VwGH Ra 2020/11/0177

VwGHRa 2020/11/017726.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des R A in L, vertreten durch Dr. Michael Vallender, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Paulanergasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. August 2020, Zl. W200 2131824‑1/28E, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6
VOG 1972 §2 Z1
VwGVG 2014 §24

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020110177.L00

 

Spruch:

Die Revision wird hinsichtlich des Abspruches betreffend eine Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld als unbegründet abgewiesen.

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurden, in Bestätigung des Bescheides der belangten Behörde vom 17. Juni 2016, Anträge des Revisionswerbers auf Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz (fallbezogen in Form von 1. Ersatz von Verdienstentgang, 2. Ersatz der Selbstbehalte im Rahmen der Heilfürsorge, 3. Zahnersatz und Brille im Wege der orthopädischen Versorgung und 4. Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld) gemäß (u.a.) § 1 Abs. 1 iVm §§ 3 bis 5, 6a und 10 Verbrechensopfergesetz (VOG) abgewiesen.

Gleichzeitig wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG unzulässig sei.

2 In der Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, der im Jahr 1967 geborene Revisionswerber habe seine Anträge (zusammengefasst) darauf gestützt, dass er in den Jahren 1979 bis 1983 in einem näher bezeichneten Heim untergebracht und sowohl dort als auch in einer sozialpädagogischen Wohngruppe und überdies von Seiten eines ehemaligen Schuldirektors und eines ehemaligen Pfarrers Opfer psychischer, physischer und sexueller Gewalt geworden sei.

3 Nach ausführlicher Wiedergabe des Verfahrensgeschehens stellte das Verwaltungsgericht als entscheidungswesentlichen Sachverhalt fest, die Ausbildung des Revisionswerbers erschöpfe sich in der Absolvierung des (seinerzeitigen) B‑Zuges der Hauptschule, seine alleinerziehende Mutter sei mit seiner Erziehung überfordert gewesen und habe den Revisionswerber von 1979 bis 1983 in besagtem Kinderheim untergebracht. Dort sei er Opfer psychischer, physischer und sexueller Gewalt der dortigen Erzieher gewesen (u.a. durch Schlagen, Einsperren in einer Truhe oder im Schrank, stundenlanges Stehen im nassen Pyjama auf dem kalten Flur, Hungern, usw.).

4 Hingegen könnten die behaupteten Übergriffe durch den ehemaligen Schuldirektor, den ehemaligen Pfarrer und Übergriffe in der sozialpädagogischen Wohngruppe nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden.

5 Im Zeitraum 1983 bis 1985 sei der Revisionswerber Lehrling bei fünf verschiedenen Arbeitgebern gewesen, danach habe er zahlreiche Beschäftigungen ausgeübt, die jeweils kaum länger als einige Monate, oft auch nur einige Tage gedauert hätten. Seit dem Jahr 2001 beziehe er eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit.

6 Der Revisionswerber, der von 2001 bis 2005 in nervenfachärztlicher Behandlung gewesen sei, leide aktuell unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, dissozialen und paranoiden Anteilen.

7 Nach Ansicht des Verwaltungsgerichts könne nicht mit der nach dem VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden, dass die festgestellte Gesundheitsschädigung durch die genannte, dem Revisionswerber widerfahrene Gewalt, also durch eine vorsätzlich begangene, mit mehr als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedrohte Handlung verursacht worden sei.

8 Es könne weiters kein verbrechenskausaler Verdienstentgang festgestellt werden und ebenso wenig, dass die Notwendigkeit einer Brille bzw. die Notwendigkeit von Zahnimplantaten auf die festgestellten Misshandlungen im Heim zurückgeführt werden könnten.

9 In der Beweiswürdigung verwies das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf ein von der belangten Behörde und ein weiteres vom Verwaltungsgericht eingeholtes psychiatrisches Gutachten. In beiden Gutachten, die als schlüssig zugrunde gelegt wurden, seien die Sachverständigen zu dem Ergebnis gelangt, dass der Revisionswerber zwar an der genannten Persönlichkeitsstörung leide. Diese könne jedoch nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die genannten Misshandlungen zurückgeführt werden, weil beim Revisionswerber schon vor seiner Heimunterbringung erzieherische Probleme und Verhaltensauffälligkeiten bestanden hätten, die keinen vorübergehenden reaktiven Charakter gehabt, sondern vielmehr fortbestanden hätten.

10 Die beim Revisionswerber vorliegende Arbeitsunfähigkeit sei zwar durch die kombinierte Persönlichkeitsstörung verursacht, doch seien, so das Verwaltungsgericht weiter, für letztere die in Rede stehenden Misshandlungen des Revisionswerbers nicht mit Wahrscheinlichkeit als kausal anzusehen.

11 Die Abweisung der begehrten Hilfeleistung in Form einer Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld gemäß § 6a VOG begründete das Verwaltungsgericht mit § 16 Abs. 10 leg. cit., der eine solche Pauschalentschädigung nur für nach dem 31. Mai 2009 begangene Handlungen iSd. § 1 Abs. 1 VOG vorsehe.

12 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe nach Ansicht des Verwaltungsgerichts vor dem Hintergrund des § 24 VwGVG entfallen können, weil dem angefochtenen Erkenntnis die vom Revisionswerber „behaupteten Misshandlungen ... zu Grunde gelegt“ worden seien und weil der maßgebende Sachverhalt durch die beiden psychiatrischen Gutachten, die vollständig und schlüssig und vom Revisionswerber nicht in Zweifel gezogen worden seien, hinreichend geklärt sei.

