VwGH Ra 2019/15/0125

VwGHRa 2019/15/012530.6.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zorn und die Hofräte Mag. Novak und Dr. Sutter sowie die Hofrätinnen Dr.in Lachmayer und Dr.in Wiesinger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Engenhart, über die Revision des A Z in B, vertreten durch die LeitnerLeitner GmbH Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in 4040 Linz, Ottensheimer Straße 32, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 27. Juni 2019, Zl. RV/6100269/2012, betreffend Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich Umsatzsteuer 2007 sowie Umsatzsteuer 2007, zu Recht erkannt:

Normen

BAO §20
BAO §303 Abs1
BAO §303 Abs1 litb
UStG 1994 Anh Art20
UStG 1994 Anh Art20 Abs1
UStG 1994 Anh Art7 Abs4
UStG 1994 §20

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2019150125.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die Umsatzsteuer 2007 betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Im Übrigen (somit hinsichtlich der Wiederaufnahme des Verfahrens) wird die Revision als unbegründet abgewiesen.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber erwarb im März 2007 ein Fahrzeug der gehobenen Preisklasse und gab gegenüber dem österreichischen Händler folgende Erklärung ab:

„Ich /Wir versichern hiermit, die angeführte Lieferung in den u.g. Mitgliedstaat der europäischen Gemeinschaft zu befördern und dort der Erwerbsbesteuerung zu unterwerfen.

Sollte die aufgeführte Leistung nicht in den u.g. EU‑Mitgliedsstaat befördert werden, werde ich die Firma [...] hiervon sofort unterrichten.

Ich verpflichte mich ferner, in diesem Falle der Firma [...] den Nachweis der Erwerbsbesteuerung in einem anderen EU‑Mitgliedsstaat zuzusenden oder den Ausfuhrnachweis aus der EU zu erbringen. Sofern die Lieferung Österreich nicht verlässt, erhöht sich der Kaufpreis um die gesetzliche Umsatzsteuer, die dann nachträglich gezahlt wird.

Ich bestätige hiermit den mängelfreien Empfang des Fahrzeuges.

Ich versichere darüber hinaus, dass ich den PKW in Deutschland für unternehmerische Zwecke verwende.“

2 Der Händler ging vom Vorliegen einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung an den Revisionswerber nach Deutschland aus.

3 Im Rahmen einer die Jahre 2003 bis 2006 und den Nachschauzeitraum Jänner bis November 2007 umfassenden Außenprüfung beim Revisionswerber stellte der Prüfer u.a. fest, der Revisionswerber habe im gegenständlich relevanten Zeitraum über einen Hauptwohnsitz in Österreich verfügt. Er sei verheiratet, lebe mit seiner Familie in Österreich und betreibe hier ein Einzelunternehmen. Seine Ehefrau führe in Österreich eine Apotheke und die Tochter studiere an einer österreichischen Universität. In Deutschland verfüge der Revisionswerber über eine Steuernummer, unter der ‑ laut Mitteilung der deutschen Steuerbehörden ‑ nur die Fahrzeugeinzelbesteuerung des gegenständlichen Fahrzeugs erfolgt sei. Es sei davon auszugehen, dass sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Revisionswerbers und der dauernde Standort des gegenständlichen Fahrzeugs in Österreich befinde.

