European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2022190184.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in den Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Die Mitbeteiligten sind Staatsangehörige Tunesiens und stammen aus Sousse. Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter des Zweit‑ und des Drittmitbeteiligten. Die Mitbeteiligten stellten am 5. November 2021 Anträge auf internationalen Schutz. Begründend brachte die Erstmitbeteiligte vor, ihr Ehemann habe sie nach Ankündigung der Scheidung mit dem Tod bedroht und sei auch gegenüber dem Zweit- und dem Drittmitbeteiligten gewalttätig gewesen.
2 Mit Bescheiden vom 16. Februar 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Mitbeteiligten auf internationalen Schutz ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte den Mitbeteiligten keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Tunesien zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Die dagegen erhobenen Beschwerden der Mitbeteiligten wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab [Spruchpunkt A) I.], gab den Beschwerden hinsichtlich des Spruchpunktes II. statt, erkannte den Zweit- und Drittmitbeteiligten den Status der subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und der Erstmitbeteiligten gemäß §§ 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 zu, erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen [Spruchpunkt A) II.], behob die Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos [Spruchpunkt A) III.], und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.
4 Das BVwG stellte ‑ soweit für das Revisionsverfahren relevant ‑ fest, die Erstmitbeteiligte leide an einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer generalisierten Angststörung sowie einer nichtorganischen Insomnie und nehme zur Behandlung näher genannte Arzneimittel ein, die ihre Beschwerden lindern würden. Die minderjährigen Mitbeteiligten wiesen beide eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung (PTBS) auf, welche sich in Form von körperlicher Unruhe, geringer Frustrationstoleranz, sozialem Rückzug und großer Schreckhaftigkeit manifestiere.
5 In seiner Begründung führte das BVwG aus, zunächst ergebe sich auf Grundlage der zitierten und unbestrittenen Quellen eine weitgehend stabile Sicherheitslage in Sousse, es könne daher nicht davon ausgegangen werden, dass sie im Falle ihrer Rückkehr von willkürlicher Gewalt infolge eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts bedroht wären. Nicht zuletzt gelte Tunesien gemäß § 1 Z 11 Herkunftsstaaten‑Verordnung als sicherer Herkunftsstaat.
6 In Bezug auf den minderjährigen Zweit- und Drittmitbeteiligten sei angesichts ihres Lebensalters und Gesundheitszustandes jedenfalls vom Vorliegen eines gegenüber der Gesamtbevölkerung drastisch erhöhten realen Risikos auszugehen, in Tunesien in eine existenzbedrohende Notsituation zu geraten. Wenngleich die Erstmitbeteiligte in Sousse über ein umfangreiches familiäres Netzwerk, insbesondere in Gestalt der Mutter und Geschwister der Erstmitbeteiligten, verfüge, sei gegenständlich ins Kalkül zu ziehen, dass sie ihren Herkunftsstaat gerade deshalb verlassen hätte, um sich dem Einfluss des gewalttätigen Ehemannes der Erstmitbeteiligten zu entziehen, so dass den Mitbeteiligten ein Rückgriff auf ihre familiären Strukturen in Sousse nicht ohne weiteres möglich sein werde, ohne Gefahr zu laufen, neuerlich in das Blickfeld des „Aggressors“ zu geraten und Übergriffen durch diesen ausgesetzt zu sein. Aus dem Gesagten ergebe sich somit das reale Risiko, dass den minderjährigen Mitbeteiligten in ihrem Herkunftsstaat keine adäquate Versorgung sowie medizinische Behandlung zuteil würde und sich dadurch ihre psychischen Probleme deutlich verschlimmern würden.
7 Das BVwG verkenne nicht, dass es generell nicht ausreichend sei, die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK aufzuzeigen. Es bestehe jedoch die reale Gefahr, dass der minderjährige Zweit- und Drittmitbeteiligte im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden und eine unmenschliche Behandlung erleiden müssten, weshalb ihnen eine Rückkehr nach Tunesien im Lichte des Art. 3 EMRK derzeit nicht zugemutet werden könne. Es sei ihnen daher gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen. Eine gesonderte Prüfung hinsichtlich der Erstmitbeteiligten könne entfallen, da ihr im Rahmen des Familienverfahrens gemäß § 34 Abs. 3 AsylG 2005 ebenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen sei.
