VwGH Ro 2019/22/0001

VwGHRo 2019/22/000117.6.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, die Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision des E A in W, vertreten durch Mag. Volkan Kaya, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Neulerchenfelder Straße 14/4, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 28. September 2018, VGW- 151/004/14760/2017-12, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

ARB1/80
ARB1/80 Art6
ARB1/80 Art6 Abs1
AuslBG §17 idF 2013/I/072
AuslBG §4c Abs1 idF 2013/I/072
AuslBG §4c Abs2 idF 2013/I/072
AuslBG §4c idF 2013/I/072
EURallg
NAG 2005 §41a
NAG 2005 §8
VwGG §34 Abs1
VwRallg
61998CJ0065 Eyüp VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019220001.J00

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, verfügte seit März 2012 über wiederholt (zuletzt bis 5. März 2016) verlängerte Aufenthaltstitel als Student. Am 8. Jänner 2016 stellte er einen Zweckänderungsantrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus". Dabei berief er sich unter anderem auf eine durchgehende Beschäftigung seit 25. September 2013 bei der R. KG und die ihm aus Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zustehenden Rechte.

2 Mit Bescheid vom 22. August 2017 wies der Landeshauptmann von Wien (Behörde) den Zweckänderungsantrag ab.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision für zulässig.

Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber sei von 25. September 2013 bis 8. September 2016 durchgehend bei der R. KG beschäftigt gewesen. Zwischen 19. Juli 2016 und 19. September 2016 habe er sich - bei aufrechtem Arbeitsverhältnis - in der Türkei aufgehalten, um seine kranken Eltern zu betreuen. Nach seiner Rückkehr nach Österreich habe ihm das Arbeitsmarktservice Wien (AMS) die Auskunft erteilt, das Arbeitsverhältnis müsse aufgelöst werden, damit "er einen neuen Antrag auf Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung stellen könne." Daraufhin habe der Revisionswerber das Arbeitsverhältnis mit seinem Arbeitgeber einvernehmlich - rückwirkend mit 8. September 2016 - beendet und einen neuen Dienstvertrag abgeschlossen; daraufhin sei eine neue Beschäftigungsbewilligung von 27. Oktober 2016 bis 26. Oktober 2017 erteilt worden. Der Revisionswerber sei nach wie vor bei der R. KG geringfügig beschäftigt.

Das VwG beurteilte die kurzfristige Unterbrechung im Arbeitsverhältnis des Revisionswerbers zwischen 9. September 2016 und 28. Oktober 2016 als Zeit einer unverschuldeten Arbeitslosigkeit gemäß Art. 6 Abs. 2 ARB 1/80, weil es Aufgabe des Arbeitsgebers gewesen wäre, eine weitere Beschäftigungsbewilligung für den Revisionswerber zu beantragen, und die Auskunft des AMS, wonach das Arbeitsverhältnis beendet werden müsse, um eine neue Beschäftigungsbewilligung zu erlangen, unrichtig gewesen sein dürfte; das AMS hätte vielmehr für den Revisionswerber gemäß § 4c Abs. 1 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) von Amts wegen eine Beschäftigungsbewilligung erteilen müssen. Dieser sei somit mehr als vier Jahre beim gleichen Arbeitgeber ordnungsgemäß beschäftigt und erfülle die Anforderungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80.

Der Verwaltungsgerichtshof habe zu Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 bereits ausgesprochen, dass einem türkischen Arbeitnehmer die sich aus dieser Bestimmung ergebenden individuellen Rechte unmittelbar zustünden, eine nationale Aufenthaltsberechtigung nur deklaratorischen Charakter habe und der Betroffene auch keinen Anspruch auf Erlassung eines Feststellungsbescheides über das Bestehen des Aufenthaltsrechtes habe, weil diese Frage in einem Verfahren gemäß § 4c AuslBG betreffend Ausstellung einer Beschäftigungsbewilligung geklärt werde (Hinweis auf VwGH 9.8.2018, Ro 2017/22/0015). Diese Rechtsprechung sei auch auf Arbeitnehmer übertragen worden, die den zweiten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllten (Hinweis auf VwGH 6.9.2018, Ro 2018/22/0008). Es sei nicht ersichtlich, aus welchem Grund hinsichtlich des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 anderes gelten solle. Türkischen Arbeitnehmern sei gemäß § 4c Abs. 2 AuslBG von Amts wegen ein Befreiungsschein auszustellen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen des dritten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 erfüllten. Da der Revisionswerber somit sein Recht aus Art. 6 ARB 1/80 ableite, das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) aber keinen spezifischen Aufenthaltstitel für diese türkischen Staatsangehörigen vorsehe, sei die Beschwerde abzuweisen gewesen.

Eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof sei zulässig, weil es an Rechtsprechung fehle, ob und gegebenenfalls welcher Aufenthaltstitel einem aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen zu erteilen sei, der Ansprüche aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 ableite.

4 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die ordentliche Revision. In ihrer Zulässigkeitsbegründung schließt sie sich den Ausführungen des VwG zur Zulässigkeit einer Revision an. 5 Die Behörde beteiligte sich nicht am Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

6 Die Revision ist zulässig, weil zu Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 im gegebenen Zusammenhang noch keine hg. Rechtsprechung vorliegt; sie ist aus folgenden Gründen jedoch nicht berechtigt.

7 § 4c AuslBG, BGBl. Nr. 218/1975 idF BGBl. I Nr. 72/2013, lautet:

"§ 4c. (1) Für türkische Staatsangehörige ist eine Beschäftigungsbewilligung von Amts wegen zu erteilen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 erster und zweiter Unterabsatz oder nach Art. 7 erster Unterabsatz oder nach Art. 7 letzter Satz oder nach Artikel 9 des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei - ARB - Nr. 1/1980 erfüllen.

(2) Türkischen Staatsangehörigen ist von Amts wegen ein Befreiungsschein auszustellen oder zu verlängern, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 6 Abs. 1 dritter Unterabsatz oder nach Art. 7 zweiter Unterabsatz des ARB Nr. 1/1980 erfüllen. Der Befreiungsschein berechtigt zur Aufnahme einer Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet und ist jeweils für fünf Jahre auszustellen. Der Befreiungsschein ist zu widerrufen, wenn der Ausländer im Antrag über wesentliche Tatsachen wissentlich falsche Angaben gemacht oder solche Tatsachen verschwiegen hat.

(3) Die Rechte türkischer Staatsangehöriger auf Grund der sonstigen Bestimmungen dieses Bundesgesetzes bleiben unberührt. Für die Verfahrenszuständigkeit und die Durchführung der Verfahren gemäß Abs. 1 und 2 gelten, soweit dem nicht Bestimmungen des ARB Nr. 1/1980 entgegenstehen, die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes."

Art. 6 des Beschlusses des - durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrates vom 19. September 1980, Nr. 1/80, über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) lautet:

"Artikel 6

(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehört, in diesem Mitgliedstaat

(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.

(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."

8 Die Revision verweist in ihren Revisionsgründen - wie bereits das VwG in seiner Entscheidung - auf die hg. Entscheidungen Ro 2017/22/0015 und Ro 2018/22/0008, bestreitet jedoch eine Übertragbarkeit von deren wesentlichen Begründungselementen auf türkische Arbeitnehmer, die Ansprüche aus dem dritten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ableiten.

Begründend wird ausgeführt, es sei "bereits gerichtsnotorisch", dass auf aufenthaltsrechtliche Verfahren betreffend türkische Staatsangehörige das Fremdengesetz 1997 (FrG 1997) anzuwenden sei, soweit es günstigere Bestimmungen im Vergleich zum NAG enthalte. Weiter sei "gerichtsnotorisch", dass Art. 6 und 7 ARB 1/80 "ihren Niederschlag in § 30 Abs. 2 Fremdengesetz 1997" gefunden hätten. Türkische Staatsangehörige könnten aus dem ARB 1/80 zwar kein Recht auf Niederlassung ableiten; aufgrund der Rechtsprechung des EuGH hätten sie unter den dort dargelegten Voraussetzungen aber ein Bleiberecht. "Das ist der Anspruch auf Erteilung eines weiteren Aufenthaltstitels."