4 Das Finanzamt schrieb dem Revisionswerber mit Bescheid über die Festsetzung der Umsatzsteuer für den Erwerb neuer Fahrzeuge (Fahrzeugeinzelbesteuerung nach Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 iVm Art. 1 Abs. 7 UStG 1994) vom 9. April 2008 für das gegenständliche Fahrzeug Umsatzsteuer und einen Verspätungszuschlag nach § 135 BAO vor. Zur Begründung verwies es auf die Niederschrift über die Außenprüfung, wonach das gegenständliche Fahrzeug von einem österreichischen Lieferanten steuerfrei erworben worden sei. Auf der Rechnung vom 23. März 2007 sei der Revisionswerber mit einer deutschen Adresse und dem Bestimmungsland Deutschland angegeben, obwohl der dauernde Standort des Fahrzeugs eindeutig im Inland liege. Zur innergemeinschaftlichen Lieferung des Fahrzeugs von Österreich nach Deutschland sei auszuführen, dass im selben Moment ein innergemeinschaftliches Verbringen des (neuen) Fahrzeugs von Deutschland nach Österreich iSd Art. 1 Abs. 7 UStG 1994 zu unterstellen wäre. Der Vorgang wäre somit der Erwerbsbesteuerung in Österreich zu unterziehen.

5 Der Revisionswerber berief gegen den Bescheid vom 9. April 2008 und führte aus, das Fahrzeug sei unmittelbar nach dem Ankauf in Österreich an seinen Standort in Deutschland verbracht worden. Er habe die Umsatzsteuererklärung für die Fahrzeugeinzelbesteuerung beim zuständigen Finanzamt in Deutschland eingereicht und die mit Bescheid festgesetzte Umsatzsteuer fristgerecht bezahlt. Durch die Vorschreibung der österreichischen Umsatzsteuer komme es zu einer doppelten Belastung mit Umsatzsteuer in Deutschland und in Österreich. Im Übrigen wies der Revisionswerber darauf hin, dass ihm und seiner Ehefrau in Österreich zwei Kraftfahrzeuge zur Verfügung stünden und er auf die Verwendung des gegenständlichen in Deutschland stationierten Fahrzeugs für Fahrten in Österreich nicht angewiesen sei. Der deutsche Wohnsitz liege nicht im grenznahen Raum und das gegenständliche Fahrzeug werde nur sporadisch in Österreich verwendet. Das Fahrzeug werde privat verwendet, weshalb keine Aufzeichnungspflichten zu beachten seien und keine Nachweise ‑ wie etwa ein Fahrtenbuch ‑ vorgelegt werden könnten.

6 Die Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 7 UStG 1994 sei nicht nachvollziehbar, weil das Fahrzeug im Zuge der Lieferung von Österreich nach Deutschland gelangt sei und nicht umgekehrt. Bei der Lieferung neuer Fahrzeuge sei der Nachweis der Beförderung oder Versendung in das übrige Gemeinschaftsgebiet als erbracht anzusehen, wenn nachgewiesen werde, dass das Fahrzeug in einem anderen Mitgliedstaat amtlich zugelassen oder registriert worden sei. Im gegenständlichen Fall sei die Zulassung des Fahrzeugs in Deutschland nachgewiesen. Der Standort des Fahrzeugs habe sich bis zum 1. April 2008 in Deutschland befunden und das Fahrzeug sei dort bis zur Abmeldung am 12. Oktober 2007 zugelassen gewesen. Da das Fahrzeug erst als Gebrauchtfahrzeug iSd des Art. l Abs. 9 UStG 1994 am 1. April 2008 nach Österreich gelangt sei, sei keine Erwerbsbesteuerung durchzuführen.

7 Der unabhängige Finanzsenat wies die Berufung mit Berufungsentscheidung vom 20. April 2011 als unbegründet ab.

8 Gegen diese Berufungsentscheidung erhob der Revisionswerber Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, der das zur hg. Zl. 2011/15/0108 protokollierte Verfahren einstellte, nachdem der Revisionswerber aufgrund der Aufhebung des Berufungsbescheids gemäß § 300 BAO idF vor dem FVwGG 2012, BGBl. I Nr. 14/2013, durch den unabhängigen Finanzsenat klaglos gestellt worden war.

9 Das Finanzamt gab der ‑ aufgrund der Aufhebung der Berufungsentscheidung wieder unerledigten ‑ Berufung mit Berufungsvorentscheidung vom 7. Februar 2012 statt und hob den Bescheid vom 9. April 2008 betreffend die Fahrzeugeinzelbesteuerung ersatzlos auf.

