VwGH Ra 2018/08/0193

VwGHRa 2018/08/019314.11.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des H L in Wien, vertreten durch Mag. Martin Reihs, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Wiesengasse 23-25/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Juni 2018, Zl. W198 2163321-1/11E, betreffend Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Esteplatz), zu Recht erkannt:

Normen

AlVG 1977 §36 Abs5;
AlVG 1977 §79 Abs161;
AVG §37;
AVG §39 Abs2;
EGVG 2008 Art1 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §17;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018080193.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 1. Februar 2017 stellte die belangte Behörde (im Folgenden: AMS) fest, dass dem Revisionswerber an Notstandshilfe täglich vom 10. Juni bis 31. Juli 2016 EUR 9,70, vom 1. August bis 2. August 2016 EUR 11,14, vom 14. November bis 31. Dezember 2016 EUR 10,81 und ab dem 1. Jänner 2017 EUR 10,99 gebühre.

2 Der Revisionswerber erhob Beschwerde. Er wandte gegen die Berechnung der Notstandshilfe ein, vor ca. sechs Jahren sei bei ihm eine schwere Lungenerkrankung festgestellt worden (COPD II), die ihm monatliche Mehrkosten insbesondere an Rezeptgebühren von ca. EUR 40,-- bis EUR 50,-- verursachen würde. Das AMS habe von dieser Erkrankung gewusst, weil sich daraus die Notwendigkeit einer (unter Beteiligung des AMS erfolgten) Umschulung zum Masseur ergeben habe. Im Juli 2016 habe er einen Herzinfarkt erlitten. Dafür sei ihm ab August 2016 ein monatlicher Freibetrag von EUR 44,-- gewährt worden. Für seine schon davor bestehende Erkrankung sei aber nie ein Freibetrag gewährt worden. Er beantrage, ihm die Notstandshilfe ab dem 10. Juni 2016 in korrekter Höhe zuzuerkennen.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 11. Mai 2017 änderte das AMS den Ausgangsbescheid dahin ab, dass an täglicher Notstandshilfe vom 10. Juni bis 2. August 2016 EUR 11,66 und vom 14. November bis 31. Dezember 2016 EUR 13,01 gebühre.

4 Begründend wies das AMS ua darauf hin, dass der Revisionswerber in seinem Antrag auf Verlängerung der Notstandshilfe vom 10. Juni 2016 die Frage 14

"In meinem Haushalt liegen erhöhte Aufwendungen aus Anlass von Krankheit in der Familie, Schwangerschaft, Todesfall, Rückzahlungsverpflichtungen (z.B. Kredit), Hausstandsgründungen usw. vor",

- so wie in allen anderen bisherigen Notstandshilfeanträgen - mit "Nein" beantwortet habe. Nach krankheitsbedingter Unterbrechung seines Notstandshilfebezuges vom 3. August bis 13. November 2016 habe er in seinem Antrag vom 14. November 2016 die bereits geschilderte Frage 14 wiederum mit "Nein" beantwortet. Auf Grund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei ihm ab 1. Jänner 2017 eine Invaliditätspension zuerkannt worden.

5 In rechtlicher Hinsicht führte das AMS ua aus, selbst wenn die Mitarbeiter des AMS von den gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Revisionswerbers gewusst hätten, könne dies die wahrheitsgemäße Beantwortung der Fragen des Antragsformulars nicht ersetzen. Das AMS bearbeite zigtausende Anträge und müsse sich auf die Richtigkeit der Angaben verlassen können. Das Risiko einer falschen Auskunft sei vom Revisionswerber zu tragen. Selbst wenn der Revisionswerber die Frage 14 im Antragsformular missverstanden haben sollte, könne das AMS die eindeutigen Antworten zu seinen persönlichen Lebensumständen nicht anzweifeln. Der Revisionswerber habe erst beim Notstandshilfeantrag vom 14. November 2016 Unterlagen über seine Erkrankung vorgelegt und damit erhöhte Aufwendungen geltend gemacht. Er könne daher auch erst ab 14. November 2016 eine weitere Freigrenze in Höhe von EUR 44,-- in Anspruch nehmen.

