VwGH Ra 2018/21/0108

VwGHRa 2018/21/010825.9.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der Z B, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 4. Mai 2018, Zl. W171 1434451- 2/13E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Festsetzung einer Ausreisefrist und Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
FrPolG 2005 §52 Abs9;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018210108.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die 1983 geborene Revisionswerberin, eine aus Tschetschenien stammende russische Staatsangehörige, reiste am 19. Juli 2012 in das Bundesgebiet ein und beantragte am Tag darauf die Gewährung von internationalem Schutz.

2 Das Bundesasylamt wies diesen Antrag mit Bescheid vom 26. März 2013 zur Gänze ab und verfügte die Ausweisung der Revisionswerberin in die Russische Föderation. Die von ihr dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 1. Dezember 2014, Asyl und subsidiären Schutz betreffend, als unbegründet ab. Im Übrigen verwies das BVwG gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 "das Verfahren" zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zurück.

3 Mit Bescheid vom 28. April 2015 sprach das BFA sodann aus, dass der Revisionswerberin ein Aufenthaltstitel gemäß den §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Unter einem wurde gegen sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Russland zulässig sei. Schließlich setzte das BFA die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung (am 21. Februar 2018) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 4. Mai 2018 als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5 Begründend verwies das BVwG - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung - darauf, dass die im Herkunftsstaat als Erzieherin und Verkäuferin tätig gewesene unbescholtene Revisionswerberin nach dem Scheitern ihres Asylantrages in Österreich verblieben und bisher, von ehrenamtlichen Hilfsdiensten abgesehen, nicht berufstätig gewesen sei. Sie lebe von der Grundversorgung. Hier habe sie Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 erworben. Nennenswerte Sozialkontakte, außer zu Asylwerbern, seien nicht entstanden. Sie sei im Oktober 2015 mit dem russischen Asylwerber E., der in aufrechter zweiter Ehe mit einer ukrainischen Staatsbürgerin verheiratet sei, eine Lebensgemeinschaft eingegangen und habe mit ihm eine am 24. Februar 2017 geborene Tochter. Deren Asylverfahren sowie das des E. seien noch offen.

Die (im Einzelnen näher dargestellten) Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels lägen nicht vor. Die - in der Beschwerde vor allem hervorgehobene - Haushaltsgemeinschaft mit dem russischen Lebensgefährten sei erst im Oktober 2015 begründet worden, als der Revisionswerberin die Unsicherheit ihres Aufenthalts jedenfalls bewusst gewesen sei. Auch müsse eine Rückkehr keine Trennung von der Tochter bedeuten, da keine Hinweise vorlägen, dass diese die Revisionswerberin nicht in die Russische Föderation begleiten könnte. Der Kontakt der Revisionswerberin zum Lebensgefährten könnte telefonisch oder über E-Mail aufrechterhalten werden. Eine Ausreise würde die Revisionswerberin daher nicht zwingen, ihre privaten Bindungen zum Lebensgefährten und zur Tochter zur Gänze aufzugeben. Bei der Tochter, die Asyl oder subsidiären Schutz allenfalls von ihrem Vater ableiten könne, handle es sich im Übrigen um ein entsprechend anpassungsfähiges Kleinkind, das außer zur Kernfamilie noch keinerlei Sozialkontakte aufgebaut habe.

Darüber hinaus hielten sich in Österreich zwei Tanten und ein Onkel der Revisionswerberin auf, zu denen allerdings nur sporadischer Kontakt bestehe; ausgeprägte Beziehungen oder ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis fehlten dagegen. Im Herkunftsstaat lebten insbesondere ihre Mutter, eine Schwester, eine Tante und die Großeltern. Sie verfüge über starke Bindungen zum Herkunftsstaat, habe dort den Großteil ihres Lebens verbracht, die Sozialisierung erfahren und beherrsche Tschetschenisch und Russisch. Nach dem Schul- und Universitätsabschluss (Russischstudium) sowie ihrer Berufstätigkeit sei sie auch mit dem dortigen Arbeitsmarkt vertraut. Eine Wiedereingliederung im Herkunftsstaat sei zu erwarten. Insgesamt sei nicht von einem Überwiegen der privaten Interessen der Revisionswerberin gegenüber dem hohen öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen auszugehen.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

7 Die Revision erweist sich - wie in ihrer Zulässigkeitsbegründung im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird - deshalb als zulässig und berechtigt, weil das BVwG in Bezug auf die für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 gleichermaßen wie für die Erlassung der Rückkehrentscheidung maßgebliche (zum diesbezüglichen inhaltlichen Gleichklang vgl. etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 8, mwN) Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist.

8 Bei der Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK vorliegen bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. grundlegend VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101, Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, mwN).

9 Das BVwG stellte bei seiner Interessenabwägung in den Vordergrund, dass das Eingehen der gegenständlichen Lebensgemeinschaft sowie die Geburt der gemeinsamen Tochter (am 24. Februar 2017) in den Zeitraum nach dem rechtskräftigen Scheitern des Asylbegehrens der Revisionswerberin und nach Erlassung der erstinstanzlichen Rückkehrentscheidung fallen. Das Bewusstsein des somit unsicheren Aufenthaltsstatus schließe ein Vertrauen darauf aus, das gemeinsame Familienleben künftig in Österreich gestalten zu können.

10 Das BVwG ging somit in seiner Abwägung zwar der Sache nach von einem Eingriff in das Recht auf Familienleben der Revisionswerberin aus, es gelangte jedoch zu dem Ergebnis, dass das Interesse der Revisionswerberin an der Aufrechterhaltung des familiären Kontakts zu ihrem Lebensgefährten und zu ihrer minderjährigen, am 24. Februar 2017 geborenen Tochter dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens unterzuordnen sei.

11 Dabei geht das BVwG aber selbst davon aus, dass dem Lebensgefährten der Revisionswerberin derzeit eine gemeinsame Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zumutbar ist. Im Hinblick darauf führte die gegenständliche Rückkehrentscheidung zwangsläufig zu einer Trennung der Tochter von Mutter oder Vater, was in jedem Fall eine maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls darstellt. Kontakte der Revisionswerberin zum Lebensgefährten über Telefon oder E-Mail können das nicht wettmachen (siehe dazu VfGH 19.6.2015, E 426/2015, Punkt II.2.2. der Entscheidungsgründe, und zuletzt VfGH 26.6.2018, E 1791/2018, Punkt III.2. der Entscheidungsgründe). Das hat das BVwG nicht ausreichend beachtet.

12 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

13 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 5 VwGG abgesehen werden.

14 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. September 2018

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