VwGH Ra 2017/11/0040

VwGHRa 2017/11/004021.6.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und die Hofräte Dr. Schick und Dr. Grünstäudl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision des W S in W, vertreten durch die Celar Senoner Weber-Wilfert Rechtsanwälte GmbH in 1070 Wien, Mariahilferstraße 88a, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. Februar 2017, Zl. W218 2127205- 1/3E, W218 2129340-1/3E, betreffend Grad der Behinderung und Zusatzeintragung in den Behindertenpass (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §52;
BBG 1990 §40 Abs1;
BBG 1990 §42;
BBG 1990 §45;
EinschätzungsV 2010 §4 Abs1;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs1 Z1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017110040.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Über Antrag des Revisionswerbers nahm die belangte Behörde am 28. März 2014 in den dem Revisionswerber schon am 9. Jänner 2003 ausgestellten Behindertenausweis (Grad der Behinderung 60 vH.) die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung" auf. Der Behindertenpass samt Zusatzeintragung war bis März 2016 befristet. Zuvor hatte sie mit Bescheid vom 14. März 2014 einen Antrag des Revisionswerbers auf Neufestsetzung des Grades der Behinderung abgewiesen und ausgesprochen, dass der Grad der Behinderung weiterhin 60 vH. betrage.

Die belangte Behörde stützte sich dabei auf ein von ihr eingeholtes medizinisches Sachverständigengutachten, in dem das Ergebnis der Begutachtung, soweit im Revisionsfall von Interesse, wie folgt angeführt wird:

Als Leiden 1 wurde eine Osteoneuropathie beider Füße mit Ulcus an der rechten Fußsohle angegeben (unterer Rahmensatz, da ohne Gehhilfe relativ gute Gehleistung): Pos. Nr. (der Anlage zur Einschätzungsverordnung) 02.05.37; Grad der Behinderung 50 vH.

Als Leiden 2 wurde eine degenerative Veränderung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschädigung angegeben (Unterer Rahmensatz, da konservative Therapien ausreichend bei radiologisch verifiziertem Bandscheibenvorfall L5/S1): Pos. Nr. 02.01.02; Grad der Behinderung 30 vH.

Daraus ergebe sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 60 vH., weil das führende Leiden 1 durch Leiden 2, das eine relevante Zusatzbehinderung darstelle, um eine Stufe erhöht werde.

Aufgrund der vorliegenden funktionellen Einschränkungen lägen die medizinischen Voraussetzungen für die beantragte Zusatzeintragung der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel vor.

2 Am 4. Februar 2016 stellte der Revisionswerber den Antrag auf Neuausstellung des Behindertenpasses samt der genannten Zusatzeintragung.

3 In dem von der belangten Behörde eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten wurde das Ergebnis der Begutachtung, soweit im Revisionsfall von Interesse, wie folgt angeführt:

Als Leiden 1 wurde ein durchgetretener Senkspreizfuß mit beidseitiger Osteoneuropathie angegeben (oberer Rahmensatz, da deutliche Schwielenbildung; keine Ulcerationen):

Pos. Nr. 02.05.36; Grad der Behinderung 40 vH.

Als Leiden 2 wurde ein degenerativer Wirbelsäulenschaden angegeben (unterer Rahmensatz, da mehrsegmentaler Schaden bei zufriedenstellender Beweglichkeit): Pos. Nr. 02.01.02; Grad der Behinderung 30 vH.

Daraus ergebe sich ein Gesamtgrad der Behinderung von 50 vH., weil Leiden 2 eine relevante Zusatzbehinderung darstelle. Zu den gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten wurde ausgeführt, an der rechten Fußsohle wäre die Ulceration abgeheilt, dieser Umstand erfordere eine Änderung der Richtsatzposition und eine Rückstufung. Bei den übrigen Leiden wären keine Veränderungen gegeben.

Hinsichtlich der Auswirkungen der festgestellten Gesundheitsschädigungen nach Art und Schwere für die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wurde ausgeführt, keine der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen ließen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu, weil am Bewegungsapparat keine höhergradigen Funktionsbehinderungen fassbar seien.

