VwGH Ra 2017/01/0039

VwGHRa 2017/01/003920.6.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek sowie die Hofräte Dr. Fasching und Mag. Brandl als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Strasser, über die Revision der S A A in W, vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 22. November 2016, Zl. W196 2137815-1/3E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017010039.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Für die Revisionswerberin, eine am 26. August 2015 in Österreich geborene Staatsangehörige Somalias, stellte ihr Vater am 4. September 2015 einen schriftlichen Antrag auf internationalen Schutz und brachte darin vor, dass die Revisionswerberin keine eigenen Flucht- bzw. Rückkehrbefürchtungen habe und sie sich ausschließlich auf die Fluchtgründe ihrer Eltern beziehe.

2 Den Eltern und dem minderjährigen Bruder der Revisionswerberin war bereits zuvor vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden. Die gegen die Nichtzuerkennung von Asyl von ihnen erhobenen Beschwerden wurden mit Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 28. Mai 2015 als unbegründet abgewiesen und die dagegen erhobenen Revisionen mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. November 2015, Ra 2015/19/0173 bis 0175, zurückgewiesen.

3 Mit der per Telefax an das BFA übermittelten Stellungnahme vom 24. Februar 2016 brachte die Revisionswerberin zu ihrem Antrag auf internationalen Schutz als eigenen Fluchtgrund ergänzend im Wesentlichen vor, dass ihr in Somalia Genitalverstümmelung drohe. Ihre Eltern seien zwar gegen jegliche Art von Genitalverstümmelung, hätten aber kaum Möglichkeiten, die Beschneidung ihrer Tochter zu verhindern, weil diese dann in deren Abwesenheit von anderen weiblichen Familienangehörigen veranlasst würden. Als Angehörige des Minderheitenclans der "Reer Hamar" seien die Eltern kaum in der Lage, ihre Tochter in Somalia vor derartigen Übergriffen zu schützen.

4 Mit Bescheid vom 25. August 2016 wies das BFA den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab (Spruchpunkt I), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III).

5 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, nach den Angaben des Vaters der Revisionswerberin lägen keine individuellen Fluchtgründe vor, sondern wäre sie im Falle der Rückkehr von den Fluchtgründen ihrer Eltern in gleichem Maße betroffen wie diese. Da in Bezug auf ihre Eltern keine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vorläge, sei davon auszugehen, dass auch die Revisionswerberin in Somalia im Fall ihrer Rückkehr keiner asylrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt wäre. Mit dem ergänzenden Vorbringen zur Gefahr der der Revisionswerberin in Somalia drohenden Genitalverstümmelung als eigenen Fluchtgrund setzte sich das BFA nicht auseinander.

