VwGH Ra 2017/11/0055

VwGHRa 2017/11/005526.6.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Schick und Dr. Grünstäudl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision des Ing. A M in K, vertreten durch die Celar Senoner Weber-Wilfert Rechtsanwälte GmbH in 1070 Wien, Mariahilferstraße 88a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. März 2017, Zl. W217 2124835-1/9E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen

Landesstelle NÖ/Sozialministeriumservice), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §52;
BEinstG §14 Abs1;
BEinstG §2;
EinschätzungsV 2010 §3;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde (durch Bestätigung des Bescheides der belangten Behörde vom 4. Jänner 2016) der Antrag des Revisionswerbers vom 14. Juli 2015 auf Feststellung der Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gemäß §§ 2 und 14 Abs. 1 und 2 Behinderteneinstellungsgesetz (BEinstG) abgewiesen.

Gleichzeitig wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

2 In der Begründung gab das Verwaltungsgericht (auf mehr als 15 Seiten wörtlich) die im Verfahren eingeholten Gutachten von medizinischen Sachverständigen betreffend die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Revisionswerbers wieder. Daran anschließend führte das Verwaltungsgericht im Rahmen der Feststellung des entscheidungsrelevanten Sachverhalts (abgesehenen von einem Hinweis auf die österreichische Staatsangehörigkeit des Revisionswerbers und seinen Wohnsitz in Österreich) lediglich aus, dass beim Revisionswerber im Entscheidungszeitpunkt kein Grad der Behinderung von mindestens 50 v.H. vorliege. Hinsichtlich der bei ihm bestehenden "einzelnen Funktionseinschränkungen, deren Ausmaß und der Frage der wechselseitigen Leidensbeeinflussung" - so das Verwaltungsgericht weiter - "werden die diesbezüglichen Beurteilungen in den vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten, oben wiedergegebenen Sachverständigengutachten der nunmehrigen Entscheidung zu Grunde gelegt".

Nach der anschließenden Beweiswürdigung wird in der rechtlichen Beurteilung des angefochtenen Erkenntnisses (nach dem Zitat von Rechtsvorschriften) ausgeführt, dass der Grad der Behinderung des Revisionswerbers nach der Einschätzungsverordnung zu beurteilen gewesen sei (die diesbezüglichen Vorschriften werden im angefochtenen Erkenntnis allerdings nicht zitiert). Der gegenständlichen Entscheidung lägen die wiedergegebenen Sachverständigengutachten zu Grunde, "nach denen der Grad der Behinderung des (Revisionswerbers) 40% beträgt". Diesen Gutachten, die mit den vom Revisionswerber vorgelegten medizinischen Befunden und Beweismitteln nicht im Widerspruch stünden, sei der Revisionswerber nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegen getreten.

Abschließend führte das Verwaltungsgericht begründend aus, dass seiner Ansicht nach auf die Durchführung einer Verhandlung habe verzichtet werden können (und zwar trotz eines erwähnten Antrages des Revisionswerbers auf Einvernahme der Gutachter). Dazu wird auf § 24 VwGVG und auf näher zitierte Rechtsprechung des EGMR betreffend den Entfall der Verhandlungspflicht bei Verfahren über "ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen", verwiesen und angemerkt, dass der gegenständlich relevante Sachverhalt aufgrund der vollständigen und schlüssigen Sachverständigengutachten geklärt erscheine.

3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision des Revisionswerbers, zu der eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde.

4 In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst ausgeführt, das Verwaltungsgericht sei gegenständlich von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes (Hinweis u.a. auf das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2015, Zl. Ra 2015/11/0036) abgewichen, weil es die nach dieser Judikatur erforderliche Durchführung einer mündlichen Verhandlung in rechtswidriger Weise unterlassen habe.

 

5 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig, sie ist - wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergibt - auch begründet:

7 Das Behinderteneinstellungsgesetz, BGBl. 22/1970 in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 62/2016 (BEinstG), lautet auszugsweise:

"Begünstigte Behinderte

§ 2. (1) Begünstigte Behinderte im Sinne dieses Bundesgesetzes sind österreichische Staatsbürger mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50 vH. ...

...

Feststellung der Begünstigung

§ 14. (1) Als Nachweis für die Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten gilt die letzte rechtskräftige Entscheidung über die Einschätzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit mit mindestens 50 vH

a) eines Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen (der

Schiedskommission) bzw. des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen oder der Bundesberufungskommission im Sinne des Bundesberufungskommissionsgesetzes, BGBl. I Nr. 150/2002, oder des Bundesverwaltungsgerichtes;

...

(2) Liegt ein Nachweis im Sinne des Abs. 1 nicht vor, hat auf Antrag des Menschen mit Behinderung das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen den Grad der Behinderung nach den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) einzuschätzen und bei Zutreffen der im § 2 Abs. 1 angeführten sonstigen Voraussetzungen die Zugehörigkeit zum Kreis der nach diesem Bundesgesetz begünstigten Behinderten (§ 2) sowie den Grad der Behinderung festzustellen.

