VwGH Ra 2020/18/0346

VwGHRa 2020/18/034629.3.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des C M, vertreten durch Dr. Joachim Rathbauer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Weißenwolffstraße 1/4/23, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Juli 2020, I417 2177689‑1/7E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
AVG §45 Abs3
BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020180346.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Kameruns, stellte am 18. Jänner 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, Mitglied der Oppositionspartei „Social Democratic Front“ zu sein und aufgrund seiner Zugehörigkeit zur anglophonen Bevölkerungsgruppe sowie seiner vor der Polizei geäußerten Absicht, an einer Demonstration der englischsprachigen Bevölkerung gegen die Regierung teilzunehmen, des Separatismus und des Terrorismus beschuldigt, festgenommen und gefoltert worden zu sein. Durch die Hilfe eines Polizisten habe er schließlich aus dem Gefängnis flüchten können. Bei einer Rückkehr befürchte er, getötet zu werden.

2 Mit Bescheid vom 31. Oktober 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Kamerun zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass es dem Revisionswerber ‑ trotz an sich nachvollziehbarer Vorkommnisse im Rahmen von Demonstrationen gegen die Regierung ‑ aufgrund seiner unschlüssigen Angaben nicht gelungen sei, eine asylrelevante Verfolgung seiner Person glaubhaft zu machen. Es sei nicht nachvollziehbar, wieso der Revisionswerber der Polizei im Zuge einer Kontrolle mitteilen sollte, dass er bei Demonstrationen teilnehmen wolle, zumal er selbst behauptet habe, dass die Polizei massiv gegen Demonstranten vorgehe. Auch die vom Revisionswerber vorgebrachte Überstellung seiner Person in eine französischsprachige Region des Landes zur Vollstreckung der Todesstrafe sei nicht nachvollziehbar. Die vom Revisionswerber vorgebrachte Folter durch Tragen elektrischer Schuhe erscheine nicht glaubwürdig, da dessen Aussage, diese seien ab einer Tragedauer von drei Minuten tödlich, aufgrund des unterschiedlichen Zustandes von Menschen nicht der Wahrheit entspreche. Zudem sei es „denkunmöglich“, dass ein Polizist auf Anweisung eines Vorgesetzten dem Revisionswerber zur Flucht verhelfe. Auch der Umstand, dass keiner der Familienangehörigen des Revisionswerbers festgenommen worden sei, spreche gegen eine tatsächliche Verfolgung.

4 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und brachte zusammengefasst vor, die beweiswürdigenden Erwägungen des BFA überzeugten aus näher dargelegten Gründen nicht. Das BFA fordere implizit vom Revisionswerber seine politische Überzeugung zu unterdrücken, um so einer Verfolgung zu entgehen. Überdies sei es nachvollziehbar, dass der Revisionswerber in den französischsprachigen Landesteil überstellt werden hätte sollen, da die Regierung eine Todesstrafe aus Sorge vor Ausschreitungen nicht im anglophonen Gebiet vollziehen würde. Betreffend die Erwägungen des BFA zur Unglaubhaftigkeit der Flucht des Revisionswerbers aus der Haft wurde auf die vom BFA festgestellte weit verbreitete Korruption in Kamerun hingewiesen, sowie darauf, dass der Revisionswerber angegeben habe, dass es sich bei dem Vorgesetzten des Polizisten um seinen Schulfreund gehandelt habe. Soweit das BFA die fehlenden Angriffe auf die Familienangehörigen des Revisionswerbers ins Treffen führe, sei einerseits auf die getroffenen Länderfeststellungen zu verweisen, wonach in Kamerun keine Sippenhaft bestehe, und andererseits auf die Ausführungen des Revisionswerbers in seiner Einvernahme, wonach seine Frau belästigt und nach ihm gefragt worden sei.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6 Das BVwG schloss sich in seiner Begründung den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA an. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Revisionswerber vor einem Polizisten seine Absicht geäußert habe, bei einer Demonstration mitzumachen, obwohl ihm bewusst gewesen sei, dass er deshalb verhaftet werde. Aus den Länderfeststellungen sei ersichtlich, dass anglophone Bewegungen eingeschränkt, Demonstrationen nicht genehmigt und vorübergehende Festnahmen erfolgen würden. Hinweise auf eine Einstufung von Personen als Terroristen und die Vollziehung der Todesstrafe gebe es jedoch keine. Darüber hinaus entbehre es jeder Lebenserfahrung, dass ein Polizist sich der Gefahr aussetze, einen zum Tode Verurteilten bei seiner Flucht zu helfen. Bei Wahrunterstellung des Fluchtvorbringens könne von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative im frankophonen Teil Kameruns ausgegangen werden. Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung erwog das BVwG, der Revisionswerber habe die ihm eingeräumte Möglichkeit, zum aktuellen Länderinformationsblatt zu Kamerun oder zu sonstigen hinsichtlich seiner Person eingetretenen Änderungen schriftlich Stellung zu nehmen, nicht wahrgenommen und es könne nicht erkannt werden, dass die Abhaltung einer mündlichen Verhandlung weitere entscheidungswesentliche Tatsachen hervorbringen würde.

7 In der Revision wird zur Zulässigkeit unter anderem moniert, das BVwG habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018).

12 Diese Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG lagen gegenständlich nicht vor.

13 Das BVwG hat eine Aktualisierung der Länderberichte vorgenommen und diese seinen Feststellungen zugrunde gelegt. Diese Berichte wurden dem Revisionswerber zwar zur Stellungnahme übermittelt, es entspricht aber der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat schriftlich Stellung zu nehmen, grundsätzlich die Durchführung einer Verhandlung nicht ersetzen kann (vgl. VwGH 16.6.2020, Ra 2019/19/0566, mwN).

14 Des Weiteren ist der Revisionswerber der Beweiswürdigung des BFA in seiner Beschwerde inhaltlich entgegengetreten, indem er die einzelnen beweiswürdigenden Erwägungen der Behörde jeweils mit näheren Argumenten zu entkräften suchte und somit den von der Behörde festgestellten Sachverhalt nicht bloß unsubstantiiert bestritten hat.

15 Im Übrigen hätten die erstmals vom BVwG bei Wahrunterstellung des Vorbringens hilfsweise herangezogenen Erwägungen betreffend eine bestehende innerstaatliche Fluchtalternative die ‑ von einem Gericht grundsätzlich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu erfolgende ‑ Einräumung von rechtlichem Gehör vorausgesetzt (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0177, mwN).

16 Das BVwG hätte somit nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. März 2021

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