Normen
AVG §56
AVG §73 Abs1 impl
AVG §73 Abs2 impl
B-VG Art133 Abs4
COVID-19-MaßnahmenG 2020 §2
EURallg
NAG 2005 §11 Abs1 Z5
NAG 2005 §11 Abs3
NAG 2005 §64
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
32016L0801 Studenten-RL Art7 Abs4
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220215.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
2 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
3 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
4 Die Revisionswerberin, eine serbische Staatsangehörige, beantragte am 6. Februar 2020 die erstmalige Erteilung eines Aufenthaltstitels als Studentin gemäß § 64 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) während ihres visumfreien Aufenthaltes in Österreich.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die Beschwerde der Revisionswerberin gegen den abweisenden Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (Behörde) ‑ nach Durchführung einer Verhandlung in Anwesenheit der Rechtsvertreterin der Revisionswerberin ‑ mit der Maßgabe ab, dass im Spruch des Bescheides vom 31. März 2020 die Wortfolge „weil eine Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthalts im Zusammenhang mit § 21 Abs. 6 NAG vorliegt“ eingefügt werde und in den zitierten Rechtsgrundlagen der Verweis auf „§ 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 iVm“ entfalle. Eine ordentliche Revision wurde für nicht zulässig erklärt.
Begründend führte das VwG zusammengefasst aus, es liege das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG vor, weil die Revisionswerberin nach dem Ende ihres visumfreien Zeitraumes am 26. März 2020 weiterhin im Inland verblieben und erst am 31. Mai 2020 ausgereist sei. Auch aus Gründen des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG iVm Art. 8 EMRK sei ihr kein Aufenthaltstitel zu erteilen; das Zusammenleben mit ihrem Freund stelle keinen Grund dar, der ein Überwiegen der privaten Interessen der Revisionswerberin begründen könnte. Im Rahmen der Interessenabwägung sei berücksichtigt worden, dass am 26. März 2020 aufgrund der COVID‑19 Maßnahmengesetze und Verordnungen eine Ausreise „nicht zulässig und daher auch nicht verpflichtend“ gewesen sei. Trotz dieser außergewöhnlichen Situation und der damit verbundenen Unsicherheit habe die Revisionswerberin nicht von einer flächendeckenden Suspendierung der Befristung ihrer visumfreien Zeit ausgehen dürfen, solange dazu keine konkreten gesetzlichen oder behördlichen Maßnahmen erlassen worden seien. Die generelle Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit seien durchaus Faktoren, die ‑ ebenso wie der gemeinsame Haushalt mit ihrem Freund ‑ zu Gunsten der Revisionswerberin gewichtet würden. Sie vermögen jedoch die öffentlichen Interessen an einem geordneten Einwanderungs- und Fremdenwesen insbesondere auch während des faktischen Ausnahmezustandes einer Pandemie nicht zu überwiegen.
Der Versagungsgrund des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG begegne keinen unionsrechtlichen Bedenken in Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 iVm Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2016/801 (im Folgenden: RL) und erscheine nicht unverhältnismäßig (Art. 20 Abs. 4 RL). Die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 4 erster und zweiter Satz RL seien im vorliegenden Fall nicht erfüllt; Art. 7 Abs. 4 RL lasse sich auch nicht entnehmen, dass es für die Erfüllung dieser Voraussetzungen - anders als bei Art. 7 Abs. 2 zweiter Satz RL ‑ ausschließlich auf den Zeitpunkt der Antragstellung ankäme. Darüber hinaus sei kein Gebot an den nationalen Gesetzgeber ersichtlich, wonach allein aufgrund eines noch unerledigten Antrags eine Regelung über einen rechtmäßigen Aufenthalt im Inland geschaffen werden müsse (anders als gemäß Art. 21 Abs. 6 letzter Satz RL betreffend den Entzug oder die Verweigerung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels). Eine Interessenabwägung im Sinn des Art. 20 Abs. 4 RL sei gemäß § 11 Abs. 3 NAG geboten und im vorliegenden Fall auch ausgeführt worden.
