EGMR Bsw46443/09

EGMRBsw46443/0910.7.2012

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Björk Eidsdóttir gg. Island, Urteil vom 10.7.2012, Bsw. 46443/09.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Haftung einer Journalistin für ehrenrühriges Zitat.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.790,- für materiellen Schaden, € 5.000,- für immateriellen Schaden, € 25.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

2007 wurde in isländischen Medien darüber debattiert, ob die Regelungen über Stripteaseklubs verschärft oder solche Lokale gänzlich verboten werden sollten. Die Zeitschrift Vikan, für die die Bf. als Journalistin arbeitete, veröffentlichte Interviews mit drei Frauen, die in einem Klub namens Goldfinger arbeiteten, der von einem Herrn Y. betrieben wurde.

Daraufhin meldete sich eine Frau Z. bei der Redaktion von Vikan und bot der Zeitschrift an, ihre Geschichte als ehemalige Stripteasetänzerin zu erzählen. Die Bf. und Z. trafen sich zu einem Interview, das aufgezeichnet wurde. Auf Ersuchen der Bf. bestätigte Z., dass ihre Aussagen in dem von der Bf. verfassten Artikel korrekt wiedergegeben worden seien.

In dem Artikel, der am 23.8.2007 in Vikan erschien, beschrieb Z. ihre Arbeit als Stripteasetänzerin, unter anderem im Klub Goldfinger. Sie berichtete über Prostitution, die dort mit Wissen von Herrn Y. stattfinde. Auf die Tänzerinnen sei großer Druck ausgeübt worden, der Prostitution nachzugehen. Sie würden jeweils für drei Monate engagiert und während dieser Zeit wie Gefangene behandelt. Sie dürften das Lokal nie verlassen, damit sie nicht eigenständig der Prostitution nachgingen, ohne Y. einen Teil ihrer Einkünfte abzutreten. Außerdem erzählte Z. von ihrer Drogenabhängigkeit, in die sie aufgrund ihrer Tätigkeit geraten sei, und von Todesdrohungen, denen sie ausgesetzt gewesen wäre. In dem Artikel wurde auch die Stellungnahme des von der Bf. kontaktierten Y. wiedergegeben, der alle Vorwürfe betreffend Prostitution in seinem Lokal zurückwies.

Aufgrund dieses Artikels erhob Y. Klage gegen die Bf., die Herausgeberin der Zeitschrift und gegen Z. Die Klage gegen Z. wurde später zurückgezogen.

Das Bezirksgericht Reykjavík wies die Klage am 4.4.2008 als unbegründet ab, da die Bf. und die Herausgeberin der Zeitschrift nicht für die Aussagen von Z. haftbar seien.

Der Oberste Gerichtshof wies die Berufung von Y. ab, soweit das Urteil die Herausgeberin betraf. Hinsichtlich der gegen die Bf. geltend gemachten Ansprüche gab er dem Rechtsmittel statt und verurteilte sie zur Zahlung einer Entschädigung in der Höhe von umgerechnet ca. € 3.000,– und zum Ersatz der Verfahrenskosten. Der Gerichtshof betrachtete die beanstandeten Behauptungen als diffamierend. Die Behauptung, Y. würde Frauen zur Prostitution nötigen und ihnen die Freiheit entziehen, beinhalte den Vorwurf strafbarer Handlungen. Diese seien als Tatsachenbehauptungen anzusehen, die nicht von der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst wären. Zwar handle es sich bei dem Artikel um eine beinahe wörtliche Wiedergabe der Aussagen von Z., dennoch sei die Bf. als dessen Verfasserin anzusehen und damit rechtlich verantwortlich.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit) durch ihre Verurteilung.

Zulässigkeit

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Die angefochtene Maßnahme stellt einen Eingriff in das Recht der Bf. auf freie Meinungsäußerung dar. Er war gesetzlich vorgesehen und verfolgte das legitime Ziel des Schutzes des Ansehens oder der Rechte anderer. Es bleibt zu prüfen, ob der Eingriff »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war.

