschienen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems, speziell des Krankenanstaltenbereiches, in Tirol und damit weitere Todesfälle zu vermeiden.
[…] Zur Koordination mit dem Bund:
Die Erlassung der antragsgegenständlichen Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol, LGBl Nr 35/2020, stützte sich auf den Erlass des BMSGPK vom 18.03.2020, GZ 2020‑0.187.183 (hinsichtlich der die Bewegungsfreiheit einschränkenden Maßnahmen), auf den an dieser Stelle verwiesen werden darf.
Dieser in der Anlage angeschlossene Erlass richtete sich an die Landeshauptleute und stellte klar, dass Betretungsverbote in Zusammenhang mit COVID‑19 nunmehr auf die Grundlage des COVID‑19-Maßnahmengesetzes zu stützen sind. Daher erfolgte die Aufhebung der entsprechenden bis dato von den Bezirksverwaltungsbehörden erlassenen und auf das Epidemiegesetz 1950 gestützten Verordnungen, zumal gleichzeitig der Landeshauptmann, gestützt auf §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, eine Verordnung erließ, mit der entsprechende Maßnahmen landesweit verfügt wurden (LGBl Nr 33/2020).
[…] Zur aktuellen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes:
Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 14.07.2020, V363/2020‑25, zu den auf §2 Z1 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes zurückgehenden §§1 und 2 COVID‑19-Maßnahmenverordnung‑98 des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz ausgeführt hat, ermächtigt das COVID‑19-Maßnahmengesetz den Verordnungsgeber lediglich dazu, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen, jedoch nicht dazu, ein Ausgangsverbot zu normieren, das Menschen dazu verhält, innerhalb ihrer Wohnungen zu bleiben.
Im Lichte dieser Judikatur ist einzuräumen, dass der auf derselben Systematik beruhende §4 der antragsgegenständlichen Verordnung des Landeshauptmannes insofern gesetzlich nicht gedeckt gewesen sein dürfte, als das darin vorgesehene Verbot des Verlassens des eigenen Wohnsitzes über die Ermächtigung des COVID‑19-Maßnahmengesetzes hinausging.
Demgegenüber scheint nach Ansicht des Landeshauptmannes aus den oben […] dargelegten Gründen dieses Erkenntnis einer 'Gemeindequarantäne', wie sie mit §3 der antragsgegenständlichen Verordnung des Landeshauptmannes verfügt wurde, nicht entgegenzustehen."
6. Der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz hat keine Äußerung erstattet.
7. Die Parteien des Verfahrens vor dem antragstellenden Gericht haben von der Erstattung einer Äußerung abgesehen.
IV. Erwägungen
1. Zur Zulässigkeit des Antrages
1.1. Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B‑VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B‑VG nur dann wegen Fehlens der Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).
1.2. Dem antragstellenden Landesverwaltungsgericht ist nicht entgegenzutreten, wenn es vor dem Hintergrund der von ihm zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes davon ausgeht, dass es im Anlassverfahren die angefochtenen Bestimmungen der §§3 und 4 der Verordnung des LH von Tirol anzuwenden hat.
1.3. Vor dem Hintergrund des konkreten Sachverhaltes, der dem Anlassverfahren vor dem Landesverwaltungsgericht Tirol zugrunde liegt, und der darauf abstellenden Bedenken des Landesverwaltungsgerichtes ob der Gesetzmäßigkeit des in §3 (und teilweise in §4 Abs4) der Verordnung des LH von Tirol angeordneten Verbotes der Zufahrt zu und der Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet bzw des in §4 Abs1 und 2 der Verordnung des LH von Tirol angeordneten Verbotes des Verlassens des eigenen Wohnsitzes, wenn dies nicht zur Deckung von Grundbedürfnissen im Sinne des §4 Abs5 der Verordnung erfolgt, ist der Antrag auch nicht zu eng gefasst.