4 Mit Bescheid vom 15. April 2016 wies die belangte Behörde den Antrag auf die Vornahme der Zusatzeintragung in den Behindertenpass ab. Begründend wurde unter Bezugnahme auf das für schlüssig erachtete medizinische Sachverständigengutachten ausgeführt, öffentliche Verkehrsmittel könnten vom Revisionswerber erreicht, bestiegen und sicher benützt werden, die Benützung derselben sei ihm daher zumutbar.

5 Am 19. April 2016 wurde dem Revisionswerber schließlich ein Behindertenpass ausgestellt, in dem der Gesamtgrad der Behinderung mit 50 vH. ausgewiesen ist.

6 Mit selbstverfasstem Schreiben vom 17. Mai 2016 erhob der Revisionswerber Beschwerde sowohl gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung als auch gegen die Verweigerung der beantragten Zusatzeintragung. Eventuelle neue Befunde würden "g. g. nachgereicht".

7 Ohne dass der Revisionswerber aufgefordert wurde, die seiner Beschwerde anhaftenden Mängel zu verbessern, und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung wies das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 1. Februar 2017 die Beschwerde ab. Unter einem wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof unzulässig sei.

8 Das Verwaltungsgericht übernahm die Angaben des oben wiedergegebenen medizinischen Sachverständigengutachtens zu den Leiden des Revisionswerbers sowie die Einschätzung, dass die Voraussetzungen für die Vornahme der beantragten Zusatzeintragung nicht vorlägen. Das Sachverständigengutachten sei schlüssig und nachvollziehbar, weise keine Widersprüche auf und gehe ausführlich auf die Art der Leiden und deren Ausmaß ein. Es nehme auch zu den Auswirkungen der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel Stellung. Die Herabsetzung des Gesamtgrades der Behinderung werde begründet und sei nachvollziehbar, ferner decke sich die Einschätzung mit den vorgelegten Befunden. Dass die Zusatzeintragung nicht mehr zustehe, sei ebenfalls nachvollziehbar, weil die Ulceration, aufgrund derer die Zusatzeintragung vorgenommen worden sei, mittlerweile abgeheilt sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende, vom Verwaltungsgericht gemeinsam mit den Akten des Verfahrens vorgelegte (außerordentliche) Revision.

10 Die belangte Behörde nahm von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand.

 

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

12 1.1. Das Bundesbehindertengesetz - BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idF. BGBl. I Nr. 18/2017, lautet (auszugsweise):

"BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 % ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der

Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

...

§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

...

§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

...

§ 47. Der Bundesminister für Arbeit und Soziales ist ermächtigt, mit Verordnung die näheren Bestimmungen über den nach § 40 auszustellenden Behindertenpaß und damit verbundene Berechtigungen festzusetzen.

..."

13 1.2. Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz betreffend nähere Bestimmungen über die Feststellung des Grades der Behinderung (Einschätzungsverordnung), BGBl. II Nr. 261/2010 idF. BGBl. II Nr. 251/2012, lautet (auszugsweise):

"Behinderung

§ 1. Unter Behinderung im Sinne dieser Verordnung ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, insbesondere am allgemeinen Erwerbsleben, zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.

Grad der Behinderung

§ 2. (1) Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als Grad der Behinderung zu beurteilen. Der Grad der Behinderung wird nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigung in festen Sätzen oder Rahmensätzen in der Anlage dieser Verordnung festgelegt. Die Anlage bildet einen Bestandteil dieser Verordnung.

(2) Bei Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen, die nicht in der Anlage angeführt sind, ist der Grad der Behinderung in Analogie zu vergleichbaren Funktionsbeeinträchtigungen festzulegen.

(3) Der Grad der Behinderung ist nach durch zehn teilbaren Hundertsätzen festzustellen. Ein um fünf geringerer Grad der Behinderung wird von ihnen mit umfasst. Das Ergebnis der Einschätzung innerhalb eines Rahmensatzes ist zu begründen.

Gesamtgrad der Behinderung

§ 3. (1) Eine Einschätzung des Gesamtgrades der Behinderung ist dann vorzunehmen, wenn mehrere Funktionsbeeinträchtigungen vorliegen. Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung sind die einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen nicht zu addieren. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander.

(2) Bei der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung ist zunächst von jener Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für die der höchste Wert festgestellt wurde. In der Folge ist zu prüfen, ob und inwieweit dieser durch die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen erhöht wird. Gesundheitsschädigungen mit einem Ausmaß von weniger als 20 vH sind außer Betracht zu lassen, sofern eine solche Gesundheitsschädigung im Zusammenwirken mit einer anderen Gesundheitsschädigung keine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung verursacht. Bei Überschneidungen von Funktionsbeeinträchtigungen ist grundsätzlich vom höheren Grad der Behinderung auszugehen.