Die umstrittenen Äußerungen im Artikel der Bf. bestanden erstens in der Behauptung, Y. hätte zu seinem eigenen Profit Prostitution in seinem Stripteaseklub Goldfinger organisiert und zu diesem Zweck Druck auf die dort arbeitenden Frauen ausgeübt. Zweitens wurde ihm vorgeworfen, für ihn tätige Frauen der Freiheit beraubt zu haben. Diese Behauptungen beinhalten den Vorwurf strafbarer Handlungen. Der GH sieht keinen Grund dafür, die Einschätzung des Obersten Gerichtshofs in Frage zu stellen, dass diese Behauptungen diffamierend waren. Ebensowenig bezweifelt er, dass die von ihm herangezogenen Gründe relevant waren für das Ziel des Schutzes der Rechte und des Ansehens von Herrn Y.

Was die Frage betrifft, ob diese Gründe in Hinblick auf Art. 10 EMRK ausreichend waren, muss der gesamte Hintergrund beachtet werden, vor dem die Äußerungen veröffentlicht wurden. Schon vor dem Erscheinen des Artikels der Bf. gab es eine öffentliche Debatte über die Regulierung oder das Verbot von Stripteaseklubs. Es kann nicht bezweifelt werden, dass der Artikel der Bf. in seiner Gesamtheit betrachtet eine Angelegenheit betraf, die in Island, wie auch in anderen europäischen Staaten, von ernstem öffentlichem Interesse war. Aus der Begründung des Obersten Gerichtshofs geht allerdings nicht hervor, dass diese Überlegung eine Rolle gespielt hätte.

Indem Herr Y. sich in diesem besonderen Geschäftszweig betätigte und ihm das legitime öffentliche Interesse bewusst sein musste, hat er unweigerlich und wissentlich die öffentliche Sphäre betreten und sich selbst der genauen Überprüfung seiner Handlungen unterworfen. Die Grenzen der akzeptablen Kritik müssen daher weiter sein als im Fall einer Privatperson oder eines gewöhnlichen Geschäftsmanns.

Der Schutz des Rechts von Journalisten, Informationen über Themen von allgemeinem Interesse zu verbreiten, setzt voraus, dass sie im guten Glauben und aufgrund einer zutreffenden Tatsachengrundlage handeln und in Übereinstimmung mit der journalistischen Ethik »verlässliche und präzise« Informationen bieten. Die Meinungsäußerungsfreiheit bringt für die Medien Pflichten und Verantwortlichkeiten mit sich, die auch dann gelten, wenn sie über Angelegenheiten von ernstem öffentlichem Interesse berichten. Diese Pflichten und Verantwortlichkeiten sind bedeutend, wenn das Ansehen einer namentlich genannten Person angegriffen wird. Es müssen daher besondere Gründe vorliegen, damit die Medien von ihrer gewöhnlichen Verpflichtung befreit werden können, diffamierende Tatsachenbehauptungen über Privatpersonen zu verifizieren.

Im vorliegenden Fall liegen keine solchen Gründe vor. Der GH muss daher prüfen, ob die Bf. im guten Glauben gehandelt und der journalistischen Pflicht zur Verifizierung einer Tatsachenbehauptung entsprochen hat.

Zunächst stimmt der GH der Ansicht des Obersten Gerichtshofs zu, dass es sich bei den umstrittenen Äußerungen um Tatsachenbehauptungen handelt. Diese waren geeignet, der Ehre und dem guten Ruf von Y. beträchtlichen Schaden zuzufügen. Andererseits stammten die Aussagen von Frau Z. Der Artikel war zwar keine wörtliche Wiedergabe des mit ihr geführten Interviews, aber doch größtenteils eine korrekte Wiedergabe des Gehalts der Aussagen von Z., die bestätigte, dass ihre Geschichte richtig wiedergegeben worden war. Sämtliche Aussagen wurden als Zitate präsentiert.

Soweit ein legitimes Interesse bestanden haben mag, Y. vor den diffamierenden Behauptungen von Z. zu schützen, wurde dieses Interesse nach Ansicht des GH weitgehend durch die ihm offenstehende Möglichkeit gewahrt, ein Verfahren gegen Z. anzustrengen. Er tat dies auch, entschied sich jedoch nach ihrer Aussage vor dem Bezirksgericht dazu, die Klage fallen zu lassen und ihre Verfahrenskosten zu übernehmen. Aufgrund dieser Einigung war Z., die Quelle der umstrittenen Vorwürfe, nicht weiter Partei des Verfahrens, in dem Y. weiterhin eine Verurteilung der Bf. für eben jene Vorwürfe anstrebte. Deren Möglichkeiten, die Behauptungen zu untermauern, wurden dadurch erheblich gemindert. Dennoch legte die Bf. Beweise zur Untermauerung der umstrittenen Äußerungen vor. Der Oberste Gerichtshof unterließ es jedoch, in seinem Urteil auf diese Argumente einzugehen, weil die Klage gegen Z. zurückgezogen worden war. Es ist daher sogar fraglich, ob der Bf. eine wirkliche Gelegenheit geboten wurde, sich selbst durch den Beweis ihres guten Glaubens bzw. die Erbringung eines Wahrheitsbeweises von der Haftung zu befreien.