Den Anträgen auf Vertagung der Verhandlung und auf eine Videokonferenz sei nicht stattzugeben gewesen, weil der Sachverhalt umfassend schriftlich in Vorbereitung auf die Verhandlung und mündlich in der Verhandlung zur Gänze habe erörtert werden können, in allen entscheidungswesentlichen Punkten nicht strittig gewesen und somit unzweifelhaft festgestanden sei.
6 In der Zulässigkeitsbegründung wird zunächst vorgebracht, es fehle hg. Rechtsprechung zur Frage, ob der Versagungsgrund gemäß § 11 Abs. 1 Z 5 NAG Verschulden voraussetze.
Dazu ist auszuführen, dass § 11 Abs. 1 Z 5 NAG keine Anhaltspunkte dafür enthält, dieser Versagungsgrund wäre nur bei schuldhaftem Verhalten erfüllt (vgl. zum Fehlen einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung bei klarer Rechtslage etwa VwGH 2.12.2020, Ra 2020/22/0183, Rn. 6, mwN). Die Revision lässt auch offen, aufgrund welcher Bestimmungen der RL „nur eine schuldhafte Verletzung und ein rechtswidriger Verbleib im Bundesgebiet“ den Versagungsgrund bilden könne bzw. aus welchem Grund der Aufenthalt der Revisionswerberin aus dem Blickwinkel des NAG nicht rechtswidrig gewesen sei.
Die Revisionswerberin bestreitet nicht, die Dauer ihres visumfreien Aufenthaltes überschritten zu haben. Der Tatbestand des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG ist im vorliegenden Fall somit erfüllt und es ist eine Interessenabwägung gemäß § 11 Abs. 3 NAG durchzuführen.
7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen, wenn sie - wovon auch hier auszugehen ist ‑ auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgte ‑, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist (vgl. VwGH 3.6.2020, Ra 2019/22/0193, Rn. 15, mwN).
Eine solche Unvertretbarkeit wurde im gegenständlichen Fall nicht aufgezeigt. Das VwG berücksichtigte bei seiner Entscheidung im Rahmen der Interessenabwägung, dass die Ausreiseverpflichtung der Revisionswerberin aufgrund des Ablaufes ihres visumfreien Aufenthaltes in einem Spannungsverhältnis mit den Ausgangsbeschränkungen aufgrund der Verordnungen gemäß § 2 Z 1 des COVID‑19‑Maßnahmengesetz stehe, hielt ihr jedoch unter anderem entgegen, sie sei auch nach dem Ende der Ausgangsbeschränkungen ihrer Verpflichtung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht unverzüglich nachgekommen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wurden mit den Verordnungen des Bundesministers für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz im Zuge der COVID‑19‑Pandemie keine allgemeinen „Ausreisebeschränkungen“ erlassen (vgl. VwGH 25.11.2020, Ra 2020/19/0251, Rn. 13, betreffend die Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 FPG). Wenn die Revisionswerberin vorbringt, sie hätte die erste Gelegenheit am 31. Mai 2020 genutzt, mit dem Flugzeug von Österreich nach Serbien zu reisen, wird damit jedenfalls keine Unvertretbarkeit der vom VwG durchgeführten Interessenabwägung dargetan.
8 Die Revision argumentiert weiter, es fehle hg. Rechtsprechung zur unionsrechtskonformen Auslegung des § 11 Abs. 1 Z 5 und Abs. 3 NAG im Sinn des Art. 20 RL (Hinweise auf das Urteil EuGH 10.9.2014, C-491/13 , Ali Ben Alaya). Es sei den Mitgliedstaaten verwehrt, über die in den Art. 6 und 7 RL vorgesehenen Bedingungen hinaus zusätzliche Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatszugehörigen zu Studienzwecken einzuführen. Gemäß Art. 20 Abs. 4 RL seien bei jeder Entscheidung, einen Antrag abzulehnen, die konkreten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen; das VwG habe die Verhältnismäßigkeitsprüfung jedoch nur auf die Gründe des Privat- und Familienlebens beschränkt.