..."

8 Die Einschätzungsverordnung, BGBl. II Nr. 261/2010 idF

BGBl. II Nr. 251/2012, lautet auszugsweise:

"Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

...

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. ...

Gesamtgrad der Behinderung

§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der

Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des

Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

- sich eine Funktionsbeeinträchtigung auf eine andere

besonders nachteilig auswirkt,

- zwei oder mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen,

die gemeinsam zu einer wesentlichen Funktionsbeeinträchtigung führen.

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.

..."

9 Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm §§ 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlen darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffenden eindeutigen, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichenden konkreten Feststellungen über die - vom Verwaltungsgericht als erwiesen angenommene - konkrete Art und den Umfang der Leidenszustände des Revisionswerbers. Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen, im vorliegenden Fall der Ausführungen der Sachverständigen, ist, wie der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont hat, nicht hinreichend (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom 25. Mai 2016, Zl. Ra 2016/11/0057, und die dort zitierte Vorjudikatur).

10 Das angefochtene Erkenntnis ist aber, wie die Revision zutreffend ausführt, auch unter weiteren Gesichtspunkten mit Rechtswidrigkeit behaftet:

Nach den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Gutachten diverser ärztlicher Sachverständiger bestehen beim Revisionswerber mehrere Funktionsbeeinträchtigungen, denen von den Sachverständigen jeweils ein spezifischer Grad der Behinderung zugeordnet wurde (Bluthochdruck mit arteriosklerotischen Gefäßveränderungen an den Halsschlagadern und rezidivierender Synkope (Kollaps): 30%; Anpassungsstörung mit Somatisierung und leichtgradiger Depression: 30%; Hörstörungen beidseits: 20%;

Beginnende Einschränkung der Nierenfunktion: 20%;

Entleerungsstörung der Blase: 10%; Aufbrauchserscheinungen der Wirbelsäule leichten Grades: 10%).

Nach dem vom Verwaltungsgericht zitierten fachärztlichen internistischen Gutachten vom 8. November 2016 ergebe sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 40%, weil der durch das erstgenannte Leiden bedingte Grad der Behinderung durch das zweitgenannte Leiden (bei diesem handle es sich um ein relevantes Zusatzleiden) um eine Stufe erhöht werde. "Die übrigen Leiden", so das genannte Gutachten ohne weitere Begründung, "erhöhen dagegen den Gesamtgrad der Behinderung nicht weiter".

Diese Ausführungen reichen jedenfalls nicht für eine schlüssige Begründung des angenommenen Gesamtgrades der Behinderung von 40%, fehlt es doch schon im Gutachten (und erst Recht im Rahmen der Beurteilung durch das Verwaltungsgericht) an einer ausreichenden Begründung (vgl. § 4 Abs. 2 der Einschätzungsverordnung) hinsichtlich des Gesamtgrades der Behinderung. Dieser hat nämlich bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen auf die wechselseitige Beeinflussung derselben - und zwar anhand der Kriterien des § 3 Abs. 3 der Einschätzungsverordnung - Bedacht zu nehmen; letztere werden in den gegenständlichen Gutachten aber nicht einmal angesprochen.

Der Verwaltungsgerichtshof teilt daher nicht die Rechtsansicht, die gegenständlichen Gutachten seien vollständig und könnten dem angefochtenen Erkenntnis als schlüssig zugrunde gelegt werden. Schließlich verkennt das Verwaltungsgericht aber auch die Rechtslage, wenn es meint, dass im vorliegenden Fall auf die Durchführung einer Verhandlung, die vom Revisionswerber durch die beantragte Vernehmung (Befragung) der Sachverständigen begehrt wurde, habe verzichtet werden können. Dazu genügt es, gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf das bereits zitierte hg. Erkenntnis, Zl. Ra 2016/11/0057, und das dort angeführte Erkenntnis vom 8. Juli 2015, Zl. Ra 2015/11/0036, zu verweisen, in welchem auch auf die relevante Rechtsprechung des EGMR Bezug genommen wurde. Angesichts der unterschiedlichen behaupteten Funktionsbeeinträchtigungen des Revisionswerbers war die Verhandlung zur Klärung des Sachverhaltes auch deshalb erforderlich, um, wie beantragt, eine Klärung dieser Funktionsbeeinträchtigungen und vor allem ihre wechselseitige Beeinflussung (von der gemäß § 3 der Einschätzungsverordnung der Gesamtgrad der Behinderung maßgebend abhängt) nicht zuletzt durch die Befragung des ärztlichen Sachverständigen (vorzugsweise jenes Arztes, dem der größtmögliche Überblick über die konkreten Beeinträchtigungen zukommt) vornehmen zu können (vgl. abermals die beiden letztzitierten hg. Erkenntnisse).

11 Da die aufgezeigte inhaltliche Rechtswidrigkeit dem genannten Verfahrensfehler (Feststellungsmangel) prävaliert, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 26. Juni 2017

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