Der GH nimmt auch zur Kenntnis, dass die von Herrn Y. gegen einen Journalisten einer anderen Zeitschrift erhobene Klage betreffend die Behauptung, in seinem Klub finde Prostitution statt, abgewiesen wurde.

Dem Argument der Regierung, die Bf. habe es verabsäumt, sich der Tatsachengrundlage für die von Z. gegen Y. erhobenen Vorwürfe zu versichern, kann der GH daher nicht folgen.

Das Interview mit Z. wurde von der Bf. in Vikan mit bestimmten ausgleichenden Elementen wiedergegeben. Sie hatte Y. Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben und zitierte seine Antwort in ihrem Artikel. Es ist ebenso wenig Sache des GH wie der innerstaatlichen Gerichte, die eigene Ansicht darüber, welche Techniken des Berichtens von Journalisten gewählt werden sollten, an die Stelle jener der Presse zu setzen. Obwohl sie geeignet gewesen sein mögen, das Ansehen von Herrn Y. zu schädigen, sieht der GH keinen Grund, die Bf. dafür zu kritisieren, dass sie sich nicht vom Inhalt der Äußerungen von Frau Z. distanzierte.

Der GH erinnert daran, dass die Berichterstattung anhand von Interviews eines der wichtigsten Mittel darstellt, mit denen die Presse ihre Rolle als »öffentlicher Wachhund« erfüllt. Die Bestrafung eines Journalisten für die Unterstützung bei der Verbreitung der von einer anderen Person in einem Interview gemachten Äußerungen würde die Möglichkeit der Presse, zu Diskussionen über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse beizutragen, ernsthaft beeinträchtigen. Sie sollte nicht erfolgen, solange keine besonders starken Gründe dafür vorliegen. Derartige Gründe gab es im vorliegenden Fall nicht.

Angesichts dieser Überlegungen, insbesondere der Tatsache, dass die umstrittenen Äußerungen auf dem Bericht einer anderen Person in einem Interview mit der Bf. beruhten, diese die Verlässlichkeit des Berichts überprüfte und Beweise zu seiner Untermauerung vorlegte, kann der Journalistin nach Ansicht des GH nicht vorgeworfen werden, die Wahrheit der umstrittenen Behauptungen nicht überprüft zu haben. Er ist davon überzeugt, dass sie in gutem Glauben und in Übereinstimmung mit der von einer verantwortungsbewussten Journalistin bei Berichten über eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu erwartenden Sorgfalt gehandelt hat.

Die vom belangten Staat vorgebrachten Gründe für den Eingriff waren daher nicht ausreichend um zu zeigen, dass dieser »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« war. Es hat daher eine Verletzung von Art. 10 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.790,– für materiellen Schaden, € 5.000,– für immateriellen Schaden und € 25.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Anmerkung

Vgl. auch das Urteil Erla Hlynsdóttir gg. Island (Bsw. Nr. 43.380/10) vom 10.7.2012, in dem der GH zu einem ähnlichen Sachverhalt ebenfalls eine Verletzung von Art. 10 EMRK festgestellt hat.

Vom GH zitierte Judikatur:

Jersild/DK v. 23.9.1994 (GK) = NL 1994, 294 = ÖJZ 1995, 227

Bladet Tromsø und Stensaas/N v. 20.5.1999 (GK) = NL 1999, 96 = EuGRZ 1999, 453 = ÖJZ 2000, 232

Pedersen und Baadsgaard/DK v. 17.12.2004 (GK) = NL 2005, 10

Steel und Morris/GB v. 15.2.2005 = NL 2005, 27

Standard Verlags GmbH/A v. 2.11.2006 = NL 2006, 286

Wizerkaniuk/PL v. 5.7.2011 = NL 2011, 208

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.7.2012, Bsw. 46443/09 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2012, 237) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/12_4/Eidsdottir.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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