VwGH Ra 2017/19/0616

VwGHRa 2017/19/06165.4.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Pürgy als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. November 2017, Zl. W191 2138976- 1/14E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (Mitbeteiligter: A H in S), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190616.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in den Spruchpunkten A) II. und A) III. wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stammt aus der Provinz Ghazni. Er stellte am 29. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Mit Bescheid vom 17. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Mitbeteiligten sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Es erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 und § 9 BFA-Verfahrensgesetz eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und setzte die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde des Mitbeteiligten, soweit es die Frage der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten betraf, keine Folge (Spruchpunkt A) I.). Es erkannte dem Mitbeteiligten allerdings den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu (Spruchpunkt A) II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis zum 9. November 2018 (Spruchpunkt A) III.; eine Entscheidung über die Beschwerde gegen die übrigen Spruchpunkte des angefochtenen Bescheides traf das Verwaltungsgericht nicht). Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5 Das Bundesverwaltungsgericht ging - zusammengefasst und soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - davon aus, die Heimatprovinz des Mitbeteiligten zähle zu den "volatilen Provinzen" in Afghanistan. Aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage sei - wie schon zuvor das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl festgehalten habe - davon auszugehen, dass die reale Gefahr bestehe, der Mitbeteiligte werde im Fall der Rückkehr in diese Provinz einer Verletzung der ihm nach Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte ausgesetzt sein.

Beim Mitbeteiligten handle es sich um einen arbeitsfähigen, gesunden und jungen Mann, der über eine mehrjährige Schulbildung und Berufserfahrung als Landarbeiter verfüge. Es könne bei ihm auch die "grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben" vorausgesetzt werden. Dennoch könne - so das Bundesverwaltungsgericht bei seinen Überlegungen zu einer allfälligen innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschlossen werden, dass der Mitbeteiligte im Fall der Rückkehr nach Afghanistan nicht einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK ausgesetzt sein werde. Er wäre nämlich im Fall der Rückkehr vorerst auf sich alleine gestellt. Sein Vater - ein Landarbeiter - sei krank. Sein Onkel, der Bauarbeiter sei, halte sich im Iran auf. Diese seien nicht in der Lage, den Mitbeteiligten zu unterstützen. Daher lägen im gegenständlichen Fall besondere Umstände vor, infolge derer der Mitbeteiligte nicht auf die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative verwiesen werden könne.

Hinsichtlich des Ausspruches über die Unzulässigkeit der Revision führte das Verwaltungsgericht - in Bezug auf die Zuerkennung von subsidiären Schutz - aus, seine Ansicht entspreche der mehrjährigen und immer noch aktuellen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, gegen die sich auch der Verwaltungsgerichtshof nicht ausgesprochen habe.

6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen die Spruchpunkte A) II. und A) III. dieses Erkenntnisses Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten sowie nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach vom Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des Art. 3 EMRK nur unter exzeptionellen Umständen ausgegangen werden könne und die bloße Möglichkeit einer Verletzung von Art. 3 EMRK nicht ausreiche. Der Mitbeteiligte sei volljährig, gesund, arbeitsfähig und mit den kulturellen und örtlichen Gegebenheiten in Afghanistan vertraut. Es lägen keine Umstände vor, die die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul unzumutbar machen könnten. Überdies sei das Bundesverwaltungsgericht von den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dargestellten Anforderungen an die Begründung einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung abgewichen.

8 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 9 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich bereits wiederholt mit

dem Kriterium nach § 8 Abs. 1 AsylG einer realen Gefahr einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung durch eine Rückkehr nach Afghanistan - im Besonderen bei Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul - auseinandergesetzt. In Fortsetzung dieser Rechtsprechung wurde in jüngerer Zeit etwa in jenem Fall, der dem hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, zugrunde lag, - unter Hinweis auch auf die Judikatur des EGMR - das Vorliegen einer realen Gefahr im Sinn des § 8 Abs. 1 AsylG verneint. Der Sachverhalt des gegenständlichen Verfahrens - insbesondere betreffend die Lage in Afghanistan - stimmt in den entscheidungswesentlichen Punkten mit jenem des zitierten Falles überein. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen (vgl. im gleichen Sinn VwGH 25.5.2016, Ra 2016/19/0036; 8.9.2016, Ra 2016/20/0063; 25.4.2017, Ra 2016/01/0307; 8.8.2017, Ra 2017/19/0118; 20.9.2017, Ra 2016/19/0209; 20.9.2017, Ra 2017/19/0190; 20.9.2017, Ra 2017/19/0205; 18.10.2017, Ra 2017/19/0157). Aus den dort dargestellten Gründen ist auch die hier gegenständliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes mit Rechtswidrigkeit belastet. Durch die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes wird zwar (wie in den zitierten gleichgelagerten Fällen) eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten bei einer Rückkehr nach Afghanistan im Rahmen der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul aufgezeigt. Die Annahme des Bundesverwaltungsgerichtes, es sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände, nämlich die fehlende Unterstützung durch seinen Vater oder seinen Onkel, davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr einer Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet (vgl. auch dazu die bereits oben zitierten Entscheidungen).

Soweit sich das Bundesverwaltungsgericht für seine Ansicht auf die von ihm zitierte - allerdings aus dem Jahr 2013 stammende -

Judikatur des Verfassungsgerichtshofes beruft, ist es auf die aktuelle Rechtsprechung dieses Gerichtshofes hinzuweisen (vgl. etwa VfGH 12.12.2017, E 2068/2017).

Wenn das Verwaltungsgericht aber auch zu erkennen gibt, dass es davon ausgehe, dem Mitbeteiligten sei die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul nicht zumutbar, so ist für diese Annahme eine tragfähige Begründung nicht zu erkennen (vgl. ausführlich zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative sowohl im Allgemeinen als auch im Speziellen in Bezug auf Kabul jüngst VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001; auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses wird insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen).

10 Das angefochtene Erkenntnis war sohin im Umfang der Anfechtung - dem von der im Spruchpunkt A) II. enthaltenen Entscheidung rechtlich abhängenden Ausspruch in Spruchpunkt A) III. ist die Grundlage entzogen - wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Wien, am 5. April 2018

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