VwGH Ra 2020/01/0295

VwGHRa 2020/01/029511.1.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Juli 2020, Zl. W279 2176070‑1/23E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: H A in L), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
SMG 1997

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020010295.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich der Spruchpunkte A.II. und A.III. betreffend die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 2 AsylG 2005, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 3. Jänner 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit Bescheid vom 29. September 2017 diesen Antrag ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Der Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

4 Während des laufenden Beschwerdeverfahrens erfolgten zwei strafgerichtliche Verurteilungen des Mitbeteiligten. Mit Urteil des Bezirksgerichts Linz vom 11. Dezember 2017 wurde er wegen des Vergehens des versuchten Diebstahls gemäß §§ 15127 StGB rechtskräftig zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von drei Wochen verurteilt. Mit Urteil des Landesgerichts Linz vom 19. April 2018 wurde der Mitbeteiligte wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten Raubes gemäß §§ 142 Abs. 1, 15 StGB sowie der Vergehen des Diebstahls nach § 127 StGB, der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB und der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB unter Anwendung des § 19 Abs. 1 JGG zu einer Freiheitsstrafe von 20 Monaten rechtskräftig verurteilt. Die Probezeit in Bezug auf die erste Verurteilung wurde auf fünf Jahre verlängert.

5 Mit Bescheid des BFA vom 17. Juli 2019 wurde festgestellt, dass der Mitbeteiligte gemäß § 13 Abs. 2 Z 1 AsylG 2005 sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet ab dem 8. Februar 2018 verloren habe. Das diesen Bescheid behebende Erkenntnis des BVwG vom 3. September 2019 wurde mit hg. Erkenntnis vom 10. September 2020, Ro 2019/20/0006, wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufgehoben.

6 Die gegen den erwähnten Bescheid des BFA vom 29. September 2017 erhobene Beschwerde wies das BVwG ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 30. Juli 2020 hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet ab. Im Übrigen gab das BVwG der Beschwerde statt, stellte fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und erteilte dem Mitbeteiligten gemäß § 55 Abs. 2 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung“ für die Dauer von zwölf Monaten. Zudem sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

7 Begründend führte das BVwG ‑ soweit für die Behandlung der vorliegenden Amtsrevision relevant ‑ aus, der Mitbeteiligte sei der Vater einer im März 2020 geborenen deutschen Staatsangehörigen und führe eine Beziehung mit der deutschen Kindesmutter. Er sei mehrfach strafgerichtlich verurteilt worden und habe von 8. Februar 2018 bis 22. März 2019 eine Haftstrafe verbüßt. Er habe Deutschkurse besucht, spreche aber relativ schlecht Deutsch. Der Mitbeteiligte nehme an Erste‑Hilfe‑ und Theaterkursen sowie Anti‑Gewalt‑Trainings teil, sei Mitglied eines Sportvereins gewesen und habe freiwillig in einer Flüchtlingsbetreuungseinrichtung gearbeitet.

8 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, eine Rückkehrentscheidung führe zu einer maßgeblichen Einschränkung des Kontakts zur Tochter und Lebensgefährtin des Mitbeteiligten, die als deutsche Staatsangehörige zum Aufenthalt in Österreich berechtigt seien. Die Aufrechterhaltung des Kontakts durch moderne Kommunikationsmittel und wechselseitige Besuche sei nicht ausreichend. Zwar sei der Mitbeteiligte strafgerichtlich in Erscheinung getreten, er versuche jedoch seit der Geburt seiner Tochter ein anderes Leben zu führen. Der Mitbeteiligte, der um eine Integration und Ausbildung in Österreich bemüht sei, sei im Jahr 2015 nach Österreich eingereist und habe sich während des gesamten Aufenthaltes seines unsicheren Aufenthaltes bewusst sein müssen. Die Interessen des Mitbeteiligten an der Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens würden die öffentlichen Interessen überwiegen, weshalb eine Rückkehrentscheidung unzulässig sei.

