Normen
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §58 Abs2
AVG §60
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §28
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020140065.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Somalias und dem Clan der Ashraf zugehörig, stellte am 5. September 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz und begründete diesen im Wesentlichen damit, dass er von seinem Koranlehrer entführt und zu einem Camp der Al Shabaab gebracht worden sei. Im Zuge eines von ihm durchzuführenden Mordanschlages ‑ drei Monate nach seiner Verschleppung ‑ sei ihm die Flucht gelungen.
2 Mit Bescheid vom 25. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte diesem keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde hinsichtlich des Spruchpunktes I. als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.). Hinsichtlich des Spruchpunktes II. wurde der Beschwerde jedoch stattgegeben, dem Mitbeteiligten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt (Spruchpunkt A) II.). Weiters behob es in Erledigung der Beschwerde die Spruchpunkte III. bis VI. des Bescheides ersatzlos (Spruchpunkt A) III.). Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht ‑ soweit im vorliegenden Fall relevant ‑ aus, der Aufenthaltsort der Verwandten des Mitbeteiligten ‑ es handle sich dabei um die Eltern und sechs Geschwister ‑ habe nicht festgestellt werden können. Es hätten überdies auch keine Feststellungen zur Schulausbildung des Mitbeteiligten in Somalia getroffen werden können. Beweiswürdigend führte das Verwaltungsgericht aus, dass die Feststellungen zum Aufenthalt der Angehörigen und zur Schulbildung des Mitbeteiligten in Somalia deshalb unterblieben seien, weil die diesbezüglichen Angaben des Mitbeteiligten ‑ auch unter Bedachtnahme auf sein junges Alter ‑ widersprüchlich geblieben seien.
5 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, es könne nicht angenommen werden, dass der Mitbeteiligte im Fall einer Rückkehr auf ein ausreichend tragfähiges soziales Netz der Kernfamilie und des erweiterten Clans zurückgreifen könne. Er sei damit von der Versorgungskrise in Somalia besonders betroffen und entsprechend vulnerabel. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht, weil die Versorgungskrise weite Teile Somalias betreffe, und der Mitbeteiligte als Minderheitenangehöriger und in anderen Landesteilen nicht sozialisierter, junger Mann ohne nennenswerte Ausbildung keinen besseren Zugang zu einer Grundversorgung haben würde. Ein Verweis auf eine innerstaatliche Fluchtalternative, etwa in Mogadischu, wäre daher für den Mitbeteiligten nicht zumutbar.
6 Die vorliegende Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. des angefochtenen Erkenntnisses und bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das Bundesverwaltungsgericht habe nicht ausreichend begründet, warum es keine „positiven“ Feststellungen zum Aufenthaltsort der Familienangehörigen des Mitbeteiligten getroffen habe. Der alleinige Umstand, dass sich Ermittlungsergebnisse widersprechen würden, sei keine ausreichende Begründung. Das Bundesverwaltungsgericht hätte jedenfalls darlegen müssen, warum eine Klärung des Sachverhalts durch weitere Ermittlungen nicht möglich sei und alle zur Verfügung stehenden Beweismittel ausgeschöpft seien. Die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei neben der prekären Versorgungslage auch tragend auf das nicht vorhandene familiäre Netzwerk gestützt worden, weshalb die unterlassene Feststellung des Aufenthaltsortes der Familienangehörigen wesentlich sei. Auch hinsichtlich der Begründung, dass dem Mitbeteiligten keine innerstaatliche Fluchtalternative in Mogadischu offen stünde, lasse das Bundesverwaltungsgericht außer Acht, dass der Mitbeteiligte angegeben habe, dass mehrere Onkel und Tanten sowie die Großmutter in Mogadischu lebten. In diesem Fall könnte der Mitbeteiligte von seinen Familienangehörigen unterstützt werden. Er wäre damit von einer Versorgungskrise nicht mehr besonders betroffen und die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative wäre zumutbar.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:
8 Die Amtsrevision ist zulässig. Sie ist auch begründet
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 28.8.2019, Ra 2018/14/0308; mwN).
10 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht seine Pflicht zur ausreichenden Begründung der Entscheidung verletzt.
11 Das Bundesverwaltungsgericht führte in den „Feststellungen“ zur Person des Mitbeteiligten aus: „... Der Beschwerdeführer verfügt noch über seine Eltern und sechs Geschwister. Der Aufenthaltsort der Verwandten des Beschwerdeführers wird nicht festgestellt. Es wird keine Feststellung zur Schulbildung des Beschwerdeführers in Somalia getroffen ...“
12 Das Bundesverwaltungsgericht hat sich im Rahmen der Beweiswürdigung zwar mit den widersprüchlichen Aussagen des Mitbeteiligten im Rahmen der Einvernahmen vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl und jenen vor dem Verwaltungsgericht auseinandergesetzt, trifft aber ‑ aufgrund der auch in der mündlichen Verhandlung nicht aufklärbaren Diskrepanz zwischen den widersprüchlichen Aussagen ‑ keine Feststellungen zum Aufenthaltsort der Familienangehörigen und zur Schulausbildung des Mitbeteiligten.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt festgehalten, Aussagen zu treffen, etwas könne nicht festgestellt werden, sei im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes. Vielmehr habe es ‑ unter Bedachtnahme auf das im Grunde des § 17 VwGVG auch für die Verwaltungsgerichte maßgebliche Prinzip der Amtswegigkeit ‑ regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zu führen und nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel in seiner Entscheidung zu den fallbezogen wesentlichen Sachverhaltsfragen eindeutig Stellung zu nehmen (vgl. VwGH 26.6.2019, Ra 2019/21/0034; 13.11.2018, Ra 2018/21/0133). Nur wenn auch nach Durchführung eines solchen Ermittlungsverfahrens eine klare Beantwortung einer derartigen Frage nicht möglich sei (was ebenso wie das Treffen einer „positiven“ Feststellung im Rahmen beweiswürdigender Erwägungen näher zu begründen wäre), komme als Aussage allenfalls in Betracht, dass der betreffende Gesichtspunkt „nicht festgestellt werden kann“ (siehe dazu erneut VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0133; 29.5.2018, Ra 2018/21/0060).
