Normen
EURallg
FrPolG 2005 §52 Abs5
FrPolG 2005 §53 Abs3
FrPolG 2005 §67 Abs1
StGB §107 Abs1
StGB §84 Abs4
VwGG §42 Abs2 Z1
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art12 Abs1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2021210264.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der 1997 geborene Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste im Juli 2008 mit seiner Mutter nach Österreich. Ihm wurden Aufenthaltstitel, ab 2015 der unbefristete Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“, erteilt. Im Bundesgebiet leben seine Eltern und sein Bruder, wobei dieser und der Vater des Revisionswerbers über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügen.
2 Nachdem der Revisionswerber im Februar 2017 aufgrund von Unstimmigkeiten mit seinen Eltern aus deren Wohnung ausgezogen und danach obdachlos gemeldet war, wurde über ihn am 20. April 2018 unter anderem wegen des Verdachtes der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung nach § 278b Abs. 2 StGB die Untersuchungshaft verhängt. Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 3. Juli 2019 wurde der Revisionswerber jedoch von diesem Vorwurf freigesprochen und (nur) wegen (teilweise versuchten) gewerbsmäßigen schweren Betruges nach §§ 146, 147 Abs. 1 Z 1, Abs. 2, 148 zweiter Fall; 15 StGB, begangen im Zeitraum von November 2017 bis März 2018 als junger Erwachsener, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten verurteilt.
3 Deswegen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom 22. November 2019 gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA unter einem fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien zulässig sei, und gewährte ihm gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen, in der mündlichen Verhandlung am 9. Juni 2021 mündlich verkündeten und mit 25. Juni 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei. Am 15. Juli 2021 wurde der Revisionswerber nach Serbien abgeschoben.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
6 In den Zulässigkeitsausführungen wendet sich die Revision (unter anderem) gegen die Gefährdungsannahme des BVwG und macht dazu ein Abweichen von der diesbezüglichen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geltend. Dies trifft im Ergebnis zu, weil das BVwG den Maßstab des § 52 Abs. 5 FPG verkannt hat. Insofern erweist sich die Revision ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG ‑ als zulässig und auch als berechtigt.
7 Zunächst ging das BVwG im vorliegenden Fall zwar zutreffend von der Anwendbarkeit des § 52 Abs. 5 FPG aus, wonach die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhaltes auf Dauer rechtmäßig niedergelassen war und über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“ verfügt, erfordert, dass „die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG die Annahme rechtfertigen, dass dessen weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellen würde.“ Seine Annahme, dass wegen der Verurteilung des Revisionswerbers vom 3. Juli 2019 zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zwölf Monaten einer der Tatbestände der Z 1 des § 53 Abs. 3 FPG (rechtskräftige Verurteilung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten) „um das Doppelte“ erfüllt und damit das Vorliegen einer schwerwiegenden Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd § 53 Abs. 3 FPG indiziert sei, greift jedoch zu kurz.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, unter anderem mit der Stellung des § 52 Abs. 5 FPG, mit dem Art. 12 Abs. 1 der Daueraufenthalts‑RL (Richtlinie 2003/109/EG ) innerstaatlich umgesetzt wurde, im „Stufenbau“ der bei Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen jeweils erforderlichen Gefährdungsprognosen näher befasst; auf die diesbezügliche Begründung in Rn. 15 des genannten Erkenntnisses wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen. Danach ist in unionsrechtskonformer Weise davon auszugehen, dass § 52 Abs. 5 FPG einen höheren Schutz vor aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bietet als § 67 Abs. 1 erster bis vierter Satz FPG, der für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes das Vorliegen einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, verlangt. Die Tatbestände des § 53 Abs. 3 FPG, die per se allerdings nur das Vorliegen eines geringeren Gefährdungsmaßstabs annehmen lassen („schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“), können eine derartige höhere Gefährdungsannahme zwar auch indizieren, es ist aber in jedem Einzelfall zu prüfen, ob tatsächlich eine „gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit“ im Sinn der genannten Richtlinie vorliegt. Daraus wurde in diesem Erkenntnis gefolgert, bei Verurteilung zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe (dort zuletzt zu 15 Monaten wegen schwerer Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB und gefährlicher Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB) liege eine solche Gefahr im Sinne des § 52 Abs. 5 FPG in der Regel nicht vor.
