VwGH Ra 2017/19/0476

VwGHRa 2017/19/04763.5.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Mag. Stickler und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des D B, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. September 2017, L514 2149174-1/12E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190476.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der am 4. Jänner 2006 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Irak, stellte am 1. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund gab der Revisionswerber an, in seinem Herkunftsgebiet (Distrikt Sindschar) infolge seiner Zugehörigkeit zur jesidischen Religionsgemeinschaft von den Milizen des Islamischen Staats verfolgt zu werden.

2 Mit Bescheid vom 24. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I.). Die Behörde erkannte dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides (betreffend die Nicht-Zuerkennung des Status des Asylberechtigten) gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers als unbegründet ab. Das Verwaltungsgericht erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Das Gericht ging davon aus, dass dem Revisionswerber im Irak keine asylrelevante Verfolgung drohe. Es sei zwar notorisch, dass die jesidische Bevölkerung durch den Islamischen Staat aus der Herkunftsregion des Revisionswerbers vertrieben worden sei. Es sei unter Zugrundelegung der Berichte "mehrerer Medien" vom 31. August 2017 jedoch davon auszugehen, dass das Herkunftsgebiet des Revisionswerbers nunmehr vom Islamischen Staat befreit worden sei und dem Revisionswerber daher eine Rückkehr in dieses Gebiet möglich sei. Es liege zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts die vom Revisionswerber behauptete Gefährdung aufgrund dessen Religionszugehörigkeit nicht (mehr) vor. Darüber hinaus bestehe für den Revisionswerber in den von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten autonomen Gebieten des Nordiraks eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zu ihrer Zulässigkeit - unter Berufung auf eine Abweichung von in der Revision näher angeführter Rechtsprechung - im Wesentlichen vorgebracht wird, das Bundesverwaltungsgericht habe unter Verletzung des Grundsatzes des Parteiengehörs Medienberichte herangezogen, die zudem der Quelle nach nicht zitiert worden und sohin nicht überprüfbar seien. Auf diese Berichte habe das Gericht seine zentrale Schlussfolgerung gestützt, wonach aufgrund der mittlerweile erfolgten Befreiung der Herkunftsprovinz des Revisionswerbers diesem eine Rückkehr in das "Sindschar-Gebiet" möglich sei und dort die Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung nicht mehr bestehe. Es gehe allerdings aus diversen, in der Revision konkret bezeichneten Berichten hervor, dass in den ehemals von Milizen des Islamischen Staats besetzten und nunmehr durch schiitische Milizen zurückeroberten Gebieten der nicht schiitischen Bevölkerung Verfolgung durch die zuletzt genannten Milizen drohe. Dem angefochtenen Erkenntnis, welches auf "veralteten", den (rezenten, zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses bereits eingetretenen) Entwicklungen im Irak nicht Rechnung tragenden Berichten beruhe, mangle es an ausreichend aktuellen Feststellungen im Hinblick auf die vom Revisionswerber ins Treffen geführte Gruppenverfolgung von Jesiden. Das Gericht habe es auch verabsäumt, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob vor dem Hintergrund der volatilen Lage in der Herkunftsregion des Revisionswerbers ein neuerlicher territorialer Rückgewinn durch den Islamischen Staat zu befürchten sei. Der vom Bundesverwaltungsgericht im Rahmen einer Alternativbegründung angenommenen innerstaatlichen Fluchtalternative stehe die mit Bescheid des BFA erfolgte rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz entgegen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die vorliegende Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:

7 Die Revision erweist sich - aus den von ihr aufgezeigten Gründen - als zulässig und berechtigt.

8 Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention kann nicht nur aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/20/0089, mwN).

9 Für das Vorliegen einer Gruppenverfolgung ist nicht entscheidend, dass sich die Verfolgung gezielt gegen Angehörige nur einer bestimmten Gruppe und nicht auch gezielt gegen andere Gruppen richtet. Schutz für Angehörige einer verfolgten Gruppe ist unabhängig davon, ob auch andere Gruppen in vergleichbarer Intensität verfolgt werden, zu gewähren (vgl. beispielsweise VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048).

10 Des Weiteren ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von den mit Asylverfahren befassten Behörden und Gerichten zu erwarten, dass sie insoweit, als es um Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern geht, von den zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten Gebrauch machen und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einbeziehen. Folglich hatte auch das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat - wie beispielsweise angesichts der Lage in der Herkunftsregion des Revisionswerbers im Jahr 2017 - können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (VwGH 13.12.2016, Ra 2016/20/0098).