9 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit unter Zitierung näher genannter Rechtsprechung zusammengefasst vorbringt, dass im vorliegenden Fall dem öffentlichen Interesse ein sehr großes Gewicht zukomme, weil der Mitbeteiligte wiederholt gewalttägig gewesen sei und sich fremdes Eigentum angeeignet habe, was in einem Raub gegipfelt sei, bei dem das Opfer verletzt worden sei. Die Integration des Mitbeteiligten sei nicht „außergewöhnlich“ im Sinne der Rechtsprechung.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision beantragte ‑ erwogen:

11 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. für viele etwa VwGH 27.2.2020, Ra 2019/01/0471, mwN).

13 Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. erneut VwGH Ra 2019/01/0471, mwN).

14 Dies ist aus folgenden Erwägungen vorliegend der Fall:

15 Soweit der Mitbeteiligte das erwähnte Familienleben ins Treffen führt, trifft es insbesondere zu, dass es notwendig ist, sich bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl auseinanderzusetzen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Judikatur eine Trennung von Familienangehörigen, mit denen ein gemeinsames Familienleben im Herkunftsland nicht zumutbar ist, im Ergebnis allerdings dann für gerechtfertigt erachtet, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie dies insbesondere bei Straffälligkeit des Fremden (oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regeln über den Familiennachzug) der Fall ist. Insbesondere schwerwiegende kriminelle Handlungen, aus denen sich eine vom Fremden ausgehende Gefährdung ergibt, können die Erlassung einer Rückkehrentscheidung daher auch dann tragen, wenn diese zu einer Trennung von Familienangehörigen führt (vgl. etwa VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0359, mwN; 8.4.2020, Ra 2020/14/0108).

16 Im vorliegenden Fall rügt die Amtsrevision im Ergebnis zu Recht, dass aus dem Hinweis des BVwG, der Mitbeteiligte „versuche“ seit der Geburt seiner Tochter ein anderes Leben zu führen, zeige Reue und meide den Kontakt „zu alten Bekannten“, nicht nachvollziehbar dargelegt werde, dass sich angesichts der schwerwiegenden kriminellen Handlungen des Mitbeteiligten, die sich gegen die körperliche Unversehrtheit und fremdes Eigentum richteten, keine von diesem ausgehende Gefährdung ergebe. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass das BVwG neben den genannten strafgerichtlichen Verurteilungen auch eine verwaltungsbehördliche Bestrafung des Mitbeteiligten wegen eines früheren aggressiven Verhaltens festgestellt hat (Strafverfügung vom 11. August 2017 gemäß § 81 SPG wegen Teilnahme an einer Massenschlägerei von irakischen und afghanischen Asylwerbern, bei der die Asylwerber mit Fäusten aufeinander eingeschlagen und sich mit Füßen getreten haben).

17 Im Hinblick auf die sonstigen, vom BVwG festgestellten Integrationsbemühungen des Mitbeteiligten ist ‑ in Übereinstimmung mit der Amtsrevision ‑ darauf hinzuweisen, dass damit im vorliegenden Fall nicht eine solche Verdichtung der persönlichen Interessen des Mitbeteiligten dargetan wird, dass bereits von „außergewöhnlichen Umständen“ im Sinne der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und ihm schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste (vgl. etwa VwGH 6.4.2020, Ra 2019/01/0428, mwN). Angesichts der mehrfachen Straffälligkeit des Mitbeteiligten ist vielmehr das Gegenteil der Fall (vgl. auch den erwähnten Bescheid des BFA vom 17. Juli 2019, wonach der Mitbeteiligte sein Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren hat).

18 Schließlich ist es maßgeblich relativierend, wenn ‑ wie hier ‑ die wesentlichen Umstände des Privat- und Familienlebens in einem Zeitraum entstanden sind, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. auch dazu VwGH Ra 2019/01/0428, mwN).

19 Indem das BVwG die genannten Aspekte nicht (hinreichend) berücksichtigt hat, hat es im vorliegenden Fall das öffentliche Interesse an einem geordneten Fremdenwesen gegenüber den festgestellten privaten und familiären Interessen des Mitbeteiligten nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet und dadurch seinen Anwendungsspielraum überschritten.

20 Das Erkenntnis war deshalb im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 11. Jänner 2021

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte