Normen
AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §8 Abs1;
MRK Art3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017190190.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in den Spruchpunkten A.II. und A.III. wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 4. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag mit Bescheid vom 26. Jänner 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als auch des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab. Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach den §§ 55 und 57 AsylG 2005, erließ gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise setzte die Behörde nach § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
3 Das Bundesverwaltungsgericht wies die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten, soweit ihm der Status des Asylberechtigten nicht zuerkannt wurde, ab (Spruchpunkt A.I.). Es erkannte dem Mitbeteiligten allerdings den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung mit Gültigkeit bis 18. April 2018 (Spruchpunkt A.III.).
Die Revision erklärte das Bundesverwaltungsgericht nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
4 Das Verwaltungsgericht ging - soweit für das Revisionsverfahren wesentlich - davon aus, dass der Mitbeteiligte im Herkunftsstaat keine Schul- oder Berufsausbildung absolviert habe. Nach seiner Ausreise in den Iran im Jahr 2004 oder 2005 habe er dort etwa ein Jahr lang einen Kurs besucht. Er könne daher etwas lesen und schreiben. Die gesamte Familie - demnach auch der Mitbeteiligte - habe in Afghanistan bis zu seiner Ausreise von der Landwirtschaft gelebt. Der Mitbeteiligte habe in Afghanistan nie außerhalb seiner Heimatprovinz Daikundi gewohnt. Seine Mutter, zwei Brüder sowie seine Schwester lebten weiterhin in seinem Heimatdorf (Schabedi im Distrikt Miramor). Mit diesen stehe der Mitbeteiligte aktuell nicht in Kontakt. Seine Ehefrau lebe bei einer Tante im Iran. Während des zehnjährigen Aufenthalts im Iran habe der Mitbeteiligte verschiedene Tätigkeiten als Hilfsarbeiter verrichtet.
Im Fall der Rückkehr in seine Herkunftsprovinz drohe - so das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Feststellungen weiter - dem Mitbeteiligten "ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit". Zudem laufe er "bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz in Afghanistan mangels familiärer Anknüpfungspunkte und mangels Eigentum Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten". Dies gelte auch für eine "Ansiedelung außerhalb seiner Herkunftsprovinz, insbesondere in der Stadt Kabul".
Im Weiteren traf das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zur Situation in Afghanistan, insbesondere auch zur Lage in der Provinz Daikundi.
In der rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht - zum hier maßgeblichen Thema - aus, der Mitbeteiligte stamme aus einem Dorf in der Provinz Daikundi, die eine "unsichere" Provinz in Afghanistan darstelle. Diese Provinz werde als "unterentwickelt" angesehen. Nur "in einer Handvoll der 34 Provinzen Afghanistans" - darunter Daikundi - stellten die Taliban keine große Bedrohung dar. "Außerdem" komme hinzu, dass der Mitbeteiligte zehn Jahre im Iran gelebt habe. Er habe seit längerem keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen gehabt, sodass nicht gewährleistet sei, dass er in Afghanistan über ein soziales Netz verfüge.
Der Mitbeteiligte könne auch nicht auf andere Landesteile Afghanistans, insbesondere Kabul, verwiesen werden. Er sei zwar ein arbeitsfähiger gesunder junger Mann, der auch ohne Schulausbildung eine Berufserfahrung als Bauarbeiter, die er im Iran gesammelt habe, aufweise. Allerdings habe er Afghanistan im Alter von 20 Jahren verlassen und dann zehn Jahre im Iran gelebt. In Afghanistan habe er noch nie außerhalb seiner Heimatprovinz gelebt. Er sei daher mit den Gegebenheiten in Kabul nicht vertraut. Im Fall der Rückkehr nach Kabul wäre er auf sich allein gestellt, ohne über ausreichende Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Der Mitbeteiligte habe angegeben, dass sein Bruder als Landwirt - dieser bewirtschafte weiterhin die "kleine", der Familie des Mitbeteiligten gehörende Landwirtschaft - für den Lebensunterhalt der Familie sorge. Daher sei nicht davon auszugehen, dass die Familie des Mitbeteiligten in der Lage sei, ihn finanziell zu unterstützen. Es sei nicht ersichtlich, dass - wie von UNHCR für eine innerstaatliche Fluchtalternative gefordert - ein "gesicherter Zugang zu Unterkunft, wesentlichen Grundleistungen (...) und Erwerbsmöglichkeiten" gegeben wäre.
5 Die Revision - so das Bundesverwaltungsgericht abschließend - sei nicht im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil sich das Verwaltungsgericht "bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage" habe stützen können.
6 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erhob gegen dieses Erkenntnis, soweit dem Mitbeteiligten der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihm infolge dessen eine Aufenthaltsberechtigung erteilt wurde, Revision.
7 Das Bundesverwaltungsgericht legte die Amtsrevision samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vor. Dieser leitete in der Folge das Vorverfahren ein. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung sowie eine ergänzende Äußerung.