6 Der Revisionswerber stellte einen Vorlageantrag, in dem er nochmals auf seine seit Jahren bestehende schwere Lungenerkrankung hinwies, von der das AMS Kenntnis gehabt habe. Unter Heranziehung des korrekten Partnereinkommens und unter Berücksichtigung eines zusätzlichen Freibetrags für seine schwere Lungenerkrankung würde sich ein deutlich höherer Notstandshilfetagsatz ergeben. Die Frage 14 des Antragsformulars beziehe sich auf erhöhte Aufwendungen durch Krankheit. Diese Frage habe er mit "Nein" beantwortet, weil er der Ansicht gewesen sei, dass keine erhöhten Aufwendungen vorlägen. Er würde die Rezeptgebühren bezahlen. Hätte das AMS danach gefragt, ob er an einer nachgewiesenen Krankheit leide, hätte er die Frage bejaht. Für den Zeitraum vom 10. Juni bis 2. August sowie vom 14. November bis 31. Dezember 2016 sei auf Grund seiner Lungenerkrankung eine Erhöhung der Freigrenzen vorzunehmen und das anrechenbare Partnereinkommen entsprechend zu reduzieren.

7 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Es führte begründend aus, der Revisionswerber habe zuletzt am 24. November 2016 die Zuerkennung von Notstandshilfe beantragt. Er sei verheiratet und wohne mit seiner Ehefrau und der am 28. Jänner 2001 geborenen Tochter im gemeinsamen Haushalt. Die Ehefrau des Revisionswerbers habe vom März 2016 bis Mai 2016 (Dreimonatsschnitt) ein Durchschnittseinkommen in Höhe von EUR 1.527,76 und von August bis Oktober 2016 (Dreimonatsschnitt) in Höhe von EUR 1.537,89 erzielt. Die Frage 14 im Antragsformular habe der Revisionswerber mit "Nein" beantwortet, so wie er dies in jedem Notstandshilfeantrag, den er seit dem Jahr 2009 gestellt habe, getan habe.

8 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, die ermittelten Freigrenzen, die vom Nettoeinkommen der Ehefrau abzuziehen seien, könnten auf Grund außergewöhnlicher finanzieller Belastung infolge von Krankheit, Schwangerschaft, Kosten im Zusammenhang mit der Niederkunft, eines Todesfalles sowie Rückzahlungsverpflichtungen infolge einer Hausstandsgründung um bis zu maximal 50 % erhöht werden, wobei Kreditraten zu höchstens 50 % der Ratenhöhe anzuerkennen seien. In allen Anträgen seit dem Jahr 2009 habe der Revisionswerber die Frage nach erhöhten Aufwendungen mit "Nein" beantwortet, so auch im November 2016. Er habe dem AMS zeitgleich mit der Antragstellung im November 2016 bekannt gegeben, dass er gesundheitliche Probleme habe. Hiefür habe er eine ärztliche Bestätigung vorgelegt. Ab 16. November 2016 sei daher auch eine Freigrenze von EUR 44,-- für die erhöhten Aufwendungen im Zusammenhang mit seiner Erkrankung (Herzinfarkt) zu gewähren. Dem Vorbringen des Revisionswerbers, wonach seine zweite Erkrankung, nämlich die Lungenerkrankung COPD II, ebenfalls bei der Ermittlung der Freigrenze zu berücksichtigen sei, sei entgegenzuhalten, dass er in jedem Notstandshilfeantrag, den er seit dem Jahr 2009 gestellt habe, die Frage nach erhöhten Aufwendungen verneint habe. Das AMS müsse sich auf seine Angaben im Antragsformular verlassen können. Das "Risiko eines Rechtsirrtums, aus dem ein Antragsteller meint, die im Antrag gestellten Fragen nicht vollständig oder richtig beantworten zu müssen", sei vom Revisionswerber zu tragen. Der Revisionswerber habe mit seiner Unterschrift die Wahrheit der im Antragsformular gemachten Angaben bestätigt und die daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen zur Kenntnis genommen.

9 Die Revision sei gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig. Das Verwaltungsgericht habe sich auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen können.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Das AMS hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der es die Abweisung der Revision beantragt.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das in Revision gezogene Erkenntnis weiche von der Kernaussage des vom Verwaltungsgericht zitierten Erkenntnisses des VwGH 22.2.2012, 2009/08/0251, ab. Die Kernaussage bedeute im Umkehrschluss, nicht der Revisionswerber, sondern das AMS habe das Risiko eines Rechtsirrtums bei der Ausfüllung des Antragsformulars zu vertreten. Das AMS habe die Fragestellungen abweichend von den klaren gesetzlichen Bestimmungen textiert, wodurch die für die Anspruchsbemessung erheblichen Umstände nicht abgefragt würden. Dies sei in dieser Klarheit noch nicht ausgesprochen worden. Im Jahr 2016 habe das AMS insgesamt 1,038.602 Kunden betreut, wobei in allen diesen Fällen das bundeseinheitliche Antragsformular zu Grunde gelegt worden sei. Die ungeschickte und vom Gesetzeswortlaut abweichende Textierung der Frage 14 liege all diesen Fällen zu Grunde und sei geeignet, die meist rechtsunkundigen Versicherten durch die nicht nur unnötig verwirrende, sondern auch klar rechtsunrichtige Textierung der Fragestellung davon abzuhalten, die ihnen zustehenden Ansprüche zu erhalten.