Der Behörde komme dabei kein Ermessen zu. Der Revisionswerber könne unmittelbar aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt ableiten. Die beantragte "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gewähre eben diesen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt; ein anderer Aufenthaltstitel komme für den Revisionswerber nicht in Betracht, auch wenn dem Aufenthaltstitel nur deklarative Wirkung und Beweisfunktion zukomme. Eine Ein- und Ausreise nach bzw. aus Österreich werde mit einer Beschäftigungsbewilligung oder einem Befreiungsschein gemäß § 4c AuslBG nicht möglich sein. Die Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes, die Frage des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 werde in einem Verfahren nach § 4c AuslBG geklärt, sei nicht richtig. Dem Aufenthaltsrecht des Revisionswerbers sei durch die Erteilung eines Befreiungsscheines nicht genüge getan, weil dieser nur die arbeitsrechtlichen, nicht aber die aufenthaltsrechtlichen Aspekte regle.

9 Dem ist zunächst zu entgegnen, dass das NAG keinen spezifischen Aufenthaltstitel für türkische Staatsangehörige, die Rechte aus Art. 6 ARB 1/80 ableiten, vorsieht (vgl. VwGH Ro 2017/22/0015, Rn. 21). Das Beschäftigungs- oder

Aufenthaltsrecht eines türkischen Staatsangehörigen wird nicht durch die Erteilung einer Arbeits- bzw. Aufenthaltserlaubnis begründet; vielmehr stehen ihm diese Rechte - wie die Revision zutreffend ausführt - unmittelbar aufgrund des ARB 1/80 unabhängig davon zu, ob die Behörden des Aufnahmemitgliedstaats diese Papiere ausstellen; für die Anerkennung dieser Rechte haben sie nur deklaratorische Bedeutung und Beweisfunktion; alle nationalen Behörden müssten diese Rechte, die unmittelbar durch Gemeinschaftsrecht gewährt werden, anerkennen (vgl. etwa EuGH 22.6.2000, Eyüp, C-65/98 , Rn. 45 bis 47, mit Hinweis auf weitere EuGH-Judikatur; VwGH Ro 2017/22/0015, Rn. 25). Umgekehrt kann jedoch ein türkischer Staatsangehöriger, dem ein Befreiungsschein ausgestellt wurde, obwohl er nicht die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllt, daraus kein Aufenthaltsrecht ableiten (vgl. VwGH 28.8.2008, 2008/22/0271, mwN).

Weder aus der zu Art. 6 ARB 1/80 ergangenen Judikatur des EuGH noch aus § 4c AuslBG ist im Hinblick auf die Beweisfunktion des ausgestellten Dokumentes ein Unterschied zwischen türkischen Staatsangehörigen, die die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster bzw. zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllen und denen gemäß § 4c Abs. 1 AuslBG eine Beschäftigungsbewilligung auszustellen ist, und jenen, die gemäß Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 iVm § 4c Abs. 2 AuslBG Anspruch auf Ausstellung eines Befreiungsscheines haben, zu erkennen (vgl. dazu die Ausführungen in VwGH 24.5.2017, Ra 2017/09/0014, Rn. 15). 10 Mit dem Hinweis auf § 30 Abs. 2 (gemeint wohl: 3) FrG 1997, wonach Drittstaatsangehörige, die auf Grund eines Staatsvertrages, eines Bundesgesetzes oder eines unmittelbar anwendbaren Rechtsaktes der Europäischen Union ein Bleiberecht genießen, nach Maßgabe dieses Staatsvertrages, Bundesgesetzes oder Rechtsaktes Anspruch auf Erteilung eines Einreise- oder Aufenthaltstitels haben, zeigt der Revisionswerber nicht auf, inwiefern er in seinem Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet - bzw. auf Zugang zum Arbeitsmarkt, was jedoch nicht Gegenstand eines Verfahrens nach dem NAG ist - schlechter gestellt sei; eine deklarative Bescheinigung kann nämlich keine Auswirkungen auf das Bestehen oder Nichtbestehen des zugrunde liegenden Rechtes haben. Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich somit nicht zu einer Abkehr von seiner mittlerweile ständigen Judikatur (vgl. etwa

VwGH 13.12.2018, Ro 2018/22/0004 und Ro 2018/22/0009; 4.10.2018, Ra 2017/22/0056, Ra 2018/22/0038 und Ro 2018/22/0003; 1.10.2018, Ra 2018/22/0223; 6.9.2018, Ro 2018/22/0008; 3.9.2018, Ro 2017/22/0012; 28.2.2019, Ra 2018/22/0100) betreffend das Verhältnis von Ansprüchen aus Art. 6 ARB 1/80 und einem Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" veranlasst. 11 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Wien, am 17. Juni 2019

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