VwGH Ra 2017/20/0431

VwGHRa 2017/20/04315.12.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Honeder, über die Revision des S S in K, vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. Jänner 2017, Zl. W212 2132973-1/9E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

32013R0604 Dublin-III;
AsylG 2005 §5;
BFA-VG 2014 §21 Abs3;
BFA-VG 2014 §21 Abs6a;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017200431.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 23. Juli 2016, mit dem der Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz als unzulässig zurückgewiesen, Ungarn zur Prüfung des Antrags für zuständig erklärt sowie die Außerlandesbringung des Revisionswerbers angeordnet und festgestellt worden war, dass seine Abschiebung nach Ungarn zulässig sei, erhobene Beschwerde als unbegründet ab.

2 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, welcher deren Behandlung mit Beschluss vom 21. September 2017, E 464/2017, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Seinen Ablehnungsbeschluss begründete der Verfassungsgerichtshof hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC im Wesentlichen damit, dass das BVwG weder eine grundrechtswidrige Gesetzesauslegung vorgenommen habe noch dass ihm grobe Verfahrensfehler unterlaufen seien, die eine vom Verfassungsgerichtshof aufzugreifende Grundrechtsverletzung darstellten. Das BVwG habe sich im Rahmen der nach Art. 8 EMRK vorzunehmenden Interessenabwägung mit der Frage der Gefährdung des Revisionswerbers in seinen Rechten in einer Weise auseinandergesetzt, die den Schluss zulasse, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwögen.

3 Die vorliegende außerordentliche Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Relevanz des Umstands, dass ein Familienangehöriger bereits im Aufenthaltsstaat des Asylwerbers als Asylberechtigter anerkannt sei und der Asylwerber seine Fluchtgründe von diesem ableiten könne, im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit des Selbsteintritts nach Art. 17 Dublin III-VO abgewichen. Es fehle an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob der Umstand, dass ein Angehöriger eines Asylwerbers, der nicht unter die Definition eines Familienangehörigen iSd Art. 2 lit. g Dublin III-VO falle, bereits im derzeitigen Aufenthaltsstaat des Asylwerbers als Asylberechtigter anerkannt worden sei und der Asylwerber seine Fluchtgründe von diesem ableite, zum Selbsteintritt nach Art. 17 Dublin III-VO verpflichte, um insbesondere sicherzustellen, dass die Entscheidungen über die Anträge kohärent ausfielen und es zu keiner Trennung von Familienmitgliedern komme.

4 Zudem weiche das angefochtene Erkenntnis vom Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 8. September 2015, Ra 2015/18/0113- 0120, zur Widerlegung der Sicherheitsvermutung ab, zumal der Revisionswerber substantiierte Kritik an den Verhältnissen in Ungarn vorgebracht habe, sodass von einer solchen Widerlegung ausgegangen werden könne. Auch gehe das BVwG auf die in der Beschwerdeergänzung vorgebrachten Grundrechtsverletzungen, denen der Revisionswerber bei der Überstellung nach Ungarn ausgesetzt gewesen sei, und auf die vorgelegten Berichte, die ein anderes Bild von der Unterbringung und Versorgungssituation sowie der Menschenrechtslage in Ungarn zeichneten, nicht ein. Schließlich hätte das BVwG dementsprechend ein ergänzendes Ermittlungsverfahren und eine mündliche Verhandlung durchführen oder der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 6a iVm Abs. 3 BFA-VG stattgeben müssen (Verweis auf VwGH 30.6.2016, Ra 2016/19/0072).

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Der zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG 23- jährige Revisionswerber ist seiner in Österreich aufhältigen Mutter und seinen 15, 17 und 18 Jahre alten Geschwistern (ua.) über Ungarn, das für die Behandlung seines Antrages auf internationalen Schutz als zuständig angesehen wurde, nachgereist.

9 Bei Entscheidungen gemäß § 5 AsylG 2005 ist auch Art. 8 EMRK zu berücksichtigen. Bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschrift ist das in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung vorgesehene Selbsteintrittsrecht auszuüben (vgl. etwa VwGH 18.11.2015, Ra 2014/18/0139, mwN).

10 Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 16.2.2017, Ra 2017/01/0024, und 8.9.2016, Ra 2015/20/0296 bis 0299, jeweils mwN). Die Ausführungen des Revisionswerbers bieten keinen Anlass von dieser Rechtsprechung abzugehen. Sie legen auch kein besonderes Abhängigkeitsverhältnis im Hinblick auf die noch minderjährigen Geschwister des Revisionswerbers offen.

11 Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist im Allgemeinen, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgt und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wird, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. auch dazu VwGH 16.2.2017, Ra 2017/01/0024, sowie 11.10.2016, Ra 2016/01/0025, 0026, jeweils mwN).

12 Der Revisionswerber begründet die Unvertretbarkeit der vom BVwG durchgeführten Interessenabwägung damit, dass die unionsrechtlich vorgegebenen und in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aufgegriffenen Ziele der Wahrung der Familieneinheit und der Sicherstellung kohärenter Entscheidungen nicht berücksichtigt worden seien.

