VwGH Ra 2020/18/0174

VwGHRa 2020/18/017417.12.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S Ö, vertreten durch Mag. Ayhan Calik in 1010 Wien, Wipplingerstraße 32/2/22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. April 2020, L529 2229286/1/5E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020180174.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Türkei und Angehöriger der kurdischen Volksgruppe, stellte am 17. Juni 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er brachte vor, homosexuell zu sein und von seiner eigenen Familie und der Familie seines Freundes verfolgt und mit dem Tode bedroht worden zu sein.

2 Mit Bescheid vom 30. Jänner 2020 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe die Türkei verlassen, um sich Diskriminierungen zu entziehen, es sei jedoch keine asylrelevante Bedrohung zu erkennen. In Bezug auf die vorgebrachte Verfolgung durch Angehörige seines Freundes verwies das BFA den Revisionswerber auf die Möglichkeit einer Unterkunftnahme in liberal‑westlichen Großstädten in der Türkei.

4 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) und rügte darin unvollständige Länderfeststellungen, da diese nur äußerst allgemeine Aussagen über die Konsequenzen von Homosexualität enthielten. Der Revisionswerber sei mittlerweile volljährig und wehrpflichtig, er habe als homosexueller kurdisch‑stämmiger Mann in der türkischen Armee mit besonderer Diskriminierung zu rechnen. Die Einvernahmen des Revisionswerbers vor dem BFA seien mangelhaft gewesen und wiesen Lücken, so etwa zur Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Istanbul, auf. Die Beweiswürdigung des BFA sei mangelhaft, eine innerstaatliche Fluchtalternative liege nicht vor. Ausdrücklich wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

6 Das BVwG schloss sich in seiner Begründung der Einschätzung des BFA an, wonach das Vorbringen des Revisionswerbers sowohl hinsichtlich seiner sexuellen Orientierung als auch hinsichtlich der geschilderten Übergriffe durch die Familie seines Partners, der Reaktion des eigenen Vaters und der mangelnden Hilfsbereitschaft des Polizeibeamten glaubhaft sei. Es stimmte dem BFA aber auch dahingehend zu, dass dem Revisionswerber wegen seiner Homosexualität keine landesweite, hinreichend intensive asylrelevante Verfolgungsgefahr drohe. Das BVwG verwies auf die Ausführungen des BFA, wonach es abgesehen von einem körperlichen Übergriff durch die Familie seines Freundes und Drohungen keine weiteren körperlichen Angriffe auf den Revisionswerber gegeben habe. Das BVwG führte aus, dass sich der Revisionswerber außerdem seit dem Bekanntwerden seiner homosexuellen Beziehung noch ein halbes Jahr in seinem Heimatland aufgehalten habe. Überdies teilte das BVwG die Ansicht des BFA, dass der Revisionswerber der Bedrohung durch die Familienangehörigen seines Freundes durch Verlegung seines Wohnortes in eine der Großstädte der Türkei, insbesondere Istanbul, entgehen könne. Es sei vom Revisionswerber nicht glaubwürdig dargetan worden und auch nicht anzunehmen, dass die Angehörigen seines Freundes ihn in einer solchen Metropole, selbst wenn er kurzfristig bei seinen Verwandten Unterkunft nehmen würde, ausfindig machen würden. Im Ergebnis bestätigte das BVwG die vom BFA angenommene Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Großstädten mit einer lebendigen homosexuellen Szene wie Istanbul. Dem Revisionswerber sei es möglich und zumutbar, sich in Istanbul, Izmir oder Ankara niederzulassen. Das Vorbringen, als homosexueller kurdisch‑stämmiger Türke beim Militär einer besonderen Diskriminierung sowie erniedrigenden Praktiken ausgesetzt zu sein, unterliege dem Neuerungsverbot und es sei kein nachvollziehbarer Grund ersichtlich, weshalb es dem Revisionswerber nicht bereits vor dem BFA möglich gewesen sein sollte, ein solches Vorbringen zu erstatten. Dessen ungeachtet würde sich aus den Länderfeststellungen aber auch keine systematische Diskriminierung gegen kurdische Rekruten beim Militär ergeben und sei nicht davon auszugehen, dass die Militärbehörde von der sexuellen Orientierung des Revisionswerbers erfahren würde.

7 Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, die in der Zulässigkeitsbegründung und in der Sache unter anderem geltend macht, das BVwG habe seine Verhandlungspflicht verletzt.

8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und begründet.

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2015, Ra 2014/20/0017, 0018).

12 Diese Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA‑VG lagen gegenständlich nicht vor:

13 Der Revisionswerber erstattete im Beschwerdeverfahren neues Vorbringen zur ihm drohenden Verfolgung aufgrund seiner Homosexualität. Das BVwG hat einerseits angeführt, dieses Vorbringen des Revisionswerbers falle unter das Neuerungsverbot, ohne dies näher zu begründen. Andererseits setzte es sich damit beweiswürdigend auseinander und hielt in Form einer Alternativbegründung fest, dass eine systematische Diskriminierung von kurdischen Türken im Militär nicht vorkomme und die Möglichkeit bestehe, sich vom Wehrdienst frei zu kaufen. Damit ergänzte es den angefochtenen Bescheid um tragende Erwägungen. Schon vor diesem Hintergrund lag kein Fall im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG vor, der ein Absehen von der beantragten Verhandlung ermöglichte (vgl. etwa VwGH 24.2.2015, Ra 2014/18/0063, mwN). Im Übrigen enthält das Erkenntnis ‑ bis auf einen Verweis auf Länderinformationsblatt ‑ keine Feststellungen zur Wehrpflicht in der Türkei.

14 Überdies trat der Revisionswerber in seiner Beschwerde der Annahme des BFA, ihm stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Istanbul zur Verfügung, substantiiert entgegen. Das BVwG hielt diese behördliche Argumentation aufrecht und nahm überdies in Reaktion auf das Beschwerdevorbringen, dass infolge der Meldung der Unterkunftnahme bei der Polizei in Istanbul die Familie den Aufenthaltsort des Revisionswerbers erfahren könne, ergänzend an, dass die Familie nur dann davon erfahren könne, wenn sie Zugang zum Meldewesen hätte, ohne dem Revisionswerber Gelegenheit zu geben, zu dieser neuen Annahme im Rahmen der mündlichen Verhandlung Stellung nehmen zu können.

15 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und ‑ wie hier ‑ des Art. 47 GRC zur Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 27.4.2020, Ro 2019/20/0003, Rn. 21, mwN).

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. Dezember 2020

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