1.4. Er umfasst mit §4 Abs3 der Verordnung des LH von Tirol aber auch eine Bestimmung, die von den genannten Verboten des Überschreitens der Gemeindegrenzen bzw des Verlassens des eigenen Wohnsitzes offensichtlich trennbar ist, weil §4 Abs3 der Verordnung, unabhängig von den genannten, in §3 und §4 Abs1, Abs2, Abs4 und Abs5 der Verordnung zum Ausdruck kommenden Verboten, ein selbständiges Abstandsgebot enthält. Das Landesverwaltungsgericht Tirol bringt auch nicht vor, dass die Bestimmung des §4 Abs3 der Verordnung des LH von Tirol eine Voraussetzung seiner Entscheidung im Anlassfall bildete, und trägt auch keine eigenständigen Bedenken gegen diese Bestimmung vor. Der Antrag ist daher, insoweit er sich auch auf den Absatz 3 des §4 der Verordnung des LH von Tirol bezieht, als unzulässig zurückzuweisen.
1.5. Im Übrigen, also hinsichtlich der Anfechtung des §3 und des §4 Abs1, Abs2, Abs4 und Abs5 der Verordnung des LH von Tirol erweist sich der Antrag aber, da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, als zulässig. Damit erübrigt sich ein Eingehen auf die Eventualanträge.
2. In der Sache
2.1. Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung gemäß Art139 B‑VG auf die Erörterung der geltend gemachten Bedenken zu beschränken (vgl VfSlg 11.580/1987, 14.044/1995, 16.674/2002). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen gesetzwidrig ist (VfSlg 15.644/1999, 17.222/2004).
2.2. Soweit zulässig, ist der Antrag begründet:
2.2.1. Zu §3 und §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung
2.2.1.1. Das antragstellende Landesverwaltungsgericht macht zu §3 der angefochtenen Verordnung unter Hinweis auf VfGH 14.7.2020, V363/2020, geltend, dass das angefochtene Verbot der Zufahrt zu und der Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet in seiner gesetzlichen Grundlage des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz keine Deckung gefunden habe. §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz ermächtige nicht dazu, Menschen zu verhalten, an einem bestimmten Ort – nämlich der jeweiligen Gemeinde, in der sie ihren Wohnsitz haben – zu verweilen.
2.2.1.2. Der Landeshauptmann von Tirol hält dem als verordnungserlassende Behörde entgegen, dass der Verfassungsgerichtshof in seinem zitierten Erkenntnis lediglich ein Verbot des Verlassens des eigenen Wohnsitzes als nicht durch §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz gedeckt erachtet habe. Es sei daher fraglich, ob die Erwägungen des Verfassungsgerichtshofes in diesem Erkenntnis tatsächlich auf die hier zu beurteilende Konstellation übertragen werden könnten. Insbesondere würden die Gesetzesmaterialien als Beispiele für Orte, deren Betreten untersagt werden kann, ausdrücklich auch Gemeinden anführen.
2.2.1.3. Gemäß §2 Z2 COVID‑19-Maßnahmengesetz in der zum Zeitpunkt der Verordnungserlassung geltenden Stammfassung BGBl I 12/2020 war der Landeshauptmann ermächtigt, unter näher bestimmten Voraussetzungen durch Verordnung das "Betreten von bestimmten Orten" zu untersagen. Die diesbezüglichen Gesetzesmaterialien (IA 396/A 27. GP , 10) haben dazu erläutert:
"Es soll auch die Möglichkeit bestehen, das Betreten bestimmter Orte zu untersagen. Dies können etwa Kinderspielplätze, Sportplätze, See- und Flussufer oder konsumfreie Aufenthaltszonen sein. Diese Orte können in der Verordnung abstrakt ('Kinderspielplätze', 'Sportplätze') oder durch eine genaue Ortsangabe (zB betreffend bestimmte konsumfreie Zonen, Ortsgebiete, Gemeinden) oder eine Kombination aus beidem (Kinderspielplätze in einem bestimmten Bundesland) umschrieben werden."
2.2.1.4. §3 der angefochtenen Verordnung hat die "Zufahrt zu und die Abfahrt aus den Gemeinden im Landesgebiet" – mit Ausnahmen – verboten. Damit hat er jedoch nicht das Betreten bestimmter Orte, sondern das Überschreiten von Gemeindegrenzen untersagt. Eine solche Verkehrsbeschränkung findet im Wortlaut des §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz keine Grundlage. Entsprechendes gilt für §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung.
