Normen
AsylG 2005 §11
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
B-VG Art133 Abs4
MRK Art8
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGG §41
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020200332.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 29. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er in seinem Herkunftsland von seinem Onkel väterlicherseits verfolgt werde, weil er seiner Schwester, die von diesem Onkel zwangsverheiratet worden sei, zur Flucht verholfen habe.
2 Mit Bescheid vom 23. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 8. Juni 2020, E 1116/2019‑7, ablehnte und sie mit Beschluss vom 16. Juli 2020, E 1116/2019‑9, über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. In der Folge wurde die vorliegende Revision eingebracht.
5 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
8 Soweit sich die Revision zur Begründung ihrer Zulässigkeit gegen die der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten zu Grunde liegenden beweiswürdigenden Erwägungen wendet, ist zunächst auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach dieser als Rechtsinstanz zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 3.6.2020, Ra 2020/20/0161, mwN).
9 Das Bundesverwaltungsgericht gelangte nach Durchführung einer Verhandlung unter anderem unter Hinweis auf das ‑ seine Schwester und seine Mutter betreffende ‑ Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. April 2016, Zlen. 1. W200 2122445‑1/5E und 2. W200 2122443‑1/5E, zu dem Schluss, dass eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers durch seinen Onkel zu verneinen sei. Der Schwester des Revisionswerbers, die sich auf dieselben fluchtauslösenden Ereignisse wie der Revisionswerber stützte, sei mit dem angeführten Erkenntnis vom 29. April 2016 der Status der Asylberechtigten aufgrund ihrer „westlichen Orientierung“ zuerkannt worden; die widersprüchlichen Angaben der Mutter und der Schwester zur behaupteten Zwangsehe hätten jedoch „der Entscheidung keinesfalls zugrunde gelegt werden“ können. In diesem Zusammenhang macht der Revisionswerber einen Verfahrensmangel dahingehend geltend, dass die (neuerliche) Befragung seiner Mutter und seiner Schwester in seinem nunmehrigen Verfahren rechtswidrigerweise unterlassen worden sei. Diese hätten bei entsprechender Befragung die in ihrem Verfahren angeführten Widersprüche aufklären können und das Bundesverwaltungsgericht wäre zu dem Ergebnis gelangt, dass die Familie väterlicherseits den Revisionswerber für seine Beihilfe zur Flucht asylrelevant verfolge.
10 Werden Verfahrensmängel ‑ wie hier im Besonderen Ermittlungsmängel wegen unterbliebener Vernehmung von weiteren Zeugen ‑ als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, muss zudem auch schon in der abgesonderten Zulässigkeitsbegründung die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für den Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Dies setzt voraus, dass ‑ auch in der gesonderten Begründung für die Zulässigkeit der Revision zumindest auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des Verfahrensmangels als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 10.1.2020, Ra 2019/20/0579; mwN). Im Fall einer unterbliebenen Vernehmung ist ‑ um die Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers darzulegen ‑ in der Revision konkret darzulegen, was die betreffende Person im Fall ihrer Vernehmung hätte aussagen können und welche anderen oder zusätzlichen Feststellungen auf Grund dessen zu treffen gewesen wären (vgl. VwGH 2.3.2020, Ra 2020/14/0062, mwN). Diesen Anforderungen kommt die Revision mit ihrem pauschal gehaltenen und insoweit nicht näher konkretisierten Vorbringen nicht nach.
11 Die Revision bringt weiters vor, dass eine Bindungswirkung in Bezug auf die Verfahren betreffend andere Personen nicht bestehe. Dies trifft zu; jedoch hindert dies das Bundesverwaltungsgericht nicht, den Umstand, dass das Vorbingen zur behaupteten Zwangsverheiratung bereits im Verfahren betreffend die Mutter und die Schwester des Revisionswerbers als unglaubwürdig erachtet wurde, in seine eigenen beweiswürdigenden Erwägungen einfließen zu lassen, sodass mit dem bloßen Verweis auf die fehlende Bindungswirkung weder eine Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung noch eine sonstige vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Mangelhaftigkeit dargelegt wird. Der alternativ im Rahmen einer Wahrunterstellung herangezogenen unrichtigen Rechtsansicht des Bundesverwaltungsgerichts, wonach eine asylrelevante Verfolgung auch nicht von Privaten ausgehen könne, kommt somit auch keine entscheidungswesentliche Bedeutung mehr zu.