8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
9 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Das Bundesverwaltungsgericht zeige nämlich nur die bloße Möglichkeit, nicht aber eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 3 EMRK auf. Zunächst berücksichtige das Bundesverwaltungsgericht nicht ausreichend, dass der Mitbeteiligte über familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan verfüge. Seine Familie betreibe zudem eine Landwirtschaft. Der Mitbeteiligte sei volljährig, gesund und arbeitsfähig. Er verfüge auch über Berufserfahrung als Hilfsarbeiter. Er sei mit den kulturellen und sprachlichen Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut, weshalb keine solchen Umstände vorliegen würden, nach denen für ihn die Inanspruchnahme der innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul unzumutbar wäre.
10 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt. 11 Der Verwaltungsgerichtshof hat sich - unter Hinweis auf
seine bisherige Rechtsprechung sowie die ständige Judikatur des EGMR - (etwa) in seinem Erkenntnis vom 19. Juni 2017, Ra 2017/19/0095, mit dem Kriterium des Vorliegens einer "realen Gefahr" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung - im Besonderen betreffend die Lage in Afghanistan - auseinandergesetzt.
Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird daher insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.
12 Schon aus den dort genannten Gründen sowie jenen des hg. Erkenntnisses vom 8. August 2017, Ra 2017/19/0118, das sich zudem mit den auch im angefochtenen Erkenntnis und der Revisionsbeantwortung angesprochenen aktuellen Empfehlungen des UNHCR zu Afghanistan auseinandergesetzt hat, und auf dessen Entscheidungsgründe sohin gleichfalls gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, erweist sich auch im vorliegenden Fall die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass er nicht verkennt, dass die Lage in Afghanistan sowohl hinsichtlich der Sicherheitslage in einzelnen Landesteilen als auch der wirtschaftlichen Situation angespannt ist. Davon zu unterscheiden ist aber das Prüfungskalkül des Art. 3 EMRK, das für die Annahme einer solchen Menschenrechtsverletzung das Vorhandensein einer die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz bedrohenden Lebenssituation unter exzeptionellen Umständen fordert (vgl. auch dazu das bereits erwähnte Erkenntnis Ra 2017/19/0095, Rz 18).
14 Das Verwaltungsgericht hat - wie schon in den zitierten gleichgelagerten Fällen - mit seinen Feststellungen zwar eine schwierige Lebenssituation für den Mitbeteiligten im Fall seiner Rückführung in den Herkunftsstaat - hier: in Bezug auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul - aufgezeigt; dies vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht und im Besonderen betreffend die Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche. Dabei stellte es primär auf das Fehlen sozialer oder familiärer Unterstützung in Afghanistan und das Fehlen ausreichender Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten in Kabul ab.
Die Annahme, im gegenständlichen Fall sei unter Berücksichtigung der den Mitbeteiligten betreffenden individuellen Umstände davon auszugehen, es bestehe im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auch in Kabul die reale Gefahr der Verletzung des Art. 3 EMRK, ist aber eine rechtliche Beurteilung, die in den Feststellungen keine Deckung findet (vgl. dazu auch das oben angeführte Erkenntnis vom 8. August 2017).
15 Zudem erweist sich die Begründung, weshalb der Mitbeteiligte nicht in seine Herkunftsprovinz zurückkehren könne, als in sich widersprüchlich. Die diese Beurteilung tragende Einschätzung, es handle sich bei Daikundi um eine "unsichere" Provinz in Afghanistan lässt sich mit der weiteren Aussage, nur in einer "Handvoll der 34 Provinzen Afghanistans", worunter auch die Provinz Daikundi falle, stellten die Taliban keine Bedrohung dar (S. 17 und 44 des angefochtenen Erkenntnisses), nicht schlüssig in Übereinstimmung bringen. Auch im Rahmen der Feststellungen wird ausgeführt, dass die (autonome) Provinz Daikundi als "relativ friedliche Provinz anzusehen" sei und einzig der Distrikt Kijran als "relativ unsicher" gelte (S. 17 des angefochtenen Erkenntnisses). Der Mitbeteiligte stammt nach den Feststellungen allerdings aus dem Distrikt Miramor (S. 7 des angefochtenen Erkenntnisses).
Auch vermag der Verwaltungsgerichtshof nicht nachzuvollziehen, dass es dem Mitbeteiligten allein wegen des zwischenzeitigen Aufenthalts im Iran nicht möglich und nicht zumutbar wäre, in sein Heimatdorf in der Provinz Daikundi, wo auch seine Verwandten leben und wo er vor seiner Ausreise aus Afghanistan gemeinsam mit diesen von den Erträgen aus der der Familie gehörenden Landwirtschaft gelebt hat, zurückzukehren.
16 Nach dem Gesagten hat das Verwaltungsgericht die zu Spruchpunkt A.II. getroffene Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit und einem für den Verfahrensausgang relevanten Begründungsmangel - sohin mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften - belastet, weshalb dieser Ausspruch - vorrangig - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war. Dies hat zur Folge, dass dem Spruchpunkt A.III. die rechtliche Grundlage entzogen ist, weshalb auch dieser Ausspruch wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG zu beheben war.
Wien, am 20. September 2017
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