VwGH Ra 2017/19/0051

VwGHRa 2017/19/005118.10.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Pürgy als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des M S A in B, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 5. August 2016, W123 2127456-1/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem Asylgesetz 2005 und dem Fremdenpolizeigesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §45 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von 1.106,40 EUR binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 13. Mai 2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Er begründete diesen im Wesentlichen damit, er habe zufällig beobachtet, wie Mitglieder der Taliban einen gefesselten Mann in ein Haus gebracht hätten. Er habe das der Polizei gemeldet, die daraufhin mit "einem großen Aufgebot" in das Dorf gekommen sei und den Revisionswerber aufgefordert habe, ihr das entsprechende Haus zu zeigen, was er auch getan habe. Die Polizei habe das Entführungsopfer gefunden und die Taliban verhaftet. Der Revisionswerber sei bereits wieder in Kabul bei seiner Arbeit gewesen, als ihn sein Vater angerufen und mitgeteilt habe, dass er von den Taliban gesucht werde und diese seinen Bruder entführt hätten. Der Bruder sei in der Folge getötet worden.

2 Der Antrag auf internationalen Schutz wurde - in Bestätigung des mit Beschwerde angefochtenen Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 9. Mai 2016 - vom Bundesverwaltungsgericht mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei.

3 Das Bundesverwaltungsgericht stellte hinsichtlich der Person des Revisionswerbers fest, dass dieser Staatsangehöriger von Afghanistan sei und der "Volksgruppe der Sunniten" angehöre. Er habe von 2009 bis 2010 in Kabul gelebt und gearbeitet, dann sieben Monate in seinem Heimatdorf in der Provinz Logar verbracht und anschließend wieder bis Jänner 2015 in Kabul gelebt und gearbeitet. Tanten sowie ein Onkel mütterlicherseits lebten in Kabul, zu diesen bestehe auch Kontakt. Dass der Revisionswerber einer konkreten Verfolgung ausgesetzt sei oder eine solche bei Rückkehr drohe, habe nicht festgestellt werden können. Darüber hinaus traf das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zum Herkunftsstaat des Revisionswerbers.

4 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, der geschilderte "Anlassfall" aus dem Jahr 2015 erscheine als zu wenig substantiiert, um tatsächlich eine Verfolgungsgefahr für den Revisionswerber annehmen zu können. Zwar habe dieser den Vorfall vor der Verwaltungsbehörde und dem Bundesverwaltungsgericht im Wesentlich gleichlautend geschildert, Details zu der entführten Person habe er jedoch nicht angeben können. Es hätten sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass das Opfer auf Grund seiner politischen Tätigkeit von den Taliban entführt worden sei. Auch sei nicht nachvollziehbar, wie die Taliban vom Revisionswerber als Anzeiger erfahren hätten. Alleine eine anonyme Anzeige an die örtliche Polizei reiche noch nicht aus, um den Revisionswerber als besonders gefährdete Person zu qualifizieren. Dass ihn andere Dorfbewohner verraten hätten, stelle eine reine Mutmaßung dar, die der Revisionswerber nicht habe bescheinigen können. Auch zum Motiv dieses "Verrats" durch Dorfbewohner oder Nachbarn habe er keine Angaben machen können. Der Revisionswerber habe sein Vorbringen auch nicht durch allfällige Bescheinigungen, wie etwa eine Anzeige an die Polizei, glaubhaft machen können. Insgesamt stelle sich das Vorbringen daher als zu vage dar, um von einer konkreten Verfolgungsgefahr für den Revisionswerber ausgehen zu können.

5 Das Bundesverwaltungsgericht folgerte daraus rechtlich, dass mangels Glaubhaftmachung einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen die Beschwerde als unbegründet abzuweisen sei.

6 Bezüglich der Nichtgewährung von subsidiären Schutz führte das Bundesverwaltungsgericht aus, beim Revisionswerber handle es sich um einen gesunden, arbeitsfähigen jungen Mann, der schon einige Jahre in Kabul gearbeitet habe. Es sei daher anzunehmen, dass er bei einer Rückkehr in der Lage sein werde, sich ein ausreichendes Einkommen zu sichern. Der Revisionswerber verfüge in Kabul auch über familiäre Anknüpfungspunkte und es sei davon auszugehen, dass ihm im Fall der Rückkehr im Rahmen seines Familienverbandes wirtschaftliche und soziale Unterstützung zukommen werde.