10 Mit Vorhalten vom 7. Februar 2012 und 27. März 2012 forderte das Finanzamt den Revisionswerber auf, die Belege zu den in der Umsatzsteuererklärung 2007 geltend gemachten Vorsteuern vorzulegen und die betriebliche Veranlassung der 2007 geltend gemachten Reise- und Bewirtungsspesen sowie der Aufwendungen für Ski und Tennisschläger nachzuweisen.

11 Am 16. Mai 2012 verfügte das Finanzamt die Wiederaufnahme des Verfahrens hinsichtlich des (mit Bescheid vom 21. Oktober 2008 abgeschlossenen) Umsatzsteuerverfahrens 2007 und erließ einen neuen Umsatzsteuer Jahresbescheid 2007, in dem es den Abzug bestimmter näher bezeichneter Vorsteuern nicht zuließ und dem Revisionswerber zudem gemäß Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 die Umsatzsteuer für die Lieferung des gegenständlichen Fahrzeugs vorschrieb.

12 Zur Begründung der Wiederaufnahme des Verfahrens führte das Finanzamt im Wesentlichen aus, erst bei Prüfung der im Vorhalteverfahren vorgelegten Belege habe festgestellt werden können, dass bestimmte näher bezeichnete Vorsteuern zu Unrecht geltend gemacht worden seien.

13 In Bezug auf das gegenständliche Fahrzeug stellte das Finanzamt fest, der Mittelpunkt der Lebensinteressen und der Hauptwohnsitz des Revisionswerbers iSd Kraftfahrgesetzes 1967 befänden sich in Österreich. In Deutschland sei der Revisionswerber bei seinem Bruder gemeldet. Er habe dort weiters ein Büro, an dessen Adresse er ebenfalls gemeldet sei. Die Nutzung des Büros, das einem Bekannten gehöre, erfolge aufgrund einer mündliche Vereinbarung. Unter der Steuernummer des Revisionswerbers in Deutschland sei nur die Fahrzeugeinzelbesteuerung des gegenständlichen Fahrzeugs erfasst worden. Nachweise zu Standort und Nutzung des Fahrzeugs in Deutschland seien nicht vorgelegt worden. Der Revisionswerber habe die Verfügungsmacht über das Fahrzeug in Österreich erlangt (Abholfall) und das Fahrzeug werde auch hier verwendet. Die Voraussetzungen für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung lägen nicht vor, weil das Fahrzeug nicht in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet worden sei. Nachdem der Lieferant aber mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns gehandelt und die Lieferung aufgrund der unrichtigen Angaben des Revisionswerbers als steuerfrei behandelt habe, schulde der Revisionswerber die entgangene Steuer (Art. 7 Abs. 4 UStG 1994).

14 Der Revisionswerber erhob gegen die Bescheide vom 16. Mai 2012 Berufung (nunmehr Beschwerde) und führte zur Begründung aus, die Wiederaufnahme des Verfahrens sei mangels Hervorkommens neuer Tatsachen nicht zulässig, weil dem Finanzamt der entscheidungsrelevante Sachverhalt im Zeitpunkt der erstmaligen Bescheiderlassung vollständig bekannt gewesen sei und keine im bisherigen Verfahren noch nicht bekannten Tatsachen neu hervorgekommen seien. Das Finanzamt habe im Rahmen der amtswegigen Verfügung der Wiederaufnahme das ihm zukommende Ermessen missbraucht, indem es durch die neuerliche Prüfung eines bereits vollständig bekannten Sachverhalts gegen das Wiederholungsverbot gemäß § 148 Abs. 3 BAO verstoßen und die Wiederaufnahme nur vorgenommen habe, um über diesen Sachverhalt ‑ dessen rechtliche Beurteilung nicht mehr habe aufrecht erhalten werden können ‑ noch einmal mit einer nunmehr anderslautenden rechtlichen Begründung zu entscheiden.