13 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu der die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

15 Das Verbrechensopfergesetz, BGBl. Nr. 288/1972 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 105/2019 (VOG), lautet auszugsweise:

„Kreis der Anspruchsberechtigten

§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine zum Entscheidungszeitpunkt mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben oder

...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre Erwerbsfähigkeit gemindert ist.

...

Hilfeleistungen

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1. Ersatz des Verdienst‑ oder Unterhaltsentganges;

2. Heilfürsorge

a) ärztliche Hilfe,

b) Heilmittel,

c) Heilbehelfe,

...

4. medizinische Rehabilitation

...

b) ärztliche Hilfe, Heilmittel und Heilbehelfe, wenn diese Leistungen unmittelbar im Anschluß oder im Zusammenhang mit der unter lit. a angeführten Maßnahme erforderlich sind,

...

10. Pauschalentschädigung für Schmerzengeld.

...

Inkrafttreten

§ 16.

...

(10) ... § 6a ist auf Handlungen im Sinne des § 1 Abs. 1 anzuwenden, die nach dem 31. Mai 2009 begangen wurden.

...“

16 Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend geltend macht, dass das Verwaltungsgericht seine Verhandlungspflicht missachtet hat. Sie ist aus dem besagten Grund hinsichtlich wesentlicher Teile des angefochtenen Erkenntnisses auch begründet:

17 Was zunächst die begehrte Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz in Form einer Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld betrifft, so ist die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass dieser Anspruch schon im Hinblick auf § 16 Abs. 10 VOG abzuweisen sei, weil der Revisionswerber vor dem 31. Mai 2009 erfolgte Misshandlungen geltend gemacht habe, nicht zu beanstanden und wird von der Revision auch nicht konkret bekämpft.

18 Insoweit war die Revision daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen.

19 Die Abweisung der übrigen Ansprüche begründete das Verwaltungsgericht im Kern damit, dass die vom Revisionswerber behaupteten Misshandlungen (soweit sie vom Verwaltungsgericht als gegeben festgestellt wurden) nicht mit Wahrscheinlichkeit die Ursache seiner Persönlichkeitsstörung (und damit seiner Arbeitsunfähigkeit) darstellten. Zu dieser Rechtsansicht gelangte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen auf der Grundlage zweier psychiatrischer Gutachten und meinte, dass durch diese die Sachlage bereits hinreichend geklärt sei (§ 24 Abs. 4 VwGVG).

20 Damit setzte sich das Verwaltungsgericht über die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinweg:

Gegenständlich hat der Revisionswerber hinsichtlich der Zuerkennung von Hilfeleistung nach dem VOG nicht nur in der Beschwerde, sondern auch danach (vgl. die Beschwerdeergänzung vom 29. Mai 2017 sowie den Aktenvermerk des Verwaltungsgerichts vom 3. Juni 2019 und den Schriftsatz des Revisionswerbers vom 5. August 2020) die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

Jedenfalls der vom Revisionswerber begehrte Ersatz von Verdienstentgang stellt ein „civil right“ dar, sodass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung schon unter dem Gesichtspunkt des Art. 6 EMRK iVm § 24 Abs. 4 VwGVG geboten war (vgl. VwGH 27.4.2015, Ra 2015/11/0004, mit Bezugnahme u.a. auf die Rechtsprechung des EGMR, daran anknüpfend aus vielen VwGH 30.9.2020, Ra 2020/11/0034).

21 Abgesehen davon kann keine Rede davon sein, dass gegenständlich die Tatbestandsvoraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG, nach der eine mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, erfüllt ist.

22 Wenn das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis (S. 52) nämlich meint, es habe seiner Entscheidung ohnedies die vom Revisionswerber behaupteten Misshandlungen zugrunde gelegt, so stellt es sich damit in Widerspruch zu seinen eigenen Feststellungen (S. 40), wonach ein wesentlicher Teil der behaupteten Misshandlungen (in der sozialen Wohngruppe, durch den ehemaligen Schuldirektor und durch den ehemaligen Pfarrer) vom Verwaltungsgericht nicht habe festgestellt werden können.

23 Auch der Umstand, dass das Verwaltungsgericht ein ergänzendes Gutachten eingeholt hat, zeigt, dass nicht von einem geklärten Sachverhalt gesprochen werden kann.

24 Das Verwaltungsgericht hat gegenständlich somit die sich aus der ständigen hg. Rechtsprechung ergebende Verhandlungspflicht, die in Angelegenheiten des VOG grundsätzlich besteht (vgl. neben dem zitierten Erkenntnis VwGH 27.4.2015, Ra 2015/11/0004, etwa auch VwGH 23.11.2017, Ra 2016/11/0160, VwGH 18.5.2020, Ra 2018/11/0104, und das bereits erwähnte Erkenntnis VwGH 30.9.2020, Ra 2020/11/0034) unter mehreren Gesichtspunkten verkannt.

25 Das angefochtene Erkenntnis war daher (abgesehen von der bereits erwähnten Entscheidung betreffend eine Pauschalentschädigung für Schmerzensgeld) wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

26 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. November 2020

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