Normen
AVG §66 Abs4
BFA-VG 2014 §9
EURallg
FrPolG 2005 §2 Abs4 Z11
FrPolG 2005 §52 Abs1 Z1
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs2 Z3
FrPolG 2005 §66
FrPolG 2005 §66 Abs1
FrPolG 2005 §66 Abs2
FrPolG 2005 §67
MRK Art8
NAG 2005 §52 Abs1 Z3
NAG 2005 §54
NAG 2005 §54 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwRallg
32004L0038 Unionsbürger-RL Art14 Abs2
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2023:RA2020210080.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Nordmazedoniens, wurde am 27. Juni 2018 auf dem Flughafen Wien-Schwechat durch Organe der Landespolizeidirektion Niederösterreich im Zuge der beabsichtigten Ausreise nach Skopje kontrolliert, wobei festgestellt wurde, dass sie sich bereits seit 19. September 2017 im Schengen‑Gebiet aufgehalten habe. In der Folge reiste die Revisionswerberin noch am selben Tag freiwillig aus dem Bundesgebiet aus.
2 Die Revisionswerberin wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Schreiben vom 31. Juli 2018 darüber in Kenntnis gesetzt, dass gegen sie ein Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingeleitet worden sei. Dazu nahm die Revisionswerberin schriftlich Stellung, brachte vor, dass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet rechtmäßig gewesen sei und legte eine Bestätigung vor, wonach sie am 19. Dezember 2017 einen Antrag auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte als Angehörige „eines EWR- oder Schweizer Bürgers“ gestellt habe.
3 Aus dem vom Verwaltungsgerichtshof beigeschafften Akt des Magistrates der Stadt Wien (Magistratsabteilung 35) über das in Rn. 2 erwähnte Verfahren der Revisionswerberin betreffend Ausstellung einer Aufenthaltskarte geht hervor, dass die Revisionswerberin am 19. Dezember 2017 bei dieser Behörde unter Vorlage mehrerer Unterlagen, u.a. einer Kopie der Aufenthaltskarte ihres volljährigen Sohnes und einer Kopie des Personalausweises ihrer Schwiegertochter, einer italienischen Staatsangehörigen, die Ausstellung einer Aufenthaltskarte beantragte. Über Aufforderung der Magistratsabteilung 35 legte die Revisionswerberin im weiteren Verfahrensverlauf eine Heiratsurkunde ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter, die Anmeldebescheinigung ihrer Schwiegertochter als Arbeitnehmerin iSd § 51 Abs. 1 Z 1 NAG sowie diverse Einkommensnachweise ihres Sohnes und ihrer Schwiegertochter vor und brachte vor, von ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter bereits im Herkunftsstaat regelmäßig Unterhaltsleistungen erhalten zu haben und bot diesbezügliche Beweismittel an.
4 Mit Bescheid vom 18. Oktober 2018 sprach das BFA aus, dass der Revisionswerberin von Amts wegen kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 erteilt werde, erließ gegen sie gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Revisionswerberin nach „Mazedonien“ zulässig sei. Damit verband es gestützt auf § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 FPG ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot. Weiters sprach es aus, dass einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.