15 Die Lieferung des gegenständlichen Fahrzeugs stelle ‑ entgegen dem vom Finanzamt vertretenen Standpunkt ‑ eine innergemeinschaftliche Lieferung dar, weil das Fahrzeug im Zuge der Lieferung von Österreich nach Deutschland transportiert und dort ‑ entsprechend der bereits beim Erwerb bestehenden Absicht ‑ vom Revisionswerber verwendet worden sei.

16 In einer Stellungnahme zur Beschwerde gaben das Finanzamt und der Prüfer an, Schwerpunkt der in der Beschwerde angezogenen Außenprüfung, die u.a. den Nachschauzeitraum Jänner bis November 2007 umfasst habe, sei die Normverbrauchsabgabe, die Kraftfahrzeugsteuer und die Umsatzsteuer betreffend zweier Fahrzeuge gewesen, die der Revisionswerber angeschafft habe. Die Abzugsfähigkeit diverser Vorsteuerbeträge sei erst im Vorhalteverfahren geprüft worden, das im Jahr 2012 durchgeführt worden sei.

17 Mit dem angefochtenen Erkenntnis, in dem eine Revision für nicht zulässig erklärt wurde, gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde keine Folge und führte zur Begründung aus, es sei überzeugt, dass der Prüfer im Rahmen der das Fahrzeug betreffenden Außenprüfung die hier maßgeblichen Belege hinsichtlich zu Unrecht geltend gemachter Vorsteuern nicht geprüft habe. Bei den vom Finanzamt genannten Wiederaufnahmegründen handle es sich somit um Tatsachen, die erst nach Erlassung des Umsatzsteuerbescheides für das Jahr 2007 vom 21. Oktober 2008 bekannt geworden seien und die überdies geeignet seien, einen im Spruch anderslautenden Bescheid herbeizuführen. Es liege ein Wiederaufnahmegrund vor.

18 Ziel einer amtswegigen Wiederaufnahme sei es, insgesamt ein rechtmäßiges Ergebnis zu erreichen. Nur bei Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen seien Verhältnismäßigkeitsüberlegungen ‑ insbesondere in Bezug auf das Ergebnis der neuen Sachentscheidung ‑ in die Ermessensentscheidung einzubeziehen. Als Folge der Wiederaufnahmegründe seien im neuen Umsatzsteuerbescheid 2007 Vorsteuern in Höhe von 746 € nicht mehr anerkannt worden. Dieser Betrag sei nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes weder absolut noch relativ geringfügig.

19 Die Außenprüfung habe, wie dies auch dem Revisionswerber mitgeteilt worden sei, nur die Überprüfung von Fahrzeugen beinhaltet. Dass der Betriebsprüfer im Rahmen dieser Prüfung, die u.a. den Zeitraum Jänner bis November 2007 umfasst habe, die hier maßgeblichen Belege nicht geprüft habe, stehe einer Wiederaufnahme des Verfahrens nicht entgegen. Es sei dem Finanzamt auch nicht verwehrt gewesen, den Umsatzsteuerjahresbescheid 2007 ‑ nach dem Ergehen der vorerst erklärungsgemäßen Veranlagung ‑ einer Überprüfung zu unterziehen. Die Erlassung des Fahrzeugeinzelbesteuerungsbescheides gemäß Art. 20 Abs. 2 und Art. 21 Abs. 2 iVm Art. 1 Abs. 7 UStG 1994 und dessen nachfolgende Aufhebung bewirke nicht, dass bei Erlassung des Umsatzsteuerbescheides 2007 eine „entschiedene Sache“ vorgelegen habe.

