Normen
B-VG Art140 Abs1;
B-VG Art140 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §32 Abs1;
VwRallg;
B-VG Art140 Abs1;
B-VG Art140 Abs7;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §32 Abs1;
VwRallg;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Dem Revisionswerber wurden seit 2011 mehrere Aufenthaltstitel, anfangs zum Zweck der Familiengemeinschaft mit seiner damaligen Ehefrau, später ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" erteilt.
2 Mit Bescheid vom 24. April 2015 nahm der Landeshauptmann von Wien als zuständige Behörde sämtliche Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 1 iVm § 69 Abs. 3 AVG von Amts wegen wieder auf, weil der Revisionswerber ein Aufenthaltsverbot von Deutschland verschwiegen habe; die Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln wurden abgewiesen.
3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde vom Verwaltungsgericht Wien (VwG) mit Erkenntnis vom 26. November 2015 abgewiesen.
4 Die außerordentliche Revision des Revisionswerbers gegen das oben angeführte Erkenntnis des VwG vom 26. November 2015 wurde vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 11. Februar 2016, Ra 2016/22/0012, zurückgewiesen.
5 Der Revisionswerber beantragte die Wiederaufnahme des (mit Erkenntnis des VwG vom 26. November 2015 abgeschlossenen) Verfahrens gemäß § 32 Abs. 1 VwGVG sowie die amtswegige Wiederaufnahme gemäß § 32 Abs. 3 VwGVG (beim VwG am 28. Dezember 2015 eingelangt) und begründete dies im Wesentlichen damit, dass aus einem Schreiben des Landratsamtes München vom 22. Dezember 2015 ersichtlich sei, dass ein Einreiseverbot des Revisionswerbers bis 31. Dezember 2011 lediglich für die Bundesrepublik Deutschland bestanden habe, die Ausschreibung im europäischen Fahndungssystem des Schengener Informationssystems hingegen zum 29. Mai 2010 gelöscht worden sei.
6 Das VwG wies mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss den Antrag des Revisionswerbers auf Wiederaufnahme des Verfahrens als unzulässig zurück. Begründend führte das VwG im Wesentlichen aus, ein Wiederaufnahmeantrag sei gemäß § 32 Abs. 1 VwGVG nur zulässig, wenn eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis nicht mehr zulässig sei. Fallbezogen habe der Revisionswerber jedoch eine Revision eingebracht, weshalb der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zurückzuweisen gewesen wäre. Auf eine amtswegige Wiederaufnahme gemäß § 32 Abs. 3 VwGVG hätten Parteien keinen Rechtsanspruch, sie könnten durch die Unterlassung einer amtswegigen Wiederaufnahme auch nicht in Rechten verletzt werden.
7 Gegen diesen Beschluss brachte der Revisionswerber die gegenständliche außerordentliche Revision ein.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Zur Zulässigkeit im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG bringt die Revision vor, ungeachtet der Möglichkeit der Einbringung einer außerordentlichen Revision müsse eine Urkunde, die nach Entscheidungsfindung aufgetaucht oder erzeugt worden sei, binnen Wiederaufnahmefrist mit einem Wiederaufnahmeantrag geltend gemacht werden, ansonsten liege Fristversäumnis vor. Zu dieser Frage fehle eine höchstgerichtliche Rechtsprechung.
9 Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil zur Frage, zu welchem Zeitpunkt eine Wiederaufnahme gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG beantragt werden kann, eine höchstgerichtliche Rechtsprechung fehlt.
10 § 32 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013, lautet auszugsweise:
"Wiederaufnahme des Verfahrens
§ 32. (1) Dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens ist stattzugeben, wenn eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis nicht mehr zulässig ist und
(...)
1. neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten, oder
(...)
(2) Der Antrag auf Wiederaufnahme ist binnen zwei Wochen beim Verwaltungsgericht einzubringen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antragsteller von dem Wiederaufnahmegrund Kenntnis erlangt hat, wenn dies jedoch nach der Verkündung des mündlichen Erkenntnisses und vor Zustellung der schriftlichen Ausfertigung geschehen ist, erst mit diesem Zeitpunkt. Nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Erkenntnisses kann der Antrag auf Wiederaufnahme nicht mehr gestellt werden. Die Umstände, aus welchen sich die Einhaltung der gesetzlichen Frist ergibt, sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen.
(...)"
11 Das VwG gründete fallbezogen die Zurückweisung gemäß § 32 Abs. 1 zweiter Halbsatz VwGVG auf den Umstand, dass der Revisionswerber tatsächlich eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof eingebracht habe (die mit hg. Beschluss vom 11. Februar 2016, Ra 2016/22/0012, zurückgewiesen wurde). Aus diesem Grund sei die Voraussetzung der Unzulässigkeit einer Revision fallbezogen nicht erfüllt.
12 Der Verwaltungsgerichtshof stellte betreffend die Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG "eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis nicht mehr zulässig ist und" an den Verfassungsgerichtshof u.a. den Anfechtungsantrag vom 13. September 2016, A 2016/0007. Darin äußerte der Verwaltungsgerichtshof (näher begründete) Bedenken aufgrund des aus dem Gleichheitsgrundsatz resultierenden Sachlichkeitsgebotes, aufgrund des aus dem rechtsstaatlichen Prinzip ableitbaren Grundsatzes des effektiven Rechtsschutzes und der Bestimmtheit der Norm.