6 In der gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobenen Beschwerde wendete sich die Revisionswerberin gegen die Außerachtlassung des von ihr geltend gemachten Fluchtgrunds der drohenden Genitalverstümmelung in Somalia unter Wiederholung des bereits in der Stellungnahme vom 24. Februar 2016 erstatteten Vorbringens. Dazu brachte sie ergänzend vor, bei den in Somalia lebenden Familienangehörigen ihrer Eltern sei die Praktik der Genitalverstümmelung Fixpunkt im Leben eines Mädchens, weshalb letztlich im Fall einer Rückkehr ihre Eltern weggesperrt würden und die Revisionswerberin von ihren weiblichen Familienangehörigen beschnitten würde. Weiters beantragte die Revisionswerberin die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8 Begründend führte das BVwG zusammengefasst aus, unter Einbeziehung der Länderinformationen und der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes könne zwar die Genitalverstümmelung eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK darstellen und könnten Mädchen in Somalia einer Beschneidungspraxis unterliegen. Der Revisionswerberin drohe eine solche aber nicht, weil nach ihrem Vorbringen sich ihre Eltern dagegen aussprächen. Aus einem näher genannten Länderbericht ergebe sich, dass eine Beschneidung ohne Einverständnis der Mutter unwahrscheinlich sei. Spreche sich zudem auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus und bleibe dieser standhaft, sei es leichter, dem psychischen Druck standzuhalten. Überdies verwies das BVwG auf den hg. Beschluss vom 27. Juni 2016, Ra 2016/18/0045, wonach eine konkrete Verfolgungsgefahr der dortigen Revisionswerberinnen deshalb verneint worden sei, weil sowohl deren Vater als auch deren Mutter die Genitalverstümmelung ablehnen würden und das BVwG im dortigen Verfahren damit nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofs konkret begründet habe, weshalb die vorgebrachte Verfolgungsgefahr nicht vorliege. Schließlich habe die Revisionswerberin die erstmals in der Beschwerde behauptete Gefahr einer Genitalverstümmelung lediglich in den Raum gestellt. Allgemein mögliche Vorkommnisse im Herkunftsstaat bedeuteten nicht, dass Antragstellerinnen tatsächlich selbst davon betroffen seien.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) abgesehen werden können, weil der Sachverhalt durch die belangte Behörde vollständig erhoben worden sei, die Beweiswürdigung der Behörde schlüssig sei und in der Beschwerde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens der belangten Behörde entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt in konkreter und substantiierter Weise behauptet worden sei.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit u. a. vorgebracht wird, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 21 Abs. 7 BFA-VG abgewichen, weil das BFA zu dem bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren erstatteten Fluchtvorbringen kein Ermittlungsverfahren durchgeführt und keine Feststellungen getroffen habe, die Beweiswürdigung des BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänze und sich die Feststellungen des BVwG zum Fluchtgrund der Genitalverstümmelung unzureichend auf einen einzigen, der Revisionswerberin nicht zur Kenntnis gebrachten, Länderbericht stütze.

 

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verfahrensakten - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zur Rechtsfrage der Verhandlungspflicht gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG zulässig. Sie ist auch begründet.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, grundlegend dargelegt, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen, die Abstandnahme von der Durchführung einer (beantragten) mündlichen Verhandlung ermöglichenden - und hier allein in Betracht zu ziehenden - Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint", folgende Kriterien beachtlich sind:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

13 Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall in Bezug auf den von der Revisionswerberin bereits im verwaltungsbehördlichen Verfahren gegenüber dem BFA hinreichend konkret geltend gemachten Fluchtgrund der drohenden Genitalverstümmelung, die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der GFK darstellen kann (vgl. den hg. Beschluss vom 27. Juni 2016, Ra 2016/18/0045, mwN; zu Somalia vgl. insbesondere das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2010, 2007/01/1199), nicht erfüllt.

14 So hat sich das BFA mit dem bereits ihr gegenüber geltend gemachten Fluchtgrund der drohenden Genitalverstümmelung überhaupt nicht auseinandergesetzt und somit den entscheidungswesentlichen Sachverhalt weder in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben, noch ausreichend festgestellt. Überdies hat die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde nicht nur das insofern mangelhafte Ermittlungsverfahren gerügt, sondern darüber hinaus für die Beurteilung des behaupteten Fluchtgrundes relevantes weiteres Vorbringen in Bezug auf die Vornahme einer Genitalverstümmelung im Fall ihrer Rückkehr nach Somalia erstattet, somit einen über das Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens hinausgehenden, entscheidungswesentlichen Sachverhalt behauptet. Schließlich traf das BVwG auf Basis eines im angefochtenen Erkenntnis erwähnten, der Revisionswerberin jedoch nicht zur Kenntnis gebrachten, neu ins Verfahren eingebrachten Länderberichts erstmals Feststellungen zum Fluchtgrund der Genitalverstümmelung und versagte mit näheren beweiswürdigenden Argumenten dem Fluchtvorbringen der Revisionswerberin dessen Glaubwürdigkeit.

15 Das BVwG konnte daher - im Gegensatz zum hg. Beschluss vom 27. Juni 2016, Ra 2016/18/0045 - nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG ausgehen, sondern hätte nach den oben dargestellten Kriterien eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 20. Juni 2017

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