5 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte die Revisionswerberin vor, dass sie zum Aufenthalt in Österreich berechtigt sei, weil sie Angehörige einer EWR‑Bürgerin sei, von der sie bereits im Herkunftsstaat finanziell unterstützt worden sei. Sie habe ‑ so wiederholte sie ihr bereits vor dem BFA erstattetes Vorbringen ‑ am 19. Dezember 2017 bei der Magistratsabteilung 35 einen Antrag auf Ausstellung einer „Aufenthaltskarte infolge Stellung als Verwandte einer EWR‑Bürgerin, welche über eine gültige Anmeldebescheinigung [...] verfügt“ gestellt, wobei sie die Geschäftszahlen des anhängigen Verfahrens betreffend die Ausstellung einer Aufenthaltskarte und des Verfahrens betreffend die Anmeldebescheinigung der EWR‑Bürgerin nannte. Das BFA hätte ‑ so die Revisionswerberin in der Beschwerde weiter ‑ aufgrund ihres Vorbringens zur Ermittlung des Sachverhaltes den Akt der Magistratsabteilung 35 beischaffen oder die Revisionswerberin und ihre Schwiegertochter einvernehmen müssen. Schließlich beantragte die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 14. Jänner 2020 wies das BVwG die Beschwerde mit der Maßgabe als unbegründet ab, dass festgestellt werde, die Abschiebung der Revisionswerberin sei nach „Nordmazedonien“ zulässig, und dass gegen sie ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 3 und 6 FPG erlassen werde. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
7 Das BVwG verwies in seiner Begründung, so lassen sich seine für das Revisionsverfahren relevanten Überlegungen zusammenfassen, darauf, dass sich die Revisionswerberin zum Zeitpunkt der Kontrolle am 27. Juni 2018 bereits seit 19. September 2017 im Bundesgebiet aufgehalten und somit die nach Maßgabe des Schengener-Grenzkodex visumsfreie Aufenthaltsdauer von bis zu 90 Tagen in einem Zeitraum von 180 Tagen überschritten habe. Die Revisionswerberin verfüge weder über einen Aufenthaltstitel noch über eine Beschäftigungsbewilligung; ihr Aufenthalt sei nur bis zum 19. Dezember 2017 rechtmäßig gewesen. Die Stellung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehörige „eines EWR‑Bürgers“ begründe für sich genommen kein Aufenthaltsrecht. Die Verhängung des Einreiseverbotes stützte das BVwG ‑ wie auch schon das BFA ‑ auf die rechtskräftige Verhängung einer Verwaltungsstrafe nach § 120a Abs. 1a FPG aufgrund des unrechtmäßigen Aufenthaltes der Revisionswerberin mit Strafverfügung vom 28. Juni 2018 sowie ergänzend auch im Spruch auf deren Mittellosigkeit.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen hat:
9 In der Revision wird zu deren Zulässigkeit zusammengefasst ins Treffen geführt, im Verfahren sei zu Unrecht nicht geprüft worden, ob der Revisionswerberin ‑ wie von ihr geltend gemacht ‑ ein Aufenthaltsrecht nach § 54 NAG zukomme. Da die Ausstellung einer Aufenthaltskarte lediglich deklarativen Charakter habe, sei die Rechtsauffassung, wonach mit der Stellung eines Antrages auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte kein Aufenthaltsrecht verbunden sei, unrichtig.
10 Die Revision erweist sich - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Ergebnis als zulässig; sie ist auch berechtigt.
11 Die §§ 51, 52 und 54 NAG, mit denen die entsprechenden Bestimmungen der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG ) umgesetzt wurden, lauten auszugsweise samt Überschriften:
„Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr als drei Monate
§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR‑Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;
...
Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern
§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR‑Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie
...
3. Verwandter des EWR‑Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader aufsteigender Linie sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;
...
Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers
§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. ...
...
(7) Liegt eine Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30), eine Zwangsehe oder Zwangspartnerschaft (§ 30a) oder eine Vortäuschung eines Abstammungsverhältnisses oder einer familiären Beziehung zu einem unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürger vor, ist ein Antrag gemäß Abs. 1 zurückzuweisen und die Zurückweisung mit der Feststellung zu verbinden, dass der Antragsteller nicht in den Anwendungsbereich des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts fällt.“
12 Die Revisionswerberin hat in ihrer Beschwerde an das BVwG ‑ wie bereits im vorangegangenen Behördenverfahren ‑ vorgebracht, als Angehörige einer EWR‑Bürgerin (gemeint: ihrer italienischen Schwiegertochter) aufenthaltsberechtigt zu sein und dem entsprechend die Ausstellung einer Aufenthaltskarte bereits beantragt zu haben. Schon dieses Vorbringen hätte das BVwG dazu veranlassen müssen, die bei ihm angefochtene Rückkehrentscheidung und das darauf aufbauende Einreiseverbot (sowie die weiteren ebenfalls auf der Rückkehrentscheidung aufbauenden Nebenaussprüche) ersatzlos zu beheben.
13 Die Revisionswerberin hält sich nämlich in Österreich unter potentieller Inanspruchnahme eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes auf Grund der substantiierten Behauptung, begünstigte Drittstaatsangehörige (§ 2 Abs. 4 Z 11 FPG) zu sein, auf. Für den Fall, dass dieses unionsrechtliche Aufenthaltsrecht mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach § 52 Abs. 1 Z 3 NAG zu verneinen wäre, ist allerdings keine Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG, sondern ‑ bei Vorliegen der Voraussetzungen nach § 9 BFA‑VG iVm § 66 Abs. 2 FPG ‑ eine Ausweisung gemäß § 66 Abs. 1 FPG zu erlassen (siehe zu einem vergleichbaren Fall VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0143, Rn. 11 ff, mwN). Lediglich im Fall einer bindenden feststellenden Entscheidung gemäß § 54 Abs. 7 NAG hat keine Ausweisung nach § 66 FPG zu ergehen, sondern die Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 FPG zu erfolgen (siehe neuerlich VwGH 7.10.2021, Ra 2021/21/0143, nunmehr Rn. 14/15, mwN).
14 Da die Revisionswerberin in diesem Sinne ausreichend substantiiert vorbrachte, ihr komme als Angehörige einer EWR‑Bürgerin ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu (und kein Hinweis auf das Vorliegen einer Feststellung nach § 54 Abs. 7 NAG ersichtlich ist), hätte das BVwG den Bescheid des BFA vom 18. Oktober 2018 jedenfalls ersatzlos beheben müssen. Eine Abänderung der vom BFA verhängten Maßnahmen in eine Ausweisung (bzw. ein Aufenthaltsverbot) wäre von vornherein nicht in Betracht gekommen. Denn angesichts des unterschiedlichen normativen Gehalts von Rückkehrentscheidung (bzw. Einreiseverbot) einerseits und Ausweisung (bzw. Aufenthaltsverbot) andererseits kann nicht von „Sachidentität“ dieser Maßnahmen ausgegangen werden, sodass diese Maßnahmen auch nicht „austauschbar“ sind (VwGH 16.4.2021, Ra 2020/21/0462, Rn. 14 und Rn. 16; vgl. auch VwGH 2.9.2021, Ra 2021/21/0087, Rn. 14/15). Da das BVwG dies verkannt hat, ist das angefochtene Erkenntnis schon deshalb mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes behaftet.
15 Im Übrigen hätte das BVwG bei der von ihm vorgenommenen Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes der Revisionswerberin den (zu erhebenden) Sachverhalt am Maßstab des § 52 Abs. 1 Z 3 NAG prüfen müssen und sich nicht auf die Begründung zurückziehen dürfen, dass die Beantragung einer Aufenthaltskarte alleine noch kein Aufenthaltsrecht bewirke, sondern ‑ so ist das BVwG zu verstehen ‑ erst deren Erteilung. Dabei wird übersehen, dass eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes gehört. Die Bescheinigung hat daher bloß deklaratorische Wirkung und stellt keinen konstitutiv begründeten Aufenthaltstitel dar (vgl. etwa VwGH 9.9.2020, Ro 2020/22/0010, Rn. 10, mit Verweis auf VwGH 8.7.2020, Ra 2019/22/0177, Rn. 11, mwN).
16 Lediglich der Vollständigkeit halber sei noch angemerkt, dass der Entscheidung des BVwG in Bezug auf die Bestätigung der Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nach § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG ein evidenter Begründungsmangel anhaftet. Insoweit genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Ausführungen im Erkenntnis VwGH 21.12.2022, Ra 2020/21/0248, Rn. 16, zu verweisen.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. März 2023
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