Normen
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22;
AsylG 2005 §34 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;
Spruch:
Das erstangefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, die übrigen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerberinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Erstrevisionswerberin, eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, stellte gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen Töchtern am 12. September 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Sowohl bereits bei der am 13. September 2015 durchgeführten Erstbefragung als auch bei der niederschriftlichen Einvernahme am 20. April 2016 gab die Erstrevisionswerberin zentral an, dass sie Afghanistan nicht nur wegen des Krieges verlassen habe, sondern hauptsächlich deshalb, weil Frauen dort keine Rechte hätten und es Mädchen durch die Taliban untersagt sei, die Schule zu besuchen. Sie hingegen würde die Schule besuchen und selbstständig sein, auf eigenen Füßen stehen wollen. Sie wolle "keine Burka tragen und in Freiheit leben".
3 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diese Anträge jeweils mit Bescheid vom 29. April 2016 im Hinblick auf den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte den Revisionswerberinnen jedoch gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkte II. und III.).
4 Gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide erhoben die Revisionswerberinnen fristgerecht Beschwerde, in der unter anderem in Bezug auf die Erstrevisionswerberin vorbracht wurde, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund ihres Bildungswunsches sowie ihres selbstbewussten und selbstständigen Lebensstils in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.
5 In der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht führte die Erstrevisionswerberin ihr Vorbringen erneut aus. So würde sie in Österreich nie ein Kopftuch tragen, sie könne sich nach ihren Wünschen kleiden und könne sich - ohne Angst haben zu müssen - unter Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel frei bewegen. Sie habe die A1-Deutschprüfung absolviert und wolle "auf eigenen Beinen stehen und einen Job finden"; gerne würde sie als Krankenschwester arbeiten. Ihre Kinder sollten zur Schule gehen und nach Möglichkeit studieren können, sie sollten sich ihren Beruf selbst auswählen können.
6 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 24. April 2017 (fälschlich mit 24. Juli 2017 datiert) wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Begründend führte es im Wesentlichen aus, es liege kein Verfolgungsgrund im Sinne der GFK vor, insbesondere habe unter anderem nicht festgestellt werden können, dass die Erstrevisionswerberin seit ihrer Einreise in Österreich eine "westliche Lebensführung" angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revisionswerberinnen bringen zur Zulässigkeit ihrer Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der "westlichen Orientierung" abgewichen, habe dazu keine ausreichenden Feststellungen getroffen und sein Erkenntnis mit groben Begründungsmängeln behaftet.
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich in seinem Erkenntnis vom 22. März 2017, Ra 2016/18/0388, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 2. Satz VwGG verwiesen wird, mit der möglichen Asylrelevanz eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils auseinander gesetzt und dazu ausgeführt, dass konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen sei.
11 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben.
12 Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben.
13 Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 27.6.2016, Ra 2016/18/0055, oder VwGH 22.3.2017, Ra 2016/18/0267, jeweils mwN).
14 Im vorliegenden Fall wird das angefochtene Erkenntnis den dargestellten Leitlinien aus der höchstgerichtlichen Rechtsprechung in mehrfacher Weise nicht gerecht. Zum einen enthält das angefochtene Erkenntnis keine Feststellungen über die Lebensweise der Erstrevisionswerberin im Entscheidungszeitpunkt. Zum anderen setzt sich die auf die Verinnerlichung einer westlichen Lebensweise Bezug nehmende Beweiswürdigung nur mit einzelnen Teilaspekten (so dem nicht näher und damit nicht nachvollziehbar begründeten persönlichen Eindruck, den die Erstrevisionswerberin anlässlich der mündlichen Beschwerdeverhandlung hinterlassen habe, der Absolvierung eines Deutschkurses, der bloßen Hausfrauentätigkeit und der Ablegung des Kopftuches seit der Einreise in Österreich) auseinander, unterlässt jedoch jede Auseinandersetzung mit den damit in Zusammenhang stehenden Ausreisegründen der Erstrevisionswerberin. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht erhebliche Behauptungen begründungslos nicht in seine Beweiswürdigung miteinbezogen.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Erstrevisionswerberin infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
16 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die Zweit- und Drittrevisionswerberin als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. etwa VwGH 29.6.2015, Ra 2015/18/0031; 25.3.2015, Ra 2014/18/0153, mwN). Die sie betreffenden angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Jänner 2018
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