Bei Auslandssachverhalten treffe den Abgabepflichtigen eine erhöhte Mitwirkungspflicht. Zudem habe derjenige, der das Vorliegen ungewöhnlicher oder unwahrscheinlicher Verhältnisse behaupte, hierfür den Nachweis zu erbringen. Im vorliegenden Fall sei zu klären, ob das gegenständliche Fahrzeug nach Deutschland verbracht worden sei bzw. ob bereits beim Erwerb die Absicht bestanden habe, das Fahrzeug in Deutschland zu verwenden. Die vom Revisionswerber vorgelegten Unterlagen könnten als Indizien für einen umsatzsteuerlichen Standort des Fahrzeuges in Deutschland gewertet werden. Hinsichtlich der tatsächlichen Nutzung des Fahrzeugs in den Jahren 2007 und 2008, die das wichtigste Indiz betreffend die beim Erwerb vorgelegene Verwendungsabsicht wäre, gäbe es jedoch keine zweckdienlichen Nachweise. Die vorgelegte Bestätigung, dass das Fahrzeug in Deutschland garagiert worden sei, die Fahrzeugeinzelbesteuerung in Deutschland und die Mitteilung, dass der Revisionswerber in Österreich ein anderes Fahrzeug zur Verfügung gehabt habe, könnten bei Gesamtbetrachtung aller Umstände nicht als Nachweis dafür eingestuft werden, dass das gegenständliche Fahrzeug tatsächlich in Deutschland verwendet worden sei.

20 Hauptwohnsitz und Mittelpunkt der Lebensinteressen des Revisionswerbers hätten sich zum Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs unbestritten in Österreich befunden. Der Revisionswerber habe auch sein Einzelunternehmen in Österreich betrieben. Die deutsche Steuernummer habe nicht, wie von ihm angegeben, einen ruhend gemeldeten Betrieb, sondern lediglich die Fahrzeugeinzelbesteuerung des gegenständlichen Fahrzeugs betroffen. In Bezug auf die Mietwohnung des Revisionswerbers in Deutschland sei nichts bekannt. Der Revisionswerber habe nicht vorgebracht, dass diese zum Wohnen geeignet sei. Auch zu den dort befindlichen Büroräumlichkeiten und den etwaigen dortigen Aufenthalten habe er kein konkretes Vorbringen erstattet. Ob das gegenständliche Fahrzeug nach der Abholung beim Händler überhaupt nach Deutschland gebracht worden sei, könne dahingestellt bleiben. Selbst wenn das Fahrzeug zunächst nach Deutschland gebracht worden wäre, sei dies für die aufgezeigte Würdigung der Gesamtumstände nicht ausschlaggebend. Das Bundesfinanzgericht gehe aufgrund der dargelegten Umstände davon aus, dass der Revisionswerber im Zeitpunkt der Lieferung beabsichtigt habe, das Fahrzeug dauerhaft in Österreich zu verwenden.

21 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, in der zur Zulässigkeit vorgebracht wird, das angefochtene Erkenntnis weiche von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach die Wiederaufnahme nur Änderungen von Bescheidelementen des wiederaufgenommenen Verfahrens ermögliche, weil im wiederaufgenommenen Verfahren auch der Erwerb des gegenständlichen Fahrzeugs, das sich nicht im Betriebsvermögen, sondern im Privatvermögen des Revisionswerbers befinde, berücksichtigt worden sei. Das Bundesfinanzgericht habe im Rahmen seines die Frage der Wiederaufnahme betreffenden Ermessens weder das Missverhältnis zwischen der Bedeutung des Wiederaufnahmegrundes und der sich insgesamt ergebenden Auswirkungen, noch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine Wiederaufnahme nicht den Zweck haben dürfe, allfällige Versäumnisse einer Partei im Verwaltungsverfahren zu sanieren, berücksichtigt. Weiters sei die in Art. 7 Abs. 4 UStG normierte Steuerschuld unionsrechtlich nicht gedeckt und das Vorbringen des Revisionswerbers im Rahmen der Beweiswürdigung des Bundesfinanzgerichtes sei nicht hinreichend gewürdigt worden.

