VwGH Ra 2016/18/0293

VwGHRa 2016/18/029318.1.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin MMag.a Ortner, über die Revision des M B Y Z in W, vertreten durch Kocher & Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. September 2016, Zl. L507 2123711-1/12E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §11 Abs1;
AsylG 2005 §11 Abs2;
AsylG 2005 §11;
AsylG 2005 §8 Abs1;
AVG §68 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016180293.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein irakischer Staatsangehöriger katholischen Glaubens und aramäischer Volksgruppenzugehörigkeit, stellte am 29. Juni 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dazu brachte er zusammengefasst vor, von den Kämpfern des islamischen Staates aus seinem Heimatort in der Provinz Ninawa vertrieben worden und deshalb nach Österreich geflüchtet zu sein.

2 Mit Bescheid vom 18. März 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers in Bezug auf den begehrten Asylstatus ab (Spruchpunkt I). Gleichzeitig erkannte es dem Revisionswerber den Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III).

3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen Spruchpunkt I des erstinstanzlichen Bescheides erhobene Beschwerde gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber könne zwar derzeit nicht in seinen Heimatort zurückkehren, weil ihm dort mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle Gefährdung infolge religiös motivierter Übergriffe durch die Kämpfer des "islamischen Staates drohe". Eine Rückkehr des Revisionswerbers in die von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Provinzen im Nordirak