(3) Eine wechselseitige Beeinflussung der Funktionsbeeinträchtigungen, die geeignet ist, eine Erhöhung des Grades der Behinderung zu bewirken, liegt vor, wenn

(4) Eine wesentliche Funktionsbeeinträchtigung ist dann gegeben, wenn das Gesamtbild der Behinderung eine andere Beurteilung gerechtfertigt erscheinen lässt, als die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen alleine.

Grundlage der Einschätzung

§ 4. (1) Die Grundlage für die Einschätzung des Grades der Behinderung bildet die Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen im körperlichen, geistigen, psychischen Bereich oder in der Sinneswahrnehmung in Form eines ärztlichen Sachverständigengutachtens. Erforderlichenfalls sind Experten aus anderen Fachbereichen - beispielsweise Psychologen - zur ganzheitlichen Beurteilung heran zu ziehen.

(2) Das Gutachten hat neben den persönlichen Daten die Anamnese, den Untersuchungsbefund, die Diagnosen, die Einschätzung des Grades der Behinderung, eine Begründung für die Einschätzung des Grades der Behinderung innerhalb eines Rahmensatzes sowie die Erstellung des Gesamtgrades der Behinderung und dessen Begründung zu enthalten.

...

Anlage zur Einschätzungsverordnung

...

02 Muskel - Skelett - und Bindegewebssystem

Haltungs- und Bewegungsapparat

Allgemeine einschätzungsrelevante Kriterien:

Beweglichkeit und Belastbarkeit - den allgemeinen Kriterien der Gelenksfunktionen, der Funktionen der Muskel, Sehen, Bänder und Gelenkskapsel sind gegenüber den alleinigen Messungen des Bewegungsradius eine stärkere Gewichtung zu geben.

Entzündungsaktivität (Schmerzen, Schwellung).

Bei radiologischen Befunden ist die Korrelation mit der

klinischen Symptomatik für die Einschätzung relevant.

Ausmaß der beteiligten Gelenke, Körperregionen und organische

Folgebeteiligung.

02.01 Wirbelsäule

02.01.01 Funktionseinschränkungen geringen Grades 10 - 20 %

Akute Episoden selten (2-3 Mal im Jahr) und kurzdauernd (Tage)

Mäßige radiologische Veränderungen

Im Intervall nur geringe Einschränkungen im Alltag und

Arbeitsleben

Keine Dauertherapie erforderlich

02.01.02 Funktionseinschränkungen mittleren Grades 30 - 40 %

Rezidivierende Episoden (mehrmals pro Jahr) über Wochen

andauernd

maßgebliche radiologische Veränderungen

andauernder Therapiebedarf wie Heilgymnastik, physikalische

Therapie, Analgetika

Beispiel: Bandscheibenvorfall ohne Wurzelreizung

(pseudoradikuläre Symptomatik)

30 %:

Rezidivierende Episoden (mehrmals pro Jahr) über Wochen

andauernd, maßgebliche radiologische Veränderungen

andauernder Therapiebedarf wie Heilgymnastik, physikalische

Therapie, Analgetika

40 %:

Rezidivierend und anhaltend, Dauerschmerzen eventuell

episodische Verschlechterungen, maßgebliche radiologische und/oder morphologische Veränderungen

maßgebliche Einschränkungen im Alltag und Arbeitsleben 02.01.03 Funktionseinschränkungen schweren Grades 50 - 80 % 50 %:

Maßgebliche radiologische und/oder morphologische Veränderungen Maßgebliche Einschränkungen im Alltag und Arbeitsleben 60 %

Chronischer Dauerschmerz mit episodischen Verschlechterungen Einfache analgetische Therapie (NSAR) nicht mehr ausreichend 70 %

Therapieresistente Instabilitätssymptomatik bei fortgeschrittenen Stadien eines Wirbelgleitens, Spinalkanalstenose mit Claudicatio spinalis (kurze Wegstrecke), schwere Skoliose mit erforderlicher Miederversorgung oder OP-Indikation

Postlaminektomie-Syndrom

80 %

Zusätzliche Beeinträchtigungen wie chronischer neurogener

Dauerschmerz, Opioidindikation

Indikationen für invasive Therapieverfahren einschließlich Schmerzschrittmacher (SCS) und Schmerzpumpen, Periduralkatheter

Lähmungserscheinungen mit Gangstörungen

Versteifung über mindestens mehrere Segmente

...

02.02 Generalisierte Erkrankungen des Bewegungsapparates

...

02.05 Untere Extremitäten

...

Fußdeformitäten nicht kompensiert

Fußdeformitäten und Restzustand nach operativer Sanierung je

nach Funktionsstörung.

Kompensierbare Fehlstellungen, beispielsweise durch Schuheinlagen und nicht über das zivilisatorische Ausmaß hinausgehende Fehlstellungen, sind nicht im Sinne einer Behinderung einzuschätzen (Senk-Spreiz-Hohlfuß).

02.05.35 Je nach Funktionseinschränkung einseitig 10 - 40 % 02.05.36 Beidseitig mit Funktionseinschränkungen geringen bis

mittleren Grades 30 - 40%

02.05.37 Beidseitig mit Funktionseinschränkungen schweren

Grades 50 - 60 %

..."

14 1.3. Die Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen, BGBl. II Nr. 495/2013 idF. BGBl. II Nr. 263/2016, lautet (auszugsweise):

"§ 1.

...

(4) Auf Antrag des Menschen mit Behinderung ist jedenfalls einzutragen:

...

3. die Feststellung, dass dem Inhaber/der Inhaberin des

Passes die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung nicht zumutbar ist; die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ist insbesondere dann nicht zumutbar, wenn das 36. Lebensmonat vollendet ist und

(5) Grundlage für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen für die in Abs. 4 genannten Eintragungen erfüllt sind, bildet ein Gutachten eines/einer ärztlichen Sachverständigen des Sozialministeriumservice. Soweit es zur ganzheitlichen Beurteilung der Funktionsbeeinträchtigungen erforderlich erscheint, können Experten/Expertinnen aus anderen Fachbereichen beigezogen werden. Bei der Ermittlung der Funktionsbeeinträchtigungen sind alle zumutbaren therapeutischen Optionen, wechselseitigen Beeinflussungen und Kompensationsmöglichkeiten zu berücksichtigen.

..."

15 2. Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht, wie im Folgenden zu zeigen ist, die hg. Judikatur zur Erforderlichkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung außer Acht gelassen hat.

16 3. Die Revision ist im Ergebnis auch begründet. 17 3.1. Im Revisionsfall geht es einerseits um den Grad der Behinderung des Revisionswerbers, dem auch nach der Auffassung des Verwaltungsgerichtes ein Behindertenpass auszustellen war, andererseits um die Frage, ob in den Behindertenpass des Revisionswerbers der Zusatzvermerk "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" aufzunehmen ist.

18 3.1.1. Ausgehend von der Einschätzungsverordnung, wonach der Grad der Behinderung nach Art und Schwere der Funktionsbeeinträchtigungen entsprechend den (festen oder Rahmen‑)Sätzen der Anlage (die - wie die obige Wiedergabe unter Pkt. 1.2. zeigt - im Einzelnen konkrete Parameter für die jeweilige Einstufung anführt) festzulegen ist, bedarf es für die Feststellung von Art und Ausmaß der Beeinträchtigung wie auch deren Auswirkungen eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, wie § 4 Abs. 1 der Verordnung unmissverständlich normiert (vgl. zB. das hg. Erkenntnis vom 11. November 2015, Zl. Ra 2014/11/0109). Dies wurde auch vom Verwaltungsgericht zutreffend so gesehen.

19 3.1.2. In einem Verfahren über die Berechtigung der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" ist (wie das Verwaltungsgericht insofern zutreffend erkannt hat) - unter Einbindung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens, in dem die dauernde Gesundheitsschädigung und ihre Auswirkungen auf die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel in nachvollziehbarer Weise dargestellt werden (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 18. Dezember 2006, Zl. 2006/11/0211, vom 27. Mai 2014, Zl. Ro 2014/11/0013 und Zl. Ro 2014/11/0030, vom 27. Jänner 2015, Zl. 2012/11/0186, und vom 9. November 2016, Zl. Ra 2016/11/0137) - zu prüfen, ob der Betroffene dauernd an seiner Gesundheit geschädigt ist und wie sich diese Gesundheitsschädigung nach ihrer Art und Schwere auf die Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel auswirkt (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 1. März 2016, Zl. Ro 2014/11/0024, auf das gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird).