7 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung mit Beschluss vom 24. November 2016, E 2602/2016-8, abgelehnt wurde. Danach trat der Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 22. Dezember 2016, E 2602/2016-10, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 In der Revision wird zur Zulässigkeit vorgebracht, die Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichtes sei unvertretbar. Es halte dem Revisionswerber vor, er hätte keine Angaben zu den Motiven der Entführung machen können. Der Revisionswerber habe die Entführung ganz zufällig beobachtet und wisse nichts über die Hintergründe, die auch für die Beurteilung des Vorbringens irrelevant seien. Er habe auch angegeben, dass die Polizei mit einem Großaufgebot zu seinem Haus gekommen sei und ihn aufgefordert habe, ihr das entsprechende Haus zu zeigen. Es habe sich also keineswegs um eine anonyme Anzeige gehandelt und unter den Dorfbewohnern hätten sich, wie bereits vor der Verwaltungsbehörde angegeben, viele Taliban befunden. Auch der Vorwurf hinsichtlich fehlender Bescheinigungsmittel sei "willkürlich". Das Bundesverwaltungsgericht habe nicht ausgeführt, welche Bescheinigungsmittel der Revisionswerber hätte vorlegen sollen. Es habe nicht festgestellt, dass jede Person, die die Polizei alarmiere, eine Anzeigebestätigung erhalte. Das Bundesverwaltungsgericht stütze sich auf bloße Vermutungen. Darüber hinaus seien die herangezogenen Länderberichte veraltet und qualitativ ungenügend. Sie würden überwiegend aus den Jahren 2014 und 2015 stammen, außerdem verweise das Bundesverwaltungsgericht auf die Wahrnehmungen einer namentlich genannten Person, die diese während ihrer knapp 14-tägigen Afghanistanreise gemacht habe. Auch damit weiche das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab.

10 Die Revision ist zulässig und auch berechtigt. 11 Der Verwaltungsgerichtshof ist als Rechtsinstanz tätig,

zur Überprüfung der Beweiswürdigung ist er im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Wie der Verwaltungsgerichtshof schon zu dem gemäß § 17 VwGVG auch von den Verwaltungsgerichten anzuwendenden § 45 Abs. 2 AVG ausgesprochen hat, bedeutet der Grundsatz der freien Beweiswürdigung nicht, dass der in der Begründung der (nunmehr verwaltungsgerichtlichen) Entscheidung niederzulegende Denkvorgang der Kontrolle durch den Verwaltungsgerichtshof nicht unterliegt. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 AVG hat nur zur Folge, dass die Würdigung der Beweise keinen gesetzlichen Regeln unterworfen ist. Dies schließt aber eine Kontrolle in die Richtung nicht aus, ob der Sachverhalt genügend erhoben ist und ob die bei der Beweiswürdigung vorgenommenen Erwägungen schlüssig sind, also nicht den Denkgesetzen und dem allgemeinen menschlichen Erfahrungsgut widersprechen. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Hingegen ist der zur Rechtskontrolle berufene Verwaltungsgerichtshof nicht berechtigt, eine Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes, die einer Überprüfung unter den genannten Gesichtspunkten standhält, auf ihre Richtigkeit hin zu beurteilen, das heißt sie mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Ablauf der Ereignisse bzw. ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom 30. Juni 2016, Ra 2016/19/0072, mwN).

12 Im gegenständlichen Fall liegt eine solche unvertretbare Beweiswürdigung vor. Die Würdigung des fluchtauslösenden Ereignisses stützt sich im Wesentlichen darauf, dass der Revisionswerber keine Angaben zu der entführten Person und zu den Motiven der Entführung habe machen können, dass er keine Bescheinigung für sein Vorbringen vorgelegt habe und dass unklar sei, wie die Taliban von ihm als Anzeiger erfahren hätten.

13 Damit vermag das Bundesverwaltungsgericht die Unglaubwürdigkeit der Fluchtgeschichte nicht schlüssig zu begründen. Wie in der Revision richtig aufgezeigt, kommt es fallbezogen weder für die Glaubwürdigkeit noch für die Verfolgungsgefahr primär darauf an, aus welchen Motiven die Taliban jene Person, zu deren Befreiung der Revisionswerber maßgeblich beigetragen habe, entführt hatten. Ebenso kann dem Revisionswerber nicht angelastet werden, dass er keine Angabe über die Motive einer Entführung eines Dritten machen konnte, zumal er angegeben hat, die Entführung zufällig beobachtet zu haben. Auch mit der weiteren Erwägung, es sei unklar, wie die Taliban vom Revisionswerber als Anzeiger erfahren hätten, wird das Bundesverwaltungsgericht den Anforderungen an eine schlüssige Beweiswürdigung nicht gerecht. Der Revisionswerber hat angegeben, einen Freund bei der Polizei angerufen zu haben. Die Polizei sei in der Früh mit vielen Autos zu seinem Haus gekommen und er habe dieser das Haus der Entführer gezeigt. Die Dorfbewohner hätten sich versammelt. Es ist daher zum einen nicht nachvollziehbar, warum das Bundesverwaltungsgericht von einer anonymen Anzeige ausgeht, zumal der Revisionswerber nie angegeben hat, anonym bei der Polizei angerufen zu haben. Zum anderen ging der Revisionswerber davon aus, dass ihn einer der Dorfbewohner verraten hätte. Auch hier wird von der Revision zu Recht eingewendet, dass es dem Revisionswerber nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, nichts über die Motive des "Verrats" sagen zu können.

14 Da sich das Bundesverwaltungsgericht zur Begründung der Unglaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens ganz überwiegend auf diese unschlüssigen Erwägungen stützt, leidet das gegenständliche Erkenntnis an einem Begründungsmangel und war schon aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15 Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verhandlungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. Oktober 2017

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte