VwGH Ra 2018/11/0104

VwGHRa 2018/11/010418.5.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Schick und den Hofrat Dr. Grünstäudl sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Vitecek, über die Revision des Sozialministeriumservice (Landesstelle Wien), vertreten durch die Finanzprokuratur in Wien, Singerstraße 17-19, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. März 2018, Zl. W228 2113603- 1/9E, betreffend Ersatzleistung nach dem VOG (mitbeteiligte Partei: U L in W), zu Recht erkannt:

Normen

VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §28 Abs3

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2018110104.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Das Kostenersatzbegehren der revisionswerbenden Partei wird abgewiesen.

Begründung

1 Mit Bescheid der belangten Behörde (Revisionswerberin) vom 21. Juli 2015 wurde der Antrag der Mitbeteiligten auf Gewährung von Ersatzleistungen infolge Verdienstentgangs gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 4 sowie § 10 Abs. 1 des Verbrechensopfergesetzes (VOG) abgewiesen.

2 Dagegen erhob die Mitbeteiligte Beschwerde.

3 Mit dem angefochtenen Beschluss wurde der Bescheid behoben,

die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Revisionswerberin zurückverwiesen (Spruchpunkt A) und gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig sei (Spruchpunkt B).

Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, der angefochtene Bescheid erweise sich in Bezug auf den zu ermittelnden Sachverhalt als grob mangelhaft: Die belangte Behörde verkenne die Rechtslage, wenn sie ausführe, dass zum vorgebrachten sexuellen Missbrauch des Stiefvaters der Mitbeteiligten und den Vorkommnissen in der Kinderübernahmestelle und den Heimen B, N, R und K keine Feststellungen getroffen hätten werden können, da lediglich die Aussagen der Mitbeteiligten vorlägen, ohne dass weitere objektivierbare Unterlagen beigebracht worden seien. Die belangte Behörde verkenne dabei, dass die Angaben der Mitbeteiligten diesbezüglich widerspruchsfrei seien und daher ohne Darlegung von begründeten Zweifeln an der Richtigkeit dieser Angaben eine Feststellung entsprechend den Angaben der Mitbeteiligten hätte erfolgen müssen. Im Bescheid komme die belangte Behörde zum Ergebnis, dass die neurologischen Gesundheitsschädigungen der Mitbeteiligten mit der für das VOG erforderlichen Wahrscheinlichkeit als kausal angesehen und die Heimerlebnisse auch als wesentliche Ursache für diese Gesundheitsschädigung betrachtet werden könnten - dieser Beurteilung sei zu folgen. Die belangte Behörde verneine jedoch die Beeinflussung des maßgeblichen Werdegangs der Mitbeteiligten durch die Misshandlungen und Missbrauchserlebnisse in der Kindheit vor dem Jahr 2012, was vor allem auf die Krankenstandserhebungen bei der Wiener Gebietskrankenkasse, die Angaben im ärztlichen Gutachten der Pensionsversicherungsanstalt sowie die Angaben der Mitbeteiligten im Verfahren gestützt worden sei. Die belangte Behörde übersehe dabei jedoch, dass der Mitbeteiligten durch die Vorfälle in ihrer Kindheit ein höherer Abschluss als ein Sonderschulabschluss verwehrt geblieben sei. Festzuhalten sei auch, dass ohne die schädigenden Ereignisse in der Kindheit ein späteres Auslösen der Symptome der Mitbeteiligten durch mediale Berichterstattung oder Einvernahme der Mitbeteiligten in anderen Verfahren nicht möglich gewesen wäre. Somit trete die endgültig auslösende Ursache jedoch in den Hintergrund zur ursprünglichen Ursache. Hinsichtlich der Berechnung des Verdienstentgangs sei auf ein fiktives Einkommen abzustellen. Dabei wäre jene Berufslaufbahn zugrunde zu legen, die ohne die schädigenden Umstände eingetreten wäre. Im gegenständlichen Fall sei davon auszugehen, dass die Mitbeteiligte ohne die Ereignisse in ihrer Kindheit eine Ausbildung als Friseurin abgeschlossen und als angestellte Friseurin gearbeitet hätte. Die Zugrundelegung dieses Berufes ergebe sich aus mehreren (näher angeführten) Aufzeichnungen im Akt. Somit hätte die belangte Behörde das Verhältnis der Pensionshöhe zum fiktiven Gehaltsverlauf einer angestellten Friseurin zu berechnen bzw. zu vergleichen und allenfalls Zahlungen zu gewähren gehabt, soweit der Verdienstentgang die Pensionshöhe übersteige. Das Vorbringen, dass die Mitbeteiligte Journalistin geworden wäre, könne diesen Berechnungen jedoch nicht zugrunde gelegt werden, da diese Berufswahl nicht objektivierbar sei.

Es sei somit davon auszugehen, dass die belangte Behörde "notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes" unterlassen habe und sich der festgestellte Sachverhalt als nicht ausreichend zur Beurteilung erweise, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Ersatzleistungen infolge Verdienstentgangs vorliegen, sodass weitere Ermittlungen und konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erschienen.

4 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende unter Anschluss der Verfahrensakten vorgelegte außerordentliche Amtsrevision mit dem Antrag, die mitbeteiligte Partei "zum Ersatz des gesetzlichen Aufwandersatzes von EUR 922,- (ohne Barauslagen und ohne USt)" zu verpflichten. Die Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

In der Revision wird unter anderem vorgebracht, das Verwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zur Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG abgewichen (Verweis auf VwGH 26.6.2014, Ro 2014/03/0063).

 

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

6 Die Revision ist zulässig und begründet.

7 Nach der mittlerweile ständigen, vom hg. Erkenntnis vom 26. Juni 2014, Ro 2014/03/0063, ausgehenden hg. Rechtsprechung zur Zulässigkeit bzw. Unzulässigkeit einer Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG, stellt die Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar. Nach dem damit gebotenen Verständnis steht diese Möglichkeit bezüglich ihrer Voraussetzungen nicht auf derselben Stufe wie die im ersten Satz des § 28 Abs. 3 VwGVG verankerte grundsätzliche meritorische Entscheidungskompetenz der Verwaltungsgerichte. Vielmehr verlangt das in § 28 VwGVG insgesamt normierte System, in dem insbesondere die normative Zielsetzung der Verfahrensbeschleunigung bzw. der Berücksichtigung einer angemessenen Verfahrensdauer ihren Ausdruck findet, dass von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht wird. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. VwGH 18.12.2019, Ra 2019/10/0119, mwN). Der Verwaltungsgerichtshof hat auch bereits wiederholt hervorgehoben, dass selbst Bescheide, die in der Begründung dürftig sind, keine Zurückverweisung der Sache rechtfertigen, wenn brauchbare Ermittlungsergebnisse vorliegen, die im Zusammenhalt mit einer (allenfalls) durchzuführenden Verhandlung zu vervollständigen sind (vgl. etwa VwGH 26.6.2019, Ra 2018/11/0092, mwN; zur Verhandlungspflicht in Verfahren nach dem VOG siehe VwGH 27.4.2015, Ra 2015/11/0004, mwN). 8 Im angefochtenen Beschluss werden entgegen der zitierten Judikatur keine Ermittlungslücken dargelegt, sondern die von der belangten Behörde erzielten Ermittlungsergebnisse lediglich einer anderen Würdigung unterzogen. So führt das Verwaltungsgericht etwa aus, dass der Sachverhalt im Sinne des Vorbringens der Mitbeteiligten festzustellen gewesen wäre. Auch sei das Vorbringen der Mitbeteiligten, dass sie ohne die Heimaufenthalte Friseurin geworden wäre, zugrunde zu legen. Ausführungen dazu, welche Ermittlungsschritte von der Behörde noch durchzuführen wären, finden sich im angefochtenen Beschluss nicht. Ebensowenig wird konkret aufgezeigt, in welchen Punkten der Sachverhalt unvollständig erhoben worden sei. Der bloße Schluss des Verwaltungsgerichtes, dass die Ermittlungsergebnisse anders zu würdigen wären, vermag aber eine Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nicht zu rechtfertigen.

9 Der angefochtene Beschluss erweist sich daher schon aus diesem Grund mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war, ohne dass auf das Revisionsvorbringen zur überbundenen Rechtsansicht einzugehen war.

10 Die Kostenentscheidung beruht auf § 47 Abs. 4 VwGG.

Wien, am 18. Mai 2020

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