Normen
AVG §38
EpidemieG 1950 §40
EpidemieG 1950 §40 Abs1 litb
EpidemieG 1950 §7
MRKZP 07te Art4
StGB §178
VStG §22 Abs1
VStG §22 Abs1 idF 2013/I/033
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2023030017.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Leitha (belangte Behörde) vom 30. Juni 2022 wurde die sofortige Absonderung der Mitbeteiligten aufgrund ihrer Infektion mit SARS‑CoV‑2 (Lungenkrankheit COVID‑19) an ihrer Wohnadresse für den Zeitraum von 30. Juni 2022 bis einschließlich 9. Juli 2022 angeordnet.
2 Mit Straferkenntnis vom 7. November 2022 legte die belangte Behörde der Mitbeteiligten die dreimalige Übertretung von § 40 Abs. 1 lit. b iVm § 7 und 17 Epidemiegesetz 1950 (EpiG) zur Last und verhängte über sie drei Geldstrafen in Höhe von jeweils EUR 145,‑‑ (je 67 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe). Die Mitbeteiligte habe an drei näher bezeichneten Tagen die Notaufnahme des Landesklinikums Mödling privat aufgesucht und somit ihre Wohnung entgegen dem zitierten Absonderungsbescheid verlassen.
3 Über Beschwerde der Mitbeteiligten hob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) dieses Straferkenntnis auf und stellte die Verwaltungsstrafverfahren gegen die Mitbeteiligte gemäß § 45 Abs. 1 Z 1 VStG ein. Die Revision erklärte das LVwG für nicht zulässig.
4 Begründend führte das LVwG im Wesentlichen aus, die Mitbeteiligte sei aufgrund ihrer Erkrankung mit SARS‑CoV‑2 (Lungenkrankheit COVID‑19) mit näher bezeichnetem Bescheid der BH für den Zeitraum von 30. Juni 2022 bis einschließlich 9. Juli 2022 an ihrem Wohnsitz in R. zur Verhütung der Weiterverbreitung von SARS‑CoV‑2 abgesondert worden. Im Zeitraum vom 1. Juli 2022 bis 8. Juli 2022 habe sie trotz ihrer COVID‑19‑Erkrankung mehrmals ihre Wohnung verlassen und aufgrund Bluthochdrucks, Kopfschmerzen und Panikattacken spitalsärztliche Behandlungen im Landesklinikum Mödling und im Landesklinikum Hainburg in Anspruch genommen. Eine behandelnde Ärztin im Landesklinikum Mödling habe Anzeige an die belangte Behörde erstattet, die wiederum die Staatsanwaltschaft Korneuburg mit der Bitte um Überprüfung einer strafbaren Handlung nach § 178 StGB eingeschaltet habe. Am 26. September 2022 sei die Mitbeteiligte als Beschuldigte polizeilich einvernommen worden. Mit Schreiben der Staatsanwaltschaft Korneuburg vom 27. September 2022 sei die Mitbeteiligte von der Einstellung des Verfahrens gemäß § 190 Z 1 StPO benachrichtigt worden. In der Begründung sei angeführt worden, dass die Mitbeteiligte verdächtig und geständig sei, im Zeitraum vom 1. Juli 2022 bis 8. Juli 2022 im Krankenhaus Mödling und im Krankenhaus Hainburg mehrfach spitalsärztliche Behandlungen in Anspruch genommen zu haben, obwohl sie an COVID‑19 erkrankt gewesen sei und dadurch die behandelnden Ärzte im Sinne des § 178 StGB gefährdet habe. Das Aufsuchen des Spitals bei gesundheitlichen Beschwerden sei dabei im Rahmen des entschuldigenden Notstandes nach § 10 StGB erfolgt, weshalb der Mitbeteiligten kein Vorwurf wegen der Straftaten zu machen sei.