Art. 7 Abs. 4 RL sieht vor, dass der Antrag entweder außerhalb des Hoheitsgebietes des Mitgliedstaates gestellt wird oder sich der Drittstaatsangehörige rechtmäßig im Mitgliedsstaat aufhält, entweder aufgrund eines Aufenthaltstitels, eines Visums für einen langfristigen Aufenthalt oder ‑ wenn der Mitgliedstaat dies im Einklang mit seinem nationalen Recht vorsieht ‑ eines anderen, eben nicht langfristigen Aufenthaltsrechts. Art. 7 Abs. 4 RL enthält weder eine Regelung darüber, unter welchen Umständen ein Aufenthalt rechtmäßig ist, noch dazu, was rechtens ist, wenn ein Aufenthaltsrecht ausläuft, bevor über den Antrag entschieden wurde. Da eine günstigere Regelung, die eine Inlandsantragstellung auch zulässt, wenn der Drittstaatsangehörige - wie die Revisionswerberin - über kein langfristiges Aufenthaltsrecht verfügt, im Einklang mit dem nationalen Recht stehen muss, ist es systemkonform, auch die Rechtsfolgen bei Wegfall des kurzfristigen Aufenthaltsrechts nach der nationalen Rechtslage zu beurteilen. Dies ist im vorliegenden Fall die Verpflichtung, bei Ablauf des (kurzfristigen) Aufenthaltsrechts das Bundesgebiet zu verlassen, um nicht einen Versagungstatbestand zu verwirklichen. Aus dem Verweis auf Art. 7 Abs. 4 RL ist für die Revisionswerberin, die ihren Antrag zwar zulässigerweise im Inland stellen durfte, sich nach dem Ablauf ihrer visumfreien Zeit aber nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhielt, somit nichts zu gewinnen.
Der Hinweis auf das Urteil EuGH 10.9.2014, Ali Ben Alaya, C‑491/13, führt zu keiner anderen Beurteilung, weil diese Entscheidung zur Vorgängerrichtlinie 2004/114/EG erging, die keine dem Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2016/801 vergleichbare Bestimmung enthält.
Der Verwaltungsgerichtshof sieht sich daher nicht veranlasst, der Anregung der Revisionswerberin, ausgehend von einem Sachverhalt wie dem vorliegenden ein Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof der Europäischen Union betreffend die Vereinbarkeit des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG mit den Art. 7 und 11 RL einzuleiten, nachzukommen.
Darüber hinaus legt die Revision auch nicht dar, welche für den vorliegenden Fall entscheidungsrelevanten Umstände das VwG im Rahmen einer Prüfung gemäß Art. 20 Abs. 4 RL hätte einbeziehen müssen, gemäß § 11 Abs. 3 NAG aber nicht habe berücksichtigen können. Dafür, dass die Behörde der Revisionswerberin den beantragten Aufenthaltstitel „partout nicht erteilen wollte und deshalb so lange zugewartet hat, bis die visumfreie Zeit abgelaufen ist“, enthalten die Verfahrensakten keine Anhaltspunkte. Der Antrag wurde am 6. Februar 2020 gestellt, die Behörde entschied mit Bescheid vom 31. März 2020 (zugestellt laut Beschwerde „im April 2020“) und somit innerhalb der Entscheidungsfrist von 90 Tagen gemäß Art. 34 Abs. 1 RL. Eine Verpflichtung der Behörde, über einen Erstantrag innerhalb eines erlaubten visumfreien Aufenthaltes zu entscheiden, ist dem NAG nicht zu entnehmen (vgl. VwGH 10.12.2019, Ro 2018/22/0015, Rn. 11, mwN).
9 Zu der Verfahrensrüge der unterlassenen persönlichen Beiziehung der Revisionswerberin in der Verhandlung vor dem VwG wird darauf hingewiesen, dass sie anwaltlich vertreten und ihre Vertreterin in der Verhandlung auch anwesend war. Es ist nicht erkennbar, aus welchem Grund ihre Rechtsvertreterin die Argumente der Revisionswerberin nicht hätte vorbringen oder das Vorbringen nicht hätte schriftlich erstattet werden können.
10 In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme; sie war daher zurückzuweisen.
Wien, am 24. März 2021
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