12 Einer Berücksichtigung der ‑ erstmals in der Revision ‑ behaupteten „Sippenhaftung“ des Revisionswerbers, weil er sich die verwestlichte Lebensweise seiner Schwester im Herkunftsstaat als männliches Familienoberhaupt zurechnen lassen müsse und zur Rechenschaft gezogen werden würde, steht im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof das aus § 41 VwGG abzuleitende Neuerungsverbot entgegen und hat daher unberücksichtigt zu bleiben.
13 Soweit im Zulässigkeitsvorbringen auch die fehlende adäquate Auseinandersetzung mit den EASO‑Richtlinien für Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan, Juni 2018 sowie Juni 2019) als auch den UNHCR‑Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 gerügt wird und in diesem Zusammenhang mit Verweis darauf, dass der Revisionswerber sein Leben überwiegend im Iran verbracht habe, das Nichtvorhandensein eines „Unterstützungsnetzwerkes“ für die Annahme eine innerstaatlichen Fluchtalternative betont, ist dem entgegenzuhalten, dass weder EASO noch UNHCR von der Notwendigkeit eines sozialen Netzwerkes in den Städten Mazar-e Sharif und Herat für einen alleinstehenden, gesunden, erwachsenen Mann ohne besondere Vulnerabilität für die Verfügbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative ausgehen (vgl. VwGH 1.7.2020, Ra 2020/20/0227; 11.8.2020, Ra 2020/14/0347; jeweils mwN).
14 Weiters ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in Bezug auf Afghanistan zu verweisen, wonach es einem gesunden Asylwerber im erwerbsfähigen Alter, der eine der Landessprachen Afghanistans beherrscht, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut ist und die Möglichkeit hat, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. VwGH 30.1.2020, Ra 2020/20/0003; mwN).
15 Der Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der es sich bei dem Revisionswerber um einen gesunden, ledigen und arbeitsfähigen jungen Mann handle, bei dem die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne, und der über insgesamt acht Jahre Schulbildung und Berufserfahrung in Schusterbetrieben verfüge, tritt die Revision nicht entgegen. Entsprechend der zitierten Judikatur reicht jedoch ein fehlendes soziales Netzwerk für sich betrachtet nicht aus, um eine innerstaatliche Fluchtalternative ‑ jedenfalls in Bezug auf Herat und Mazar‑e Sharif ‑ zu verneinen. Vor diesem Hintergrund kommt der unterlassenen Einvernahme der Schwester und der Mutter des Revisionswerbers zur Frage der Unterstützungsfähigkeit der Verwandten im Herkunftsstaat keine Bedeutung zu.
16 Soweit sich der Revisionswerber gegen die Erlassung der Rückkehrentscheidung wendet, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel ist. Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑Verfahrensgesetz (BFA‑VG) genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 29.5.2020, Ra 2020/14/0191, mwN).
17 Die Revision bringt dazu vor, die Beziehung zwischen dem Revisionswerber und seiner Mutter sei entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes aufgrund des bestehenden Zusammenlebens und des zusätzlichen Merkmals der Pflege und Unterstützung als (schützenswertes) Familienleben zu qualifizieren.
18 Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 12.3.2020, Ra 2019/20/0035, mwN).
19 Das Bundesverwaltungsgericht verkannte nicht, dass der Revisionswerber und seine in Österreich subsidiär schutzberechtigte Mutter im gemeinsamen Haushalt leben, verneinte jedoch die für die Schutzbedürftigkeit erforderliche Abhängigkeit der Mutter vom Revisionswerber, weil nicht ersichtlich sei, weshalb die Mutter, die kein Pflegefall und in der Lage sei, außer Haus zu gehen, ausgerechnet auf die Unterstützung des Revisionswerbers angewiesen sei und nicht auch durch seine ca. 30 Gehminuten entfernt wohnende in Österreich asylberechtigte Schwester unterstützt werden könne. Weshalb die Betreuung ausschließlich durch den Revisionswerber erfolgen müsse, wird mit dem pauschalen Verweis auf die gewonnene Freiheit der Schwester, die nun nicht wieder eingeschränkt werden dürfe, nicht dargetan. Somit gelingt es der Revision nicht darzulegen, dass das Bundesverwaltungsgericht nicht auf die fallbezogen entscheidungswesentlichen Umstände Bedacht genommen hätte und die in den angefochtenen Erkenntnissen enthaltene Beurteilung nicht anhand der in der Rechtsprechung dargelegten Leitlinien vorgenommen worden wäre.
20 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen.
Wien, am 1. Oktober 2020
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)