8 Da den Mitbeteiligten der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei, lägen die Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die rechtlich darauf aufbauenden Spruchpunkte nicht (mehr) vor, sodass die betreffenden Spruchpunkte III. bis VI. der angefochtenen Bescheide ersatzlos zu beheben seien.
9 Das BFA wendet sich mit der vorliegenden Revision, die das BVwG dem Verwaltungsgerichtshof unter Anschluss der Verfahrensakten vorlegte, gegen die mit den Spruchpunkten A) II. und A) III. getroffenen Entscheidungen. Die Mitbeteiligten erstatteten in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren eine Revisionsbeantwortung.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat über die Revision erwogen:
11 Das BFA macht zur Zulässigkeit der Revision geltend, das BVwG weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Vorliegen von außergewöhnlichen Umständen, unter denen eine Abschiebung in den Herkunftsstaat zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führt, sowie zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte ab, weil es nicht festgestellt habe, an welcher Krankheit die minderjährigen Mitbeteiligten leiden. Das BVwG habe lediglich festgestellt, dass sich die psychischen Probleme der minderjährigen Mitbeteiligten bei fehlender adäquater Behandlung deutlich verschlimmern würden. Aufgrund dieser Feststellungen lasse sich jedoch nicht beurteilen, ob die minderjährigen Mitbeteiligten in Tunesien unter qualvollen Umständen sterben würden oder einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt wären, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde und somit außergewöhnliche Umstände vorlägen, die die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigen erforderten. Derartige Feststellungen hätte das BVwG außerdem nur aufgrund eines entsprechenden Sachverständigengutachtens treffen dürfen. Anhand der getroffenen Feststellungen ließen sich keine Umstände erkennen, die bei einer Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen würden.
12 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und aus den folgenden Erwägungen begründet.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK ‑ auf eine solche bezieht sich das BVwG im Zusammenhang mit der hier erfolgten Gewährung von subsidiärem Schutz ‑ eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen.
Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung festgehalten, dass, wenn im Herkunftsstaat eines Asylwerbers eine prekäre allgemeine Sicherheitslage herrscht, in der die Bevölkerung durch Akte willkürlicher Gewalt betroffen ist, stichhaltige Gründe für die Annahme eines realen Risikos bzw. für die ernsthafte Bedrohung von Leben oder Unversehrtheit eines Asylwerbers bei Rückführung in diesen Staat dann vorliegen, wenn diese Gewalt ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es nicht bloß möglich, sondern geradezu wahrscheinlich erscheint, dass auch der betreffende Asylwerber tatsächlich Opfer eines solchen Gewaltaktes sein wird. Davon kann in einer Situation allgemeiner Gewalt nur in sehr extremen Fällen ausgegangen werden, wenn schon die bloße Anwesenheit einer Person in der betroffenen Region Derartiges erwarten lässt. Davon abgesehen können nur besondere in der persönlichen Situation der oder des Betroffenen begründete Umstände dazu führen, dass gerade bei ihr oder ihm ein ‑ im Vergleich zur Bevölkerung des Herkunftsstaats im Allgemeinen ‑ höheres Risiko besteht, einer dem Art. 2 oder Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein bzw. eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit befürchten zu müssen (vgl. VwGH 10.2.2021, Ra 2020/19/0353, mwN).
16 Eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz‑ und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, reicht nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für sich betrachtet nicht aus, um die Verletzung des nach Art. 3 EMRK geschützten Rechts mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit annehmen zu können oder um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 4.6.2021, Ra 2021/01/0008, mwN).
17 Des Weiteren hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Allgemeinen kein Fremder ein Recht, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet. Dass die Behandlung im Zielland nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, allerdings muss der Betroffene auch tatsächlich Zugang zur notwendigen Behandlung haben, wobei die Kosten der Behandlung und Medikamente, das Bestehen eines sozialen und familiären Netzwerks und die für den Zugang zur Versorgung zurückzulegende Entfernung zu berücksichtigen sind. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen jedenfalls vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben, aber bereits auch dann, wenn stichhaltige Gründe dargelegt werden, dass eine schwerkranke Person mit einem realen Risiko konfrontiert würde, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Zielstaat der Abschiebung oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führt (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 1.9.2021, Ra 2020/19/0439, mwN).
18 Zum Erkrankungen betreffenden Aspekt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Urteil (der Großen Kammer) vom 7. Dezember 2021, Savran/Dänemark, 57467/15 (auszugsweise in deutscher Sprache wiedergegeben in NLMR 6/2021, 508 ff), neuerlich (unter Hinweis auf EGMR [Große Kammer] 13.12.2016, Paposhvili/Belgien, 41738/10) betont, dass es Sache des Fremden ist, Beweise vorzulegen, die zeigen, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, er würde im Fall der Durchführung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme einem realen Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung unterzogen. Erst wenn solche Beweise erbracht werden, ist es Sache der Behörden des ausweisenden Staats, im Zuge der innerstaatlichen Verfahren jeden dadurch aufgeworfenen Zweifel zu zerstreuen und die behauptete Gefahr einer genauen Prüfung zu unterziehen, im Zuge derer die Behörden im ausweisenden Staat die vorhersehbaren Konsequenzen der Ausweisung auf die betroffene Person im Empfangsstaat im Lichte der dort herrschenden allgemeinen Lage und der persönlichen Umstände des Betroffenen erwägen müssen (Rn. 130). Die Verpflichtungen des ausweisenden Staats zur näheren Prüfung werden somit erst dann ausgelöst, wenn die oben genannte (hohe) Schwelle überwunden wurde und infolge dessen der Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK eröffnet ist (Rn. 135; vom EGMR in der Rn. 140 auch als „Schwellentest“ [„threshold test“] bezeichnet, der bestanden werden muss, damit die weiteren Fragen, wie etwa nach der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit einer angemessenen Behandlung, Relevanz erlangen [„As noted in paragraph 135 above, it is only after that test is met that any other questions, such as the availability and accessibility of appropriate treatment, become of relevance.“]; vgl. erneut VwGH 25.4.2022, Ra 2021/20/0448).
19 Hinsichtlich des Gesundheitszustandes der minderjährigen Mitbeteiligten stellte das BVwG fest, sie seien körperlich gesund, wiesen aber beide eindeutige Symptome einer Traumafolgestörung (PTBS) auf, welche sich in Form von körperlicher Unruhe, geringer Frustrationstoleranz, sozialem Rückzug und großer Schreckhaftigkeit manifestiere. Dem Drittbeschwerdeführer fehlten zudem zwei Zähne im Oberkiefer. Die Zweit- und Drittmitbeteiligten seien im Hinblick auf ihren psychischen Gesundheitszustand sehr instabil und verspürten eine große Unsicherheit, was ihre Zukunft betreffe, was sich darin äußere, dass sie ständig damit rechneten, wieder ihrer vertrauten Umgebung entrissen zu werden.
20 Ausgehend von diesen Feststellungen ist nicht zu sehen, dass jene ‑ oben dargestellte ‑ hohe Schwelle überschritten wäre, die nach der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf Erkrankungen zu einer Verletzung des mit Art. 3 EMRK geschützten Rechts führen könnte. Es wird vom BVwG weder dargelegt, dass die minderjährigen Mitbeteiligten lebensbedrohlich erkrankt wären und durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würden, unter qualvollen Umständen zu sterben, noch werden stichhaltige Gründe angeführt, infolge deren sie mit einem realen Risiko konfrontiert sein würden, wegen des Fehlens angemessener Behandlung im Herkunftsstaat oder des fehlenden Zugangs zu einer solchen Behandlung einer ernsten, raschen und unwiederbringlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands ausgesetzt zu sein, die zu intensivem Leiden oder einer erheblichen Verkürzung der Lebenserwartung führen würde (vgl. erneut VwGH 25.4.2022, Ra 2021/20/0448). Die Feststellungen des BVwG zum Gesundheitszustand des Zweit- und Drittmitbeteiligten vermögen die Annahme einer realen Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK für den Fall der Rückführung in den Herkunftsstaat daher nicht zu tragen.
