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1.3. Das Konzept der Verbrechensverhinderung (Lengauer)

Lengauer1. AuflMai 2022

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Der in Österreich heute überwiegend vertretene Rechtfertigungsansatz ist in der sog modernen Schule verwurzelt. Die Grundannahme lautet, dass die Verhinderung von Verbrechen die legitime Aufgabe des Strafrechts ist. Dieses Ziel kann erreicht werden, indem ein Eingriff in die persönliche Freiheit generalpräventive und insbesondere auch spezialpräventive Effekte bewirkt.11 Fuchs/Zerbes, Österreichisches Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I11 (2021) Kap 2 Rz 14 und 19 ff; Kienapfel/Höpfel/Kert, Strafrecht, Allgemeiner Teil16 (2020) Kap 2 Rz 2.14; Seiler, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I4 (2020) Rz 1; Medigovic/Reindl-Krauskopf/Luef-Kölbl, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band II2 (2016) 29. Die Strafe ist allerdings an die Tatschuld gebunden. Sie kann also keine Präventionsaufgaben wahrnehmen, die nicht mehr unmittelbar mit der zurückliegenden Straftat in Verbindung stehen. Viele gehen davon aus, dass das Strafrecht aufgrund der Schuldbindung in manchen Fällen machtlos ist.22 Ratz in Höpfel/Ratz (Hrsg) WK-StGB2 Vor §§ 21 bis 25 Rz 1: Die Schuldstrafe versagt. Die zweispurige Ausformung des Strafrechts hat dann den Sinn, dass die vorbeugende Maßnahme mögliche Lücken im strafrechtlichen Sanktionsapparat schließt. Der Reformgesetzgeber von 1975 habe dahingehend auch eine verfassungskonforme Grundentscheidung getroffen, die es der Justiz ermöglicht, auf alle kriminalpolitischen Notwendigkeiten zu reagieren.33 Moos, ZnStR I 1973, 53 ff, 60 f; Ratz in WK2 Vor §§ 21–25 Rz 1 und 7; Medigovic, Freiheitsentziehende vorbeugende Maßnahmen (1986) 13; Medigovic/Reindl-Krauskopf/Luef-Kölbl, AT II2 (2016) 140; siehe auch OGH 14 Os 8/00; 13 Os 49/00; siehe auch Roxin/Greco, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I5 (2020) § 3 Rz 63: Im Einzelfall seien Maßregeln gegen gefährliche Täter einfach notwendig. Der strafrechtlichen Unterbringung kommt also die Aufgabe zu, weitere Taten eines ungewöhnlich gefährlichen Rechtsbrechers effektiv zu verhindern. Demzufolge geht es in besonderem Maße um die spezialpräventive Einwirkung auf einen Menschen, bei dem eine übliche Bestrafung nicht viel bewirken würde.44 Ratz, ÖJZ 1986, 678; Fuchs/Zerbes, AT I11 Kap 2 Rz 41; Medigovic, 13 und 18; Steininger, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Band I3 (2019) Kap 3 Rz 17; ähnlich bereits Nowakowski in FS Broda (1976) 202; Sluga in FS Wassermann (1985) 1051; Horn in FS Leferenz (1983) 485 f. Insbesondere die Maßnahme gegen geistig abnorme Rechtsbrecher weist dann aber große Ähnlichkeit zur unbemessenen Zweckstrafe Liszt’scher Prägung auf, v.Liszt, ZStW 13/1893, 354 ff, Roxin, ZStW 81/1969, 637; zu den Bedenken gegen die Zweckstrafe: Kohlrausch, ZStW 44/1924, 27; Stooss, SchwZStr 41/1928, 55; Pawlik in FS Rudolphi (2004) 220. Dabei kann an eher alltägliche Fälle gedacht werden: Eine Frau bedroht zwei Männer in einem Gasthaus damit sie „abzustechen“ und verleiht ihrer Drohung Nachdruck, indem sie mit einem erhobenen Küchenmesser einige

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Schritte auf sie zuläuft.55OGH 20.12.2011, 12 Os 73/11v = Jus-Extra OGH-St 4608 = EvBl 2012/56 S 372 – EvBl 2012,372 = AnwBl 2012,358 = RZ 2012,207 = JBl 2012,809 = SSt 2011/72. Weil die Frau an einer schweren Störung aus dem schizophrenen Formenkreis leidet, war sie im Tatzeitpunkt zurechnungsunfähig. Eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Drohung scheidet aus. Gegen die Gefahr weiterer Attacken könnte eine Unterbringung wirken.66Der OGH bejahte dies in der oben zitierten Entscheidung; Ratz in WK2 Vor §§ 21 bis 25 Rz 7 und § 45 Rz 9 ff; siehe dazu aber auch Birklbauer in Triffterer/Rosbaud/Hinterhofer (Hrsg) SbgK-StGB § 45 Rz 54; kritisch Bertel in FS Fuchs (2014) 27. Es kann aber auch an außergewöhnliche Fallkonstellationen gedacht werden: Ein Mann sperrt seine eigene Tochter jahrelang in ein selbstgebautes Kellerverlies ein. Er leidet an einer schweren, kombinierten Persönlichkeitsstörung und einer Störung der Sexualpräferenz. Die PCL-R nach Hare konstatiert einen Wert über dem Cutoff-Wert. Trotz seines psychopathologischen Grundzustandes wird die Zurechnungsfähigkeit bejaht und der Mann daraufhin verurteilt. Eine flankierende Maßnahme könnte aber als das geeignete Instrument erscheinen, um der besonderen Gefährlichkeit zu begegnen.

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