22 Das Finanzamt hat nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung erstattet.

23 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

24 Die Revision ist zulässig und, soweit sie die Umsatzsteuer 2007 betrifft, auch begründet.

25 Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 idF BGBl. Nr. 663/1994 lautet:

„(4) Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach Abs. 1 nicht vorliegen, so ist die Lieferung dennoch als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. In diesem Fall schuldet der Abnehmer die entgangene Steuer. In Abholfällen hat der Unternehmer die Identität des Abholenden festzuhalten.“

26 Art. 20 UStG 1994 in der für das Streitjahr geltenden Fassung BGBl. I Nr. 180/2004 lautet:

„Art. 20. (1) Bei der Berechnung der Steuer ist die Summe der Umsätze gem. Art. 1 Abs. 1, für welche die Steuerschuld im Laufe eines Veranlagungszeitraumes entstanden ist, zu berücksichtigen. Dem ermittelten Betrag sind die nach Art. 7 Abs. 4 zweiter Satz geschuldeten Beträge hinzuzurechnen.

(2) Beim innergemeinschaftlichen Erwerb neuer Fahrzeuge durch andere Erwerber als die in Art. 1 Abs. 2 Z 2 genannten Personen ist die Steuer für jeden einzelnen steuerpflichtigen Erwerb zu berechnen (Fahrzeugeinzelbesteuerung).“

27 Gemäß der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes führt die Wiederaufnahme des Verfahrens stets zur gänzlichen Beseitigung des früheren Bescheides, der das nunmehr wiederaufgenommene Verfahren zum Abschluss brachte. Dies hat zur Folge, dass dann, wenn aufgrund irgendeiner neu hervorgekommenen Tatsache die Wiederaufnahme des Verfahrens zulässig war, im wiederaufgenommenen Verfahren auch eine Änderung der übrigen Bescheidgrundlagen und Bescheidelemente erfolgen kann, hinsichtlich der das Vorliegen von neuen Tatsachen und Beweismitteln nicht gegeben ist (vgl. VwGH 4.3.2009, 2006/15/079).

28 In der Revision wird ausgeführt, die Wiederaufnahme habe nur das Einzelunternehmen des Revisionswerbers betroffen. Das gegenständliche Fahrzeug befinde sich jedoch im Privatvermögen des Revisionswerbers, sodass dessen Erwerb kein Bescheidelement des wiederaufgenommenen Verfahrens darstellen könne.

29 Hierzu ist zunächst auszuführen, dass die Steuerschuld gemäß Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 eine Umsatzsteuerschuld eigener Art darstellt, die Unternehmer und Nichtunternehmer treffen kann (vgl. Ruppe/Achatz, UStG5, Art. 20 Rz 2; Plank, ÖStZ 2007, 307).

30 Beim Unternehmer ist die gesamte in einen Veranlagungszeitraum fallende Umsatzsteuer ‑ so nicht eine ausdrücklich gesetzliche Ausnahme normiert ist ‑ einheitlich im Umsatzsteuerbescheid festzusetzen. Welche Vorgänge im Umsatzsteuerbescheid zu erfassen sind, ergibt sich aus § 20 und Art. 20 Abs. 1 UStG 1994. Beim Unternehmer ist ‑ wie sich das aus Art. 20 Abs. 1 UStG 1994 ergibt ‑ auch die gemäß Art. 7 Abs. 4 geschuldete Steuer im Umsatzsteuerjahresbescheid vorzuschreiben (vgl. Ruppe/Achatz, UStG5, Art. 20 Rz 2; Melhardt in Melhardt/Tumpel, UStG², Art. 20 Tz 4). Dies gilt bei Erwerbern mit Unternehmereigenschaft auch dann, wenn der Gegenstand, dessen Erwerb die Steuer nach Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 auslöst, nicht für das Unternehmen verwendet wird.