12 Die vom Verwaltungsgericht angewendete Judikatur betreffend die Rückforderung auf Grund unwahrer Angaben gemäß § 25 AlVG betreffe das Verschweigen von Umständen, die sich für den Versicherten ungünstig auswirken würden. Diese Rechtsprechung könne nicht auf das Vorenthalten einer Freigrenzenerhöhung, somit auf einen für den Versicherten günstigen Umstand, übertragen werden. § 25 AlVG beziehe sich nur auf Rückforderungen unrechtmäßig bezogener Leistungen und sei auf den Fall einer unrechtmäßig vorenthaltenen Leistung nicht übertragbar.

13 Die Revision ist aus dem letztgenannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

14 Gemäß § 46 Abs. 1 iVm § 33 Abs. 1 AlVG ist der Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw. Notstandshilfe bei der zuständigen regionalen Geschäftsstelle persönlich durch Übermittlung eines vollständig ausgefüllten Antragsformulars geltend zu machen. Wird der Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe anerkannt, so ist der bezugsberechtigten Person gemäß § 47 Abs. 1 AlVG eine Mitteilung auszustellen, aus der insbesondere Beginn, Ende und Höhe des Leistungsanspruchs hervorgehen.

15 Der Revisionswerber hat einen Bescheid über den Leistungsanspruch verlangt und das AMS hat einen solchen erlassen. Auf das behördliche Verfahren des AMS findet nach Art. I Abs. 2 Z 1 EGVG das AVG Anwendung. Gemäß § 37 AVG ist Zweck des Ermittlungsverfahrens, den für die Erledigung einer Verwaltungssache maßgebenden Sachverhalt festzustellen. Gemäß § 39 Abs. 2 AVG hat die Behörde, soweit die Verwaltungsvorschriften hierüber keine Anordnungen enthalten, von Amts wegen vorzugehen und unter Beobachtung der im AVG enthaltenen Vorschriften den Gang des Ermittlungsverfahrens zu bestimmen. In beiden Bestimmungen kommt zum Ausdruck, dass sowohl das Verfahren vor dem AMS als auch jenes vor dem Verwaltungsgericht (§ 17 VwGVG) vom Grundsatz der materiellen Wahrheit (Offizialprinzip) beherrscht wird.

16 Im vorliegenden Fall war strittig, ob die im § 36 Abs. 3 lit. B sublit. a AlVG genannten Freibeträge gemäß § 36 Abs. 5 AlVG idF vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 157/2017 im Rahmen der vom AMS festgelegten Richtlinien zu erhöhen sind. Das Gesetz stellt darauf ab, ob ein berücksichtigungswürdiger Fall, "wie z.B. Krankheit, Schwangerschaft, Niederkunft, Todesfall, Hausstandsgründung und dgl." vorliegt. Die darauf beruhende Richtlinie nennt in II.1. ausdrücklich "Krankheit des Leistungsbeziehers" als berücksichtigungswürdigen Umstand gemäß § 36 Abs. 5 AlVG.

17 Ob der Revisionswerber im gegenständlichen Zeitraum krank war, wie er zwar nicht schon in seinen Anträgen, jedoch im genannten Verfahren rechtzeitig und zulässig behauptet hat, hat das AMS bzw. das Verwaltungsgericht nach den Grundsätzen der Ermittlung der materiellen Wahrheit festzustellen. Die Ansicht des Verwaltungsgerichts, die (nicht in Zweifel gezogene) Krankheit des Revisionswerbers könne nicht berücksichtigt werden, weil er sie bei seinen Anträgen auf Zuerkennung der Notstandshilfe nicht erwähnt hat, beruht auf einer Verkennung des für die Bemessung der Leistung maßgeblichen Tatbestands des § 36 Abs. 5 idF vor dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 157/2017 iVm § 79 Abs. 161 AlVG, in dem von einem Inhalt eines Antrags keine Rede ist.

18 Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

19 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 14. November 2018

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