9 Im vorliegenden Fall, in dem der Revisionswerber lediglich einmal wegen als junger Erwachsener begangener Straftaten zu einer zur Gänze bedingt nachgesehenen zwölfmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, legte das BVwG in Verkennung der dargestellten Rechtslage nicht nachvollziehbar dar, weshalb ausnahmsweise dennoch der hohe Gefährdungsmaßstab des § 52 Abs. 5 FPG erfüllt sei.
10 Im Übrigen erweist sich die Gefährdungsprognose auch deshalb als fehlerhaft, weil das BVwG lediglich Feststellungen zur Verurteilung des Revisionswerbers wie unter Rn. 2 wiedergegeben, ergänzt um die Anführung der vom Strafgericht angenommenen Erschwerungs‑ und Milderungsgründe traf. Nähere Feststellungen zu den dem Urteil zugrundeliegenden Straftaten sind dem angefochtenen Erkenntnis ‑ außer zur gewerbsmäßigen Tatbegehung in einer „Vielzahl von Angriffen“ ‑ nicht zu entnehmen (zu diesem Erfordernis vgl. etwa VwGH 6.9.2022, Ra 2022/21/0048, Rn. 11/12, mwN).
11 In diesem Zusammenhang hätte das BVwG auch entsprechend zu berücksichtigen gehabt, dass der Revisionswerber die Straftaten in einem Zeitraum beging, als das Verhältnis zu seinen Eltern zerrüttet war, es sich aber nach der Haftentlassung am 3. Juli 2019 wieder normalisierte und er auch wieder in die elterliche Wohnung einzog. Angesichts des Umstandes, dass der Revisionswerber nach seinen eigenen Angaben in der Beschwerdeverhandlung die zur Verurteilung führenden Straftaten zur Finanzierung einer Wohnung beging, hätten sich bei deren Zutreffen somit auch die Umstände in Bezug auf das Motiv für die Eigentumsdelikte maßgeblich geändert, zumal der Revisionswerber nach den Feststellungen des BVwG überdies seit Februar 2020 (erstmals) eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausübt. Das wäre vom BVwG ebenfalls zu Gunsten des Revisionswerbers zu berücksichtigen gewesen. Schließlich wäre auch noch darauf Bedacht zu nehmen gewesen, dass seit der Haftentlassung bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses immerhin ein Wohlverhalten in der Dauer von etwa zwei Jahren vorlag.
12 Im Rahmen der Gefährdungsprognose führte das BVwG zwar noch ins Treffen, dass der Revisionswerber mit dem Personenkreis aus der „radikal‑islamistischen Szene“, mit dem er im Zeitraum der Begehung der strafbaren Handlungen in Kontakt gewesen sei, und mit dessen religiösem Gedankengut nach wie vor „verbunden“ sei. Allerdings ist die diesbezügliche Beweiswürdigung des BVwG nicht schlüssig, weil allein aus der Weigerung des Revisionswerbers in der Beschwerdeverhandlung, Angaben zu sachfremden Themen zu machen (hinsichtlich der Identität jener Personen, bei denen er in der Zeit vor seiner Festnahme im April 2018 übernachtet hatte), nicht zwingend die angenommene aufrechte „Verbundenheit“ abzuleiten ist. Vor allem aber unterließ es das BVwG angesichts des diesbezüglichen Freispruchs nachvollziehbar darzustellen, dass sich aus dieser Annahme ‑ selbst wenn sie zuträfe ‑ eine bestimmte und aktuelle Gefährdung durch den Revisionswerber ergeben könnte.
13 Das angefochtene Erkenntnis war somit aus den genannten Gründen vorrangig wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
14 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. März 2023
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