31 Aus der ursprünglichen Erfassung eines innergemeinschaftlichen Erwerbs eines neuen Fahrzeugs iSd Art. 1 Abs. 7 UStG 1994 (Lieferung aus Deutschland) in einem vom Jahresumsatzsteuerbescheid für das Jahr 2007 abgesonderten Bescheid über die Fahrzeugeinzelbesteuerung kann in diesem Zusammenhang nichts gewonnen werden, weil beim innergemeinschaftliche Erwerb neuer Fahrzeuge in Art. 20 Abs. 2 iVm Art. 21 Abs. 2 UStG 1994 ausdrücklich eine (gesonderte) Fahrzeugeinzelbesteuerung vorgesehen ist. Der Bescheid betreffend die Fahrzeugeinzelbesteuerung ist mittlerweile aufgehobenen. Die streitgegenständliche Abgabenvorschreibung ist nicht auf Art. 1 Abs. 7 UStG 1994 gestützt.

32 Der Rüge, das Bundesfinanzgericht habe in Zusammenhang mit der Bestätigung der Wiederaufnahme nach § 303 BAO bei der Ausübung des Ermessens die Rechtslage verkannt, ist Folgendes zu entgegnen:

33 Gemäß § 303 Abs. 1 lit. b BAO kann ein durch Bescheid abgeschlossenes Verfahren von Amts wegen wiederaufgenommen werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel im Zeitpunkt der Bescheiderlassung bereits existierten, aber erst danach hervorgekommen sind (vgl. VwGH 26.11.2015, Ro 2014/15/0035).

34 Bei der amtswegigen Wiederaufnahme nach § 303 Abs. 4 BAO ist zwischen der Rechtsfrage, ob der Tatbestand einer Wiederaufnahme des Abgabenverfahrens gegeben ist, und der Frage der Durchführung der Wiederaufnahme, die im Ermessen der Behörde liegt, zu unterscheiden. Wenn die Rechtsfrage dahingehend geklärt ist, dass ein Wiederaufnahmegrund tatsächlich gegeben ist, hat die Behörde in Ausübung ihres Ermessens zu entscheiden, ob die Wiederaufnahme zu verfügen ist.

35 Dass Wiederaufnahmegründe hinsichtlich des Umsatzsteuerjahresbescheides 2007 im Revisionsfall vorliegen, wird in der Revision nicht bestritten. Strittig ist, ob die belangte Behörde ihr Ermessen dem Gesetz entsprechend geübt hat.

36 Gemäß § 20 BAO sind Ermessensentscheidungen innerhalb der vom Gesetz gezogenen Grenzen des Ermessens nach Billigkeit und Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände zu treffen. Dabei ist dem Begriff „Billigkeit“ die Bedeutung von Angemessenheit in Bezug auf berechtigte Interessen der Partei und dem Begriff „Zweckmäßigkeit“ das öffentliche Interesse, insbesondere an der Einhebung der Abgaben, beizumessen (vgl. wiederum VwGH 24.4.2014, 2010/15/0159, mwN).

37 Eine derartige Interessensabwägung spricht bei Geringfügigkeit der neu hervorgekommenen Tatsachen in der Regel gegen den Gebrauch der Wiederaufnahmemöglichkeit (VwGH 12.4.1994, 90/14/0044; vgl. zur Bescheidaufhebung nach § 299 BAO VwGH 28.5.1997, 94/13/0032). Die Geringfügigkeit ist ausgehend von den steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe (und nicht der steuerlichen Gesamtauswirkungen aus Änderungen infolge anderer rechtlicher Beurteilungen im Sachbescheid) zu beurteilen.

38 Im vorliegenden Fall haben die steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe 746 € betragen. Der Betrag dieser Änderung ist nicht mehr als (absolut) geringfügig anzusehen. Die Revision vermag daher nicht aufzuzeigen, dass die in Bezug auf die Wiederaufnahme vorzunehmende Ermessensübung nicht dem Gesetz entsprochen hätte. Die Revision erweist sich somit, soweit sie sich gegen die Wiederaufnahme des Verfahrens wendet, als unbegründet.