13 Soweit sich der Revisionswerber dazu auf die hg. Erkenntnisse vom 6. November 2009, 2008/19/0532, und vom 15. Dezember 2015, Ra 2015/18/0192-0195, beruft, ist er darauf hinzuweisen, dass die dortigen Konstellationen mit dem hier vorliegenden Fall nicht vergleichbar sind. Der dem hg. Erkenntnis vom 6. November 2009, 2008/19/0532, zugrundeliegende Fall betraf eine Asylwerberin, die mit einem in Österreich lebenden anerkannten Flüchtling verheiratet war, wobei sich gerade vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass zu erwarten ist, dass ein Asylwerber seine Fluchtgründe von jenen des - national bereits als Flüchtling anerkannten - Familienangehörigen ableiten könnte, die behördlichen Feststellungen und Überlegungen zur Interessenabwägung als unzureichend dargestellt haben. Im Fall des hg. Erkenntnisses vom 15. Dezember 2015 wiederum waren die Voraussetzungen für die Behandlung sämtlicher Anträge im Rahmen des Familienverfahrens nach § 34 AsylG 2005 erfüllt.

14 Weder das eine noch das andere liegt hier vor, sodass die in den genannten Erkenntnissen angestellten Überlegungen nicht auf den hier gegenständlichen Fall übertragbar sind. Anders als der Revisionswerber meint, hat aber auch in den damaligen Fällen kein für sich allein stehendes "unionsrechtliches Kohärenzkriterium" zum Erfolg der Rechtsmittel geführt, sondern es hat sich hinsichtlich der jeweiligen Beurteilung der Frage, ob das Selbsteintrittsrecht ausgeübt werden müsse, die von der Verwaltungsbehörde einzelfallbezogen durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK als mangelhaft dargestellt (vgl. dazu bereits VwGH 30.5.2017, Ra 2017/19/0143-0144).

15 Der Revisionswerber zeigt somit nicht auf, dass die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung, die im Übrigen auch der Überprüfung durch den Verfassungsgerichtshof unter dem auch hier maßgeblichen Blickwinkel des Art. 8 EMRK standhielt (vgl. VfGH 21.9.2017, E 464/2017-10), von der hierzu maßgeblichen Judikatur abgewichen wäre.

16 Die Revision führt unter Hinweis auf das Erkenntnis vom 8. September 2015, Ra 2015/18/0113-0120, aus, das BVwG weiche von dieser Rechtsprechung zur Widerlegung der Sicherheitsvermutung ab, weil der Revisionswerber in der Beschwerdeergänzung - untermauert durch den Hinweis auf aktuelle Länderberichte und Entscheidungen von Gerichten anderer Mitgliedstaaten - geltend gemacht habe, nach seiner erfolgten Überstellung nach Ungarn Grundrechtsverletzungen ausgesetzt gewesen zu sein. Damit habe der Revisionswerber Gründe glaubhaft gemacht, die zu einer Widerlegung der Sicherheitsvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 in Bezug auf Ungarn führten.

17 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 20. Juni 2017, Ra 2016/01/0153, unter Bezugnahme auf das o. a. Erkenntnis vom 8. September 2015 ausführlich mit der Bestimmung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 und dem diesbezüglichen unionsrechtlichen Hintergrund - insbesondere dem sich in der "Sicherheitsvermutung" des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 wiederfindenden Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zwischen den die Dublin III-Verordnung anwendenden Staaten - auseinandergesetzt. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen. Hervorzuheben ist im gegebenen Zusammenhang, dass demnach die Sicherheitsvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 nur durch eine schwerwiegende, etwa die hohe Schwelle des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC übersteigende allgemeine Änderung der Rechts- und Sachlage im zuständigen Mitgliedstaat widerlegt werden kann (Rn. 35 und 44 des zitierten Erkenntnisses vom 20.6.2017).

18 Die Revision vermag mit ihrem allgemein gehaltenen Vorbringen über Unzulänglichkeiten in der Unterbringungs- und Versorgungssituation für Asylsuchende in Ungarn, das sich auf einen Verweis auf eine Beschwerdeergänzung beschränkt, nicht aufzuzeigen, inwiefern eine im Sinne der obigen Ausführungen schwerwiegende Änderung der Rechts- und Sachlage in Ungarn eingetreten wäre.

19 Soweit die Revision eine ausreichende Auseinandersetzung mit dem Parteivorbringen zur Situation bzw. zur selbst erlebten Behandlung in Ungarn vermisst, ist der Revisionswerber darauf hinzuweisen, dass es nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht ausreicht, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der Verfahrensmängel in konkreter Weise darzulegen (vgl. etwa VwGH 10.4.2017, Ra 2017/01/0088).

20 Hinsichtlich der vom Revisionswerber vorgebrachten Verhandlungspflicht bzw. Beschwerdestattgebung ist auszuführen, dass diese im Dublin-Verfahren besonderen Verfahrensvorschriften (§ 21 Abs. 3 und Abs. 6a BFA-VG) folgt. Dass das BVwG von diesen besonderen Verfahrensvorschriften, die im Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/19/0072, ausgelegt worden sind, abgewichen wäre, legt die Revision nicht dar.

21 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.

Wien, am 5. Dezember 2017

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