11 Der Revisionswerber hat sowohl im behördlichen Verfahren als auch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wiederholt darauf hingewiesen, dass er als Angehöriger der Gruppe der Jesiden im Fall einer Rückkehr in seine Herkunftsregion asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt sei. Das Bundesverwaltungsgericht ging nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 9. Juni 2017 unter Berufung auf "mehrere Medienberichte" vom 31. August 2017 davon aus, dass infolge der Befreiung der Herkunftsregion des Revisionswerbers von den Milizen des Islamischen Staats eine Gefährdung für den Revisionswerber aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden nicht mehr bestehe.

12 In diesem Zusammenhang ist dem Bundesverwaltungsgericht, das die mündliche Verhandlung am 6. Juni 2017 durchführte, im Hinblick auf die Heranziehung "mehrerer Medienberichte" vom 31. August 2017, hinsichtlich derer dem Revisionswerber die Möglichkeit zur Stellungnahme nicht eingeräumt wurde, zunächst die Verletzung des Grundsatzes des Parteiengehörs vorzuwerfen (vgl. betreffend das Recht auf Parteiengehör beispielsweise VwGH 23.2.2017, Ra 2016/20/0089). Dieser Verfahrensmangel erweist sich auf dem Boden des Zulässigkeitsvorbringens der Revision auch als relevant.

13 Schon in den in dem angefochtenen Erkenntnis zitierten, die Berichtslage zum 7. Februar 2017 widerspiegelnden Berichten zur Situation im Irak wird festgehalten, dass es bei der Rückeroberung der vom Islamischen Staat kontrollierten Gebiete weiterhin zu Exekutionen, Folter und Misshandlungen der örtlichen Bevölkerung durch schiitische Milizen der "Popular Mobilisation Forces" gekommen sei. Ausgehend von den in der Revision wiedergegebenen, aus dem dritten und vierten Quartal 2017 stammenden Berichten zur Situation im Irak, wonach schiitische Milizen, deren Praktiken nach der Einschätzung der betroffenen Bevölkerung jenen des Islamischen Staates gleich zu halten seien, insbesondere in den vom Islamischen Staat zurückeroberten Gebieten (wie z.B. in der Herkunftsregion des Revisionswerbers) von den nicht schiitischen Zivilisten gefürchtet würden, ist - ausgehend von der Annahme der inhaltlichen Richtigkeit und der Aktualität dieser Berichte zum Entscheidungszeitpunkt - nicht auszuschließen, dass von der Wohlbegründetheit der Furcht des Revisionswerbers vor Verfolgung aus Gründen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Jesiden ausgegangen werden müsste. Dies gelte auch dann, wenn die Handlungen sich bislang nicht konkret gegen den Revisionswerber gerichtet haben (vgl. zur aus Gründen der Zugehörigkeit zur Gruppe der Muslime sunnitischer Glaubensrichtung bestehenden Gefahr der Verfolgung durch schiitische Milizen im Irak beispielsweise VwGH 13.12.2017, Ra 2017/19/0166; 18.10.2017, Ra 2017/19/0141).

14 Tragfähige - unter Wahrung des Parteiengehörs getroffene - Feststellungen zur konkreten und aktuellen Situation in der Herkunftsregion des Revisionswerbers im Hinblick auf die in der Revision angeführten Übergriffe auf die nicht schiitische Bevölkerung durch schiitische Milizen in den vom Islamischen Staat zurückeroberten Gebieten sowie zur Frage, ob von diesen Übergriffen konkret auch die Gruppe der Jesiden in der Herkunftsregion des Revisionswerbers betroffen sind, finden sich in dem angefochtenen Erkenntnis nicht.

15 Darüber hinaus vermag auch die vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführte Alternativbegründung das angefochtene Erkenntnis nicht zu tragen. Es sind die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz und damit die Bejahung der Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Schutzstatus durch das BFA auch vom Bundesverwaltungsgericht im Beschwerdeverfahren betreffend den Status eines Asylberechtigten zu beachten. Sie stehen der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative entgegen. Fallbezogen wäre dies nur anders zu sehen, wenn sich nach Erlassung des Bescheides des BFA vom 24. Jänner 2017 der Sachverhalt oder die Rechtsvorschriften wesentlich geändert hätten. Eine relevante Sachverhaltsveränderung ist den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts jedoch nicht zu entnehmen.

16 Im Licht der dargelegten Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

17 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 3. Mai 2018

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