VwGH Ra 2019/19/0289

VwGHRa 2019/19/028923.10.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juli 2019, W115 2174937- 1/13E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: M N, vertreten durch Dr. Benno Wageneder, Rechtsanwalt in 4910 Ried/Innkreis, Promenade 3), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190289.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seines Spruchpunktes A) II. (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels), wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 10. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. 2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag mit Bescheid vom 20. September 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten teilweise als unbegründet ab (Spruchpunkt A) I.). Es stellte im Übrigen in Abänderung des Bescheides des BFA fest, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 für die Dauer von 12 Monaten erteilt werde (Spruchpunkt A) II.). Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt (Spruchpunkt B).

4 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Seine Familienangehörigen seien weiterhin in Afghanistan aufhältig. Der Mitbeteiligte habe in Österreich mehrere Sprachkurse besucht und eine Prüfung über Kenntnisse der deutschen Sprache auf dem Niveau B1 bestanden. Er habe einen Pflichtschulabschluss erworben und befinde sich seit dem 15. März 2018 in einem Lehrverhältnis als Tischler. Die erste Klasse der Berufsschule habe er positiv abgeschlossen. Seinen Lebensunterhalt bestreite er durch die Lehrlingsentschädigung, die die monatliche Geringfügigkeitsgrenze nach § 5 Abs. 2 ASVG überschreite. Der Mitbeteiligte sei strafrechtlich unbescholten, Mitglied in einem Fußballverein und unterhalte freundschaftliche Kontakte zu österreichischen Staatsbürgern.

5 Aufgrund des sich daraus ergebenden Grades der Integration des Mitbeteiligten sei nach § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei. Es sei daher von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten zu erteilen. Die Voraussetzungen der Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 lägen unter Berücksichtigung des vom Mitbeteiligten erzielten Einkommens vor.

6 Gegen den Spruchpunkt A) II. des angefochtenen Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Die Revision führt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung aus, das Bundesverwaltungsgericht sei von der (näher dargestellten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der bei Rückkehrentscheidungen im Sinn des Art. 8 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung abgewichen. Eine außergewöhnliche Konstellation, in der trotz des erst etwa vierjährigen Aufenthaltes des Mitbeteiligten in Österreich von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung durch die privaten Interessen des Mitbeteiligten an einem Verbleib im Inland auszugehen wäre, liege nicht vor.

8 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und berechtigt.

9 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 2.9.2019, Ra 2019/20/0407, mwN).

10 Es entspricht - wie die Revision zutreffend aufzeigt - der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. etwa VwGH 5.6.2019, Ra 2019/18/0078; 15.3.2016, Ra 2016/19/0031; jeweils mwN).

11 Die Aufenthaltsdauer nach § 9 Abs. 2 Z 1 BFA-VG ist allerdings nur eines von mehreren im Zuge der Interessenabwägung zu berücksichtigenden Kriterien, weshalb auch nicht gesagt werden kann, dass bei Unterschreiten einer bestimmten Mindestdauer des Aufenthalts in Österreich jedenfalls von einem deutlichen Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber den gegenteiligen privaten Interessen auszugehen ist. Liegt - wie im vorliegenden Fall - eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vor, so wird nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes jedoch regelmäßig erwartet, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären und einen entsprechenden Aufenthaltstitel zu rechtfertigen (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0212, mwN).

12 In seinem Erkenntnis vom 28. Februar 2019, Ro 2019/01/0003, hat der Verwaltungsgerichtshof zusammengefasst ausgeführt, dass die Berücksichtigung einer Lehre beziehungsweise einer Berufsausübung als öffentliches Interesse zugunsten des Fremden unzulässig ist und es maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitraum gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste. Auf die nähere Begründung dieser Entscheidung wird gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen.

13 Die Amtsrevision zeigt in Zusammenhang mit dem erst etwa vierjährigen Aufenthalt des Mitbeteiligten im Bundesgebiet zutreffend auf, dass gegenständlich nicht von einer solchen Verdichtung seiner persönlichen Interessen auszugehen ist, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden kann, sodass schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste. Das BVwG hat insbesondere dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, zu wenig Beachtung geschenkt. Die Interessenabwägung des BVwG erweist sich daher als unvertretbar (vgl. zu ähnlichen Konstellationen VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0212; 18.9.2019, Ra 2019/18/0189; 10.04.2019, Ra 2019/18/0058; 10.4.2019, Ra 2019/18/0049; 5.6.2019, Ra 2019/18/0078; 2.9.2019, Ra 2019/01/0088; 27.6.2019, Ra 2019/14/0142).

14 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 23. Oktober 2019

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte