VwGH Ra 2019/19/0150

VwGHRa 2019/19/01502.8.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in den Revisionssachen 1. des M Z E, 2. der N N,

3. des M E, und 4. der N E, alle vertreten durch Mag. Robert Bitsche, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Nikolsdorfergasse 7-11/15, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. Februar 2019, W210 2189808-1/19E, W210 2189813-1/18E, W210 2189801-1/21E und W210 2189809-1/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
B-VG Art133 Abs4
MRK Art2
MRK Art3
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190150.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans. Sie stellten am 20. August 2015 in Österreich Anträge auf internationalen Schutz. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern des im Jahr 1999 geborenen - daher im Zeitpunkt der Erlassung des in Revision gezogenen Erkenntnisses volljährigen - Drittrevisionswerbers und der im Jahr 2005 geborenen, minderjährigen Viertrevisionswerberin.

2 Mit Bescheiden vom 20. Februar 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge jeweils zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass die Abschiebung der revisionswerbenden Parteien nach Afghanistan zulässig sei, und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest.

3 Mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach jeweils aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Das Fluchtvorbringen der revisionswerbenden Parteien - eine Verfolgung durch einen persönlichen Feind des Erstrevisionswerbers bzw. die Annahme eines "westlich" orientierten Lebensstils durch die Zweit- und die Viertrevisionswerberin - erachtete das BVwG nicht als glaubhaft bzw. als nicht gegeben. Es stellte fest, dass die revisionswerbenden Parteien aus Kabul stammten, wo sie über ein soziales bzw. familiäres Netzwerk verfügten und ihre Familie Eigentümer eines Hauses sei. Unter Berücksichtigung der getroffenen Feststellungen zur Sicherheits- und Versorgungslage in Kabul, des Bestehens eines familiären Netzwerkes, von dem vor Ort Unterstützung zu erwarten sei, sowie der Arbeitsfähigkeit der erwachsenen männlichen Familienmitglieder erachtete das BVwG eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK durch eine Rückkehr der revisionswerbenden Parteien nach Kabul nicht als gegeben.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen. 7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen. 8 In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit zunächst vorgebracht, das BVwG habe sich mit der "westlichen Orientierung" der Zweitrevisionswerberin und der Viertrevisionswerberin nicht ausreichend auseinandergesetzt bzw. die Beweisergebnisse in unvertretbarer Weise gewürdigt. Entgegen den Feststellungen sei von den beiden Revisionswerberinnen ein Lebensstil angenommen worden, der in ihrem Herkunftsstaat aufgrund der "traditionalistisch-religiösen Auffassungen" nicht aufrechterhalten werden könnte.

9 Dazu ist zunächst darauf zu verweisen, dass nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat - aufgrund deshalb drohender Verfolgung - nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 23.1.2019, Ra 2018/18/0447, mwN).

10 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 10.9.2018, Ra 2018/19/0416, mwN). Das BVwG hat sich im vorliegenden Fall mit der Lebensweise der Revisionswerberinnen in Österreich - ausgehend von ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung - auseinandergesetzt und ist auf dieser Grundlage zum Ergebnis gelangt, dass von ihnen kein Lebensstil angenommen worden sei, der einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Eine Unvertretbarkeit dieser Erwägungen vermag die Revision nicht aufzuzeigen.

11 Die Revision wendet sich unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung weiters gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und bringt vor, das BVwG habe sich nicht ausreichend mit den persönlichen Umständen der revisionswerbenden Parteien auseinandergesetzt und sei daher zu Unrecht zum Ergebnis gelangt, dass die revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland eine ausreichende Lebensgrundlage vorfinden würden. Insbesondere habe das Bundesverwaltungsgericht der besonderen Vulnerabilität der minderjährigen Viertrevisionswerberin keine ausreichende Beachtung geschenkt.

12 Bei der von der Revision damit angesprochenen Beurteilung ist eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen. Eine solche einzelfallbezogene Beurteilung ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 29.5.2019, Ra 2019/20/0043).

13 Eine besondere Vulnerabilität - etwa aufgrund von Minderjährigkeit - ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung mit der Situation, die eine solche Person bei ihrer Rückkehr vorfindet (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336, mwN).

14 Im vorliegenden Fall hat das BVwG eine solche Auseinandersetzung - entgegen der Revision - vorgenommen. Es hat seiner Beurteilung dabei zu Grunde gelegt, dass Kabul der Herkunftsort der revisionswerbenden Parteien sei, wogegen sich die Revision nicht wendet. Hinsichtlich der konkreten Lage, in der sich die revisionswerbenden Parteien im Fall einer Rückkehr nach Kabul befinden würden, hat das BVwG insbesondere dem Umstand Bedeutung beigemessen, dass die revisionswerbenden Parteien in Kabul über ein familiäres bzw. soziales Netz verfügten bzw. von ihrer in Kabul aufhältigen Familie Unterstützung erhalten und sich gegenseitig unterstützen könnten. Auch mit dem in der Revision angesprochenen Vorbringen, dass dem Drittrevisionswerber und der Viertrevisionswerberin die örtlichen Verhältnisse in Kabul nicht bzw. nicht mehr vertraut seien, hat sich das BVwG beschäftigt und dazu darauf verwiesen, dass sie durch die Sozialisierung in ihrer afghanischen Familie mit der afghanischen Kultur vertraut seien und die Landessprache beherrschten, weshalb eine Integration in die afghanische Gesellschaft bei Rückkehr im Familienverband jedenfalls möglich sei. Hinsichtlich der Viertrevisionswerberin hat sich das BVwG auch mit den sie als Minderjährige speziell treffenden Risiken - insbesondere unter Berücksichtigung der Ausführungen des UNHCR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018 zu für Kinder bestehenden Risikoprofilen - auseinandergesetzt. Es ist jedoch davon ausgegangen, dass unter Berücksichtigung der Einbindung in den Familienverband diese Risiken bei der Viertrevisionswerberin nicht gegeben seien. 15 Eine Unvertretbarkeit der auf dieser Grundlage erfolgten Beurteilung des BVwG, es bestehe keine reale Gefahr, dass die revisionswerbenden Parteien - insbesondere auch die Viertrevisionswerberin - in Kabul keine Lebensgrundlage vorfinden könnten, vermag die Revision nicht aufzuzeigen. Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass durch eine schwierige Lebenssituation im Fall einer Rückführung in den Herkunftsstaat in Bezug auf die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung des Art. 3 EMRK im Sinn der obigen Grundsätze nicht dargetan wird (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2018/19/0217).

16 Wenn die Revision zur Begründung ihrer Zulässigkeit - allerdings ohne jede Konkretisierung - schließlich vorbringt, die Rückkehrentscheidungen stellten unverhältnismäßige Eingriffe in die Rechte der revisionswerbenden Parteien nach Art. 8 EMRK dar, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel ist (vgl. etwa VwGH 29.4.2019, Ra 2019/20/0175, mwN). Eine solche Unvertretbarkeit der Beurteilung des BVwG legt die Revision nicht dar.

17 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren zurückzuweisen. Wien, am 2. August 2019

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