5 Gestützt auf diesen festgestellten Sachverhalt folgerte das LVwG, die Staatsanwaltschaft Korneuburg habe ein Strafverfahren wegen derselben Tat geführt, die Gegenstand des Verwaltungsstrafverfahrens gewesen sei. Infolge Subsidiarität des Verwaltungsstrafverfahrens gemäß § 22 Abs. 1 VStG bzw. § 40 Abs. 1 EpiG sei diese Tat verwaltungsstrafrechtlich nicht zu ahnden und das Verwaltungsstrafverfahren daher einzustellen.
6 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz (BMSGPK), zu der die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.
7 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, mit Beschluss zurückzuweisen.
Hat das Verwaltungsgericht ‑ wie im vorliegenden Fall ‑ im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichts die Revision für zulässig erachtet wird.
Der Verwaltungsgerichtshof ist bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision an den Ausspruch des Verwaltungsgerichts nicht gebunden. Er hat die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß § 34 Abs. 1a VwGG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe zu überprüfen.
8 In der demnach für die Zulässigkeit der Revision allein maßgeblichen Zulässigkeitsbegründung wird vorgebracht, das LVwG sei durch die irrige Annahme eines Entfalls der Strafbarkeit gemäß § 22 Abs. 1 VStG (in Folge der fehlenden Prüfung dahingehend, ob sich die vorgeworfene Tathandlung im gerichtlichen Straftatbestand des § 178 StGB erschöpft bzw. die beiden in ihren wesentlichen Merkmalen gleich sind [EGMR 10.2.2009, Sergey Zolotukhin gg. Russland, 14939/03]) von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 22.11.2016, Ra 2016/03/0095; VwGH 26.4.2019, Ra 2018/02/0344; VwGH 13.12.2019, Ra 2019/02/0020) abgewichen.
9 Gemäß § 22 Abs. 1 VStG ist eine Tat als Verwaltungsübertretung nur dann strafbar, wenn sie nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet. § 22 Abs. 1 VStG stellt dabei ‑ ebenso wie die entsprechende Regelung in § 40 EpiG ‑ ausschließlich auf die „Tat“ ab. Dass die Verwaltungsstrafnorm gegebenenfalls eine andere Schutzrichtung aufweist als die gerichtliche Strafnorm, ändert an der Subsidiarität nichts. Entscheidend ist, dass die Tat auch den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet; auf die tatsächliche Einleitung (oder gar den Abschluss) eines Strafverfahrens kommt es daher ebensowenig an wie auf den Umstand, dass die strafgerichtliche Verfolgung nur auf Verlangen zu erfolgen hat. Auch die Frage, ob der Beschuldigte die Tat verschuldet hat oder ein Entschuldigungsgrund in Betracht zu ziehen ist, ist für die Subsidiarität der Verwaltungsstrafdrohung nicht entscheidend. Ob die dem Beschuldigten vorgeworfene Tat den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, ist dabei von der Verwaltungsstrafbehörde ‑ im Falle einer Beschwerde vom Verwaltungsgericht ‑ als Vorfrage zu beurteilen (vgl. etwa VwGH 5.5.2023, Ra 2022/03/0280, mwN).
10 Im gegenständlichen Fall hatte das LVwG die Tatidentität der von der Staatsanwaltschaft Korneuburg einerseits und der von der Verwaltungsbehörde andererseits verfolgten Handlungen der Mitbeteiligten zu beurteilen.
11 Die Amtsrevision weist zutreffend darauf hin, dass sich die objektiven Tatbestände des § 40 Abs. 1 lit. b EpiG einerseits und des § 178 StGB andererseits voneinander unterscheiden. So hat der Verwaltungsgerichtshof in dem zitierten Erkenntnis Ra 2022/03/0280 darauf hingewiesen, dass der objektive Tatbestand einer Verwaltungsübertretung nach § 40 Abs. 1 lit. b EpiG bereits dann erfüllt ist, wenn der Täter einem nach § 7 EpiG behördlich verfügten Ge‑ oder Verbot ‑ sohin einer behördlich verfügten Absonderungsmaßnahme oder Verkehrsbeschränkung ‑ zuwiderhandelt. Auf das Herbeiführen einer Gefahrensituation, etwa der Gefahr der Verbreitung einer ansteckenden Krankheit, kommt es nicht an. Hingegen ist nach § 178 StGB strafbar, wer eine Handlung begeht, die geeignet ist, die Gefahr der Verbreitung einer übertragbaren Krankheit unter Menschen herbeizuführen, wenn die Krankheit ihrer Art nach zu den wenn auch nur beschränkt anzeige- oder meldepflichtigen Krankheiten gehört. Der Tatbestand des § 178 StGB verlangt also das Herbeiführen einer ‑ im Gesetz näher umschriebenen ‑ Gefahrensituation.
12 Das allein lässt aber im vorliegenden Fall den Schluss, es könne keine Tatidentität vorliegen, mit Blick auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR zum Doppelbestrafungsverbot des Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK nicht zu.
13 Zur Beurteilung der Frage, ob dieselbe strafbare Handlung im Sinn dieser Bestimmung vorliegt, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in seiner grundlegenden Entscheidung vom 10. Februar 2009, Nr. 14939/03 (Sergey Zolotukhin gg. Russland) und seiner Folgejudikatur (vgl. etwa EGMR 15.11.2016, Nr. 24130/11 und Nr. 29758/11, A. und B. gg. Norwegen, insbes. Rn. 108; EGMR 25.6.2009, Nr. 55759/07, Maresti gg. Kroatien; EGMR 14.1.2010, Nr. 2376/03, Tsonyo Tsonev gg. Bulgarien [Nr. 2]) die Ansicht vertreten, dass allein auf die Fakten abzustellen sei und die rechtliche Qualifikation derselben außer Betracht zu bleiben habe sowie eine neuerliche Strafverfolgung dann unzulässig sei, wenn sie sich auf denselben oder zumindest im Wesentlichen denselben Sachverhalt beziehe (Zolotukhin, Rn. 82: „identical facts or facts which are substantially the same“). In der Rechtssache Tsonyo Tsonev hat er darauf abgestellt, ob dieselben Fakten das zentrale Element der Anschuldigungen und der beiden angewendeten Strafbestimmungen gebildet haben, und betont, dass die strafrechtliche Anklage die Fakten der Verwaltungsstraftat in ihrer Gesamtheit umfasste und umgekehrt die Verwaltungsstraftat keine Elemente enthielt, die nicht bereits in der gerichtlich strafbaren Handlung gegeben waren, wegen welcher der Beschwerdeführer verurteilt worden war (Tsonyo Tsonev, Rn. 52). In der Rechtssache Maresti erblickte der EGMR eine Doppelbestrafung auch dann, wenn der Tatbestand eines der beiden in Rede stehenden Delikte im Unterschied zum anderen keine körperliche Verletzung des Beschuldigten erforderte, in concreto aber in beiden Fällen eine solche ein Element der Prüfung gewesen sei, die zu einem Schuldspruch geführt habe (vgl. Maresti, Rn. 63).
14 Im Lichte dieser in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes übernommenen Judikatur des EGMR (vgl. etwa VwGH 13.12.2019, Ra 2019/02/0020) zeigt die Revision kein Abweichen von der Leitlinie dieser Rechtsprechung auf, wenn das LVwG davon ausging, dass die Staatsanwaltschaft Korneuburg einerseits und der Verwaltungsbehörde andererseits fallbezogen dieselbe Tat beurteilt haben, wurde der Mitbeteiligten doch in beiden Verfahren das Aufsuchen spitalsärztlicher Behandlungen (u.a.) im Landesklinikum Mödling im selben Tatzeitraum trotz Infektion mit SARS‑CoV‑2 angelastet. Dass ‑ im Sinne der zugrundeliegenden Tatbestände ‑ die Verwaltungsbehörde den Umstand der Absonderung wegen dieser Erkrankung in den Vordergrund rückte, während die Strafbehörde mit der Gefährdung des Spitalspersonals argumentierte, ändert nichts daran, dass sich die Prüfung beider Behörden im Wesentlichen auf denselben Sachverhalt bezog.
15 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 21. August 2023
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