2.2.1.5. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl zB VfSlg 2276/1952, 2432/1952, 4375/1963, 9253/1981, 14.938/1997, 16.094/2001, 16.930/2003) ist jedoch nicht entscheidend, auf welche Rechtsgrundlage eine Verordnung förmlich (zB in ihrer Promulgationsklausel) gestützt wird. Der Umstand, dass §3 und §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung in §2 COVID‑19-Maßnahmengesetz keine Grundlage finden, führt daher nur dann zur Gesetzwidrigkeit dieser Bestimmungen, wenn sie sich (im maßgeblichen Zeitraum) auch nicht auf eine andere gesetzliche Grundlage stützen konnten. Als weitere Rechtsgrundlage käme allerdings lediglich die Verordnungsermächtigung des §24 Epidemiegesetz 1950 in Betracht. Wie aus §43 Epidemiegesetz 1950 in der Fassung vor BGBl I 23/2020 abzuleiten war, stand die Verordnungsermächtigung des §24 Epidemiegesetz 1950 bis zum 5. April 2020 lediglich der Bezirksverwaltungsbehörde und nicht dem Landeshauptmann zu. §3 und §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung konnten daher im durch den Anlassfall bestimmten, maßgeblichen Zeitpunkt auch nicht durch §24 Epidemiegesetz 1950 gerechtfertigt werden.
2.2.1.6. Gemäß §43 Abs4a Epidemiegesetz 1950 in der seit dem 5. April 2020 in Geltung stehenden Fassung BGBl I 23/2020 sind Verordnungen, deren Erlassung nach dem Epidemiegesetz 1950 grundsätzlich in die Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörden fällt, vom Landeshauptmann zu erlassen, wenn deren Anwendungsbereich sich auf mehrere politische Bezirke oder das gesamte Landesgebiet erstreckt. Seit dem 5. April 2020 fanden §3 und §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung in §24 Epidemiegesetz 1950 eine hinreichende Grundlage.
2.2.1.7. Da §3 und §4 Abs4 der angefochtenen Verordnung mit Wirkung vom 7. April 2020 aufgehoben worden sind (LGBl 44/2020) und im Übrigen bereits mit Wirkung vom 5. April 2020 auf §24 Epidemiegesetz 1950 gestützt werden konnten, ist daher auszusprechen, dass §3 (Abs1 und die mit diesem in untrennbarem Zusammenhang stehenden Abs2 und 3) und §4 Abs4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, (bis zum Ablauf des 4. April 2020) gesetzwidrig waren.
2.2.2. Zu §4 Abs1, 2 und 5 der angefochtenen Verordnung
Das antragstellende Gericht bringt zur Wohnsitzbeschränkung des §4 der angefochtenen Verordnung im Wesentlichen dieselben Bedenken vor, die es in dem beim Verfassungsgerichtshof zu V512/2020 anhängigen Verfahren dargelegt hat. Der Verfassungsgerichtshof kann daher auf die diesbezüglichen Erwägungen zur Gesetzwidrigkeit der angefochtenen Bestimmung im heutigen Erkenntnis zu dieser Zahl verweisen (siehe Punkte IV.B.1. bis IV.B.3. des heutigen Erkenntnisses zu V512/2020).
V. Ergebnis
1. §3 und §4 Abs4 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, waren bis zum Ablauf des 4. April 2020 gesetzwidrig. §4 Abs1, 2 und 5 der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, war gesetzwidrig.
2. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
3. Der Ausspruch, dass die unter Spruchpunkt I.1. genannten Bestimmungen der Verordnung des Landeshauptmannes von Tirol vom 20. März 2020 nach §2 Z2 des COVID‑19-Maßnahmengesetzes, LGBl 35/2020, nicht mehr anzuwenden sind, stützt sich auf Art139 Abs6 B‑VG.
4. Die Verpflichtung des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der mit Spruchpunkt I.1. erfolgten Feststellung und des damit im Zusammenhang stehenden sonstigen Ausspruches erfließt aus Art139 Abs5 zweiter Satz B‑VG iVm §4 Abs1 Z4 BGBlG. Der Ausspruch, dass der Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz zur unverzüglichen Kundmachung der mit Spruchpunkt II. erfolgten Feststellung verpflichtet ist, kann hier entfallen, weil diese Verpflichtung bereits im heutigen Erkenntnis zu V512/2020 enthalten ist.
5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
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