14 Im vorliegenden Fall liegen Aussagen des Mitbeteiligten zu den einer Feststellung zu unterwerfenden Tatsachen vor. Das Bundesverwaltungsgericht lässt jegliche Begründung vermissen, weshalb fallbezogen eine Würdigung der Aussagen des Mitbeteiligten unter Berücksichtigung seiner Erklärungen zu den Widersprüchen nicht möglich gewesen wäre. Überlegungen, warum ein Sachverhaltselement für gegeben oder für nicht gegeben angesehen werde ‑ was Thema einer Beweiswürdigung zu sein hätte (vgl. VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060) ‑, können in Bezug auf den Aufenthaltsort der Familienangehörigen und die Schulbildung des Mitbeteiligten nicht erblickt werden, so dass ein relevanter Begründungsmangel im oben aufgezeigten Sinn vorliegt.
15 Dass Aussagen von Verfahrensbeteiligten und Zeugen widersprüchlich sein können, ist im gerichtlichen (und behördlichen) Alltag weder selten noch ungewöhnlich. Es ist daher Kernaufgabe der richterlichen (und behördlichen) Beweiswürdigung, auch widersprüchliche Aussagen im Rahmen einer schlüssigen, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechenden, Beweiswürdigung zu gewichten und entsprechend zu würdigen.
16 Im Recht ist die Amtsrevision auch mit ihrem Vorbringen, das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht ausreichend mit dem Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in anderen Teilen des Herkunftsstaates, wie etwa in der Stadt Mogadischu, auseinandergesetzt.
17 Der konstatierte Begründungsmangel hinsichtlich fehlender Feststellungen zum Aufenthaltsort der Familie und der Verwandten des Revisionswerbers sowie zu seiner Schulbildung schlägt auch bei der Prüfung des Bestehens einer innerstaatlichen Fluchtalternative durch.
18 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer innerstaatlichen Fluchtalternative deren Inanspruchnahme auch zumutbar ist, sprechen zu können. Demzufolge hat die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates wesentliche Bedeutung. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigten, findet. Sind diese Voraussetzungen zu bejahen, so wird dem Asylwerber unter dem Aspekt der Sicherheit regelmäßig auch die Inanspruchnahme der innerstaatliche Fluchtalternative zuzumuten sein. Um von einer zumutbaren innerstaatliche Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es aber nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. zum Ganzen VwGH 31.10.2019, Ra 2019/20/0309, mwN).
19 Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht allerdings wesentliche Umstände außer Acht gelassen und die von ihm letztlich herangezogenen Aspekte mangelhaft begründet:
20 So stellte das Bundesverwaltungsgericht weder den Aufenthaltsort der Familienangehörigen noch die Schulbildung des Mitbeteiligten fest.
21 Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative stützte sich das Bundesverwaltungsgericht aber dann tragend darauf, dass es annahm, der Mitbeteiligte verfüge über keine nennenswerte Bildung und kein tragfähiges soziales Netzwerk im Heimatland.
22 Zutreffend zeigt die Revision auf, dass diese Feststellungen in Widerspruch zu den Angaben des Mitbeteiligten in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht stehen, in der er angab, seine Eltern und Geschwister würden in Bosasso, mehrere Onkel und Tanten sowie die Großmutter väterlicherseits in Mogadischu leben. Überdies gab er auch an, er habe eine achtjährige Schulausbildung absolviert.
23 Im Übrigen geht das Bundesverwaltungsgericht zwar davon aus, dass dem Mitbeteiligten im (gesamten) Herkunftsstaat Somalia keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung stehe, weil weite Teile des Landes von einer Versorgungskrise betroffen seien. Es beurteilte aber vorwiegend nur die Versorgungssituation in der Herkunftsprovinz Bari. Eine nähere Auseinandersetzung mit der Versorgungssituation in anderen Teilen des Landes fand nicht statt.
24 Dem Verwaltungsgerichtshof ist es daher nicht möglich, das angefochtene Erkenntnis hinsichtlich der Annahme zu überprüfen, ob dem Mitbeteiligten im gesamten Staatsgebiet Somalias keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung steht (vgl. etwa VwGH 13.2.2020, Ra 2019/19/0426).
25 Das angefochtene Erkenntnis war somit im Hinblick auf die wesentlichen Begründungsmängel im Umfang seiner Anfechtung gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Wien, am 3. Juli 2020
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