20 3.2. Das Verwaltungsgericht hat die Durchführung einer - vom im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht unvertretenen Revisionswerber unstrittig nicht ausdrücklich beantragten - mündlichen Verhandlung zu Unrecht nicht für geboten erachtet.

21 3.2.1. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Einschätzung des Grades der Behinderung auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens keine Frage bloß technischer Natur ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. Mai 2016, Zl. Ra 2016/11/0057).

22 Sowohl dabei als auch bei der Beurteilung, ob die gesundheitlichen Einschränkungen des Betroffenen die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unzumutbar erscheinen lassen, ist nach der hg. Judikatur wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 8. Juli 2015, Zl. Ra 2015/11/0036, vom 21. April 2016, Zl. Ra 2016/11/0018, vom 25. Mai 2016, Zl. Ra 2016/11/0057, und vom 16. August 2016, Zl. Ra 2016/11/0013).

23 3.2.2. Das Verwaltungsgericht durfte vorliegendenfalls nicht davon ausgehen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließe (vgl. aus der ständigen hg. Rechtsprechung das Erkenntnis vom 11. Mai 2016, Zl. Ra 2016/11/0008, mwN, dem auch eine vergleichbare Argumentation des Verwaltungsgerichtes für das Absehen von der Verhandlung zu Grunde lag). Das angefochtene Erkenntnis erweist sich demnach als inhaltlich rechtswidrig.

Für das fortzusetzende Verfahren sei überdies auf folgende (Verfahrens‑)Mängel hingewiesen:

24 Einerseits enthält das im Verfahren vor der belangten Behörde eingeholte medizinische Sachverständigengutachten zum Grad der Behinderung keine ausreichende, auf die vorgelegten Befunde (insbesondere den schon mit dem Antrag vorgelegten MRT-Befund vom 4. Jänner 2016) eingehende und die Rahmensätze der Einschätzungsverordnung vergleichende (vgl. zu den diesbezüglichen Anforderungen das hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2015, Zl. Ra 2015/11/0036) Begründung (insbesondere zur degenerativen Veränderung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschädigung; Leiden 2). Auch zur Zumutbarkeit bzw. Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel fehlt eine ausreichende, auf die Angaben des Revisionswerbers anlässlich seiner Untersuchung (wonach er nur 50 bis 60 Meter gehen könne) eingehende Begründung, weshalb dieser trotz der angenommenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen eine ausreichende Wegstrecke (nach der hg. Judikatur eine Strecke von 300 bis 400 Metern; vgl. die hg. Erkenntnisse vom 27. Mai 2014, Zl. Ro 2014/11/0013, und vom 27. Jänner 2015, Zl. 2012/11/0186) zurücklegen könne.

25 Andererseits hat das Verwaltungsgericht außer Acht gelassen, dass die selbstverfasste Beschwerde des Revisionswerbers angesichts des gänzlichen Fehlens von Gründen, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit des Bescheids der belangten Behörde stützt (§ 9 Abs. 1 Z. 3 VwGVG), sowie eines Begehrens (§ 9 Abs. 1 Z. 4 VwGVG) offenkundig mangelhaft war und es folglich eines auf § 17 VwGVG iVm. § 13 Abs. 3 AVG gestützten Mängelbehebungsauftrags bedurfte. Das Verwaltungsgericht war daher nicht einmal in Kenntnis, aus welchen Erwägungen der Revisionswerber, dem die belangte Behörde nach Ausweis der Verwaltungsakten vor der Erlassung ihres Bescheids vom 15. April 2016 und der Ausstellung des neuen Behindertenausweises vom 19. April 2016 (dem gemäß § 45 Abs. 2 BBG Bescheidcharakter zukommt) kein Parteiengehör eingeräumt hatte, die mit Beschwerde bekämpften Bescheide - über die Abweisung der begehrten Zusatzeintragung sowie über den Grad der Behinderung - überhaupt für rechtswidrig hielt.

26 3.3. Aus diesen Erwägungen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 1 Z. 1 VwGG aufzuheben.

27 4. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Juni 2017

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