21 Nach den Feststellungen des BVwG lebten die Mitbeteiligten bis zu ihrer Ausreise in Sousse, wo die Erstmitbeteiligte elf Jahre die Schule besucht und bis zu ihrer Ausreise als Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft gearbeitet habe. Der Ehemann der Mitbeteiligten habe ein Autohaus betrieben, es sei der Familie wirtschaftlich gut gegangen. Das BVwG stellte des Weiteren fest, dass in Sousse nach wie vor die Mutter, zu der regelmäßiger Kontakt bestehe, sowie drei Schwestern, vier Brüder und weitere Verwandte der Erstmitbeteiligten lebten. Die für die Gefahr der minderjährigen Mitbeteiligten, in eine existenzbedrohende Notlage zu geraten, tragende Annahme des BVwG, ein Rückgriff auf das familiäre Netzwerk werde den Mitbeteiligten „nicht ohne weiteres“ möglich sein, weil sie dann Gefahr liefen, neuerlich in das Blickfeld des gewalttätigen Ehemannes der Erstmitbeteiligten zu geraten, lässt eine Auseinandersetzung mit den Feststellungen des BVwG vermissen, wonach Tunesien weitreichende Maßnahmen in den Bereichen Prävention, Schutz und Nachsorge der Opfer von Gewalt gegen Frauen sowie Bestrafung der Täter treffe und der Ausbau von Frauenhäusern gefördert werde. Vor diesem Hintergrund begründet das BVwG nicht näher, warum die vom Ehemann der Erstmitbeteiligten ausgehende festgestellte Gefahr der häuslichen Gewalt dem Rückgriff auf die bestehenden anderen familiären Strukturen entgegenstehe.
22 Dem angefochtenen Erkenntnis ist somit keine nachvollziehbare Begründung zu entnehmen, weshalb es der Erstmitbeteiligten im Fall der Rückkehr in ihre Heimatstadt nicht möglich sein sollte, erforderlichenfalls unter Inanspruchnahme ihres familiären Netzwerkes die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz für sich selbst sowie den Zweit- und Drittmitbeteiligten zu decken (vgl. zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 5.4.2023, Ra 2021/19/0294, mwN).
23 Soweit die Mitbeteiligten in der Revisionsbeantwortung vorbringen, die Schwelle für die Annahme einer Verletzung des Art. 3 EMRK sei aufgrund der Minderjährigkeit und der damit verbundenen besonderen Vulnerabilität des Zweit- und Drittmitbeteiligten niedriger anzusetzen, als bei volljährigen Personen, ist dem zu entgegen, dass das BVwG im fortgesetzten Verfahren nach der Rechtsprechung ohnedies die Verpflichtung hat, unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die bei einer Rückkehr zu erwarten sind, durchzuführen und sich nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes substantiiert mit den die Sicherheits- und Versorgungslage für Kinder betreffenden Länderinformationen im Herkunftsstaat auseinandersetzen (vgl. VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0245, VwGH 28.11.2019, Ra 2018/19/0633 sowie auch VfGH 10.3.2021, E 345/2021, VfGH 23.9.2019, E 2050/2019, ua, jeweils mwN).
24 Die in dem angefochtenen Erkenntnis getroffenen Feststellungen vermögen jedoch die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigen an die minderjährigen Mitbeteiligten nicht zu tragen.
25 Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 15.6.2021, Ra 2020/19/0344, mwN).
26 Die der Anfechtung unterzogenen Entscheidungen waren somit wegen ‑ vorrangig wahrzunehmender ‑ inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG in diesen Aussprüchen sowie in jenen Spruchpunkten, die infolgedessen ihre rechtliche Grundlage verlieren, aufzuheben.
Wien, am 17. Juli 2023
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