13 Der Verfassungsgerichtshof hob mit Erkenntnis vom 13. Dezember 2016, G 337/2016 u.a., die Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG "eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis nicht mehr zulässig ist und" als verfassungswidrig auf und sprach aus, dass die aufgehobene Wortfolge nicht mehr anzuwenden sei sowie frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft träten. Dies begründete der Verfassungsgerichtshof wie folgt:
"2.1. Der Verfassungsgerichtshof stimmt dem Verwaltungsgerichtshof zu, dass der Gesetzgeber bei der Regelung der (Prozess‑)Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines Verfahrens nicht unsachlich vorgehen darf und dabei auch die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Anforderungen zu beachten hat. Dies bedeutet unter anderem, dass der Gesetzgeber, soweit er die Wiederaufnahme eines Verfahrens vorsieht, diese nicht von vornherein verunmöglichen darf. Eben dies bewirkt allerdings die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG iVm der subjektiven Frist für den Wiederaufnahmeantrag gemäß § 32 Abs. 2 erster Satz leg.cit.:
2.1.1. Geht man davon aus, dass die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG eine Prozessvoraussetzung für einen Antrag auf Wiederaufnahme eines Verfahrens statuiert, steht diese Regelung - wie der Verwaltungsgerichtshof in seinen Anträgen zutreffend ausführt - in einem nicht auflösbaren Konflikt mit der in § 32 Abs. 2 erster Satz VwGVG festgelegten Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmeantrages. Hat der Wiederaufnahmswerber das Verstreichen der Revisionsfrist oder die Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes über die Revision abzuwarten, wird in vielen Fällen die - gemäß § 32 Abs. 2 VwGVG als Prozessvoraussetzung normierte - zweiwöchige (subjektive) Frist für die Einbringung eines Wiederaufnahmsantrages bereits abgelaufen sein (vgl. überdies die absolute Frist von drei Jahren gemäß § 32 Abs. 2 dritter Satz VwGVG).
Dies hat zur Folge, dass in all jenen Fällen eine Wiederaufnahme des Verfahrens von vornherein nicht möglich ist und die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG gegen den Gleichheitssatz und das Rechtsstaatsprinzip verstößt.
2.1.2. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinen Anträgen richtig dartut, scheidet auch die vom Verwaltungsgerichtshof in seinen Erkenntnissen vom 28. April 2016, Ro 2016/12/0007, und vom 3. August 2016, Ra 2016/12/0059, 0068, vorgenommene Auslegung des § 32 Abs. 1 iVm § 32 Abs. 2 VwGVG, wonach das Verwaltungsgericht den Eintritt der Bewilligungsvoraussetzung des § 32 Abs. 1 zweiter Halbsatz VwGVG abzuwarten habe, aus. Es ist nämlich unsachlich und auch nicht mit dem Grundsatz eines effektiven Rechtsschutzes vereinbar, mit der Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag solange zuwarten zu müssen, bis der Verwaltungsgerichtshof über die Revision entschieden hat, zumal diese Entscheidung im Regelfall erst nach längerer Zeit ergehen wird.
2.2. Die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG erweist sich aber auch als solche (dh. unabhängig von der Regelung der (subjektiven) Frist des § 32 Abs. 2 VwGVG) als unsachlich und in Widerspruch zum Rechtsstaatsprinzip:
Es ist nicht sachlich begründbar, dass einem Wiederaufnahmeantrag unter anderem nur dann stattgegeben werden kann, wenn ‚eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis nicht mehr zulässig ist'. Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinen Anträgen zutreffend ausführt, ist der Ausschluss der Wiederaufnahme eines Verfahrens (insbesondere beim Wiederaufnahmetatbestand des § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG) nur dann und solange gerechtfertigt, wenn bzw. bis der Wiederaufnahmswerber neue Tatsachen oder neue Beweise im laufenden Verfahren (mit welchem Rechtsmittel auch immer) noch geltend machen kann. Da zum Ersten eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht in jedem Fall, sondern nur in näher geregelten Fällen zulässig ist (vgl. Art. 133 Abs. 4 B-VG), und zum Zweiten im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof grundsätzlich ein Neuerungsverbot (§ 41 VwGG) gilt, womit die Geltendmachung neuer Tatsachen und Beweise im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof weitgehend ausscheidet, ist es verfassungswidrig, die Wiederaufnahme gemäß § 32 Abs. 1 VwGVG davon abhängig zu machen, dass eine Revision beim Verwaltungsgerichtshof gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes nicht mehr zulässig ist.
2.3. Da die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG aus den genannten Gründen gegen den Gleichheitssatz und das Rechtsstaatsprinzip verstößt, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit der vom Verwaltungsgerichtshof ebenfalls aufgeworfenen Frage, ob die angefochtene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG (auch) mit dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 18 B-VG in Widerspruch steht."
14 Die auf die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Wortfolge in § 32 Abs. 1 VwGVG gestützte Zurückweisung der Beschwerde durch das VwG erweist sich somit als inhaltlich rechtswidrig und war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
15 Ein Kostenausspruch konnte unterbleiben. Dem Revisionswerber wurde die Verfahrenshilfe im beantragten Ausmaß, nämlich hinsichtlich der Gerichtskosten, bewilligt. Ein Kostenersatz für einen darüber hinausgehenden Aufwand wurde nicht beantragt.
Wien, am 18. Jänner 2017
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