39 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes muss die Begründung eines Abgabenbescheides in einer Weise erfolgen, dass der Denkprozess, der in der behördlichen Erledigung seinen Niederschlag findet, sowohl für den Abgabepflichtigen als auch im Fall der Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes für diesen nachvollziehbar ist. Von zentraler Bedeutung ist dabei die zusammenhängende Darstellung des von der belangten Behörde festgestellten Sachverhaltes, den die belangte Behörde als Ergebnis ihrer ‑ nachvollziehbar dazustellenden ‑ Überlegungen zur Beweiswürdigung als erwiesen annimmt (vgl. z.B. VwGH 28.5.1997, 94/13/0200; und 20.1.2005, 2002/14/0116).

40 Nach Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 ist die von einem Unternehmer steuerfrei belassene Lieferung auch für den Fall, dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 UStG 1994 nicht vorliegen, als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. Weitere Rechtsfolge des Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 ist es, dass der Abnehmer die auf die Lieferung entfallende Steuer schuldet.

41 Die Steuerschuld des Abnehmers nach Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 setzt demnach voraus, dass der Abnehmer gegenüber dem Lieferanten falsche Angaben gemacht hat, aufgrund welcher der Lieferant von einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung ausgehen konnte, und dass der Lieferant die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.

42 Das Bundesfinanzgericht ging im angefochtenen Erkenntnis ‑ dem Finanzamt folgend ‑ davon aus, dass die Voraussetzungen für eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung nicht vorlägen, weil das Fahrzeug nicht in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet worden sei. Der Lieferant habe mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns gehandelt und die Lieferung (nur) aufgrund der unrichtigen Angaben des Revisionswerbers als steuerfrei behandelt. Deshalb schulde der Revisionswerber die entgangene Steuer nach Art. 7 Abs. 4 UStG 1994.

43 Feststellungen, welche konkreten Angaben des Revisionswerbers gegenüber dem Lieferanten unrichtig gewesen sind und zudem dazu geführt haben, dass der Lieferant den Umsatz als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung behandeln konnte, sowie eine nachvollziehbare Begründung dafür, warum der Lieferant auch bei sorgfältiger Überprüfung dieser Angaben nicht habe erkennen können, dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 UStG 1994 nicht vorliegen, enthält das angefochtene Erkenntnis indessen nicht. Erst aufgrund solcher Feststellungen kann beurteilt werden, ob der Revisionswerber aufgrund der Bestimmung des Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 Steuerschuldner geworden ist.

44 Dem Verwaltungsakt ist zu entnehmen, dass der Revisionswerber in der eingangs wiedergegebenen Erklärung unter anderem angegeben hat, er werde das gegenständliche Fahrzeug in Deutschland für unternehmerische Zwecke verwenden. Sollte darin die Unrichtigkeit der Angaben des Revisionswerbers gelegen sein, wäre zu prüfen, ob der Lieferant die Unternehmereigenschaft des Revisionswerbers (insbesondere durch Überprüfung einer deutschen UID‑Nummer) und den Erwerb für das Unternehmen geprüft hat.

45 Damit kann aber nicht abschließend beurteilt werden, ob der Lieferant bei entsprechender Sorgfalt nicht doch hätte erkennen können, dass die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 UStG 1994 nicht vorliegen. Es ist auch nicht beurteilbar, ob die Bestimmung des Art. 7 Abs. 4 UStG 1994 ‑ deren unionsrechtliche Deckung in der Revision in Zweifel gezogen wird ‑ im vorliegenden Fall überhaupt zum Tragen kommt.

46 Das angefochtene Erkenntnis erweist sich daher, soweit es Umsatzsteuer 2007 betrifft, als mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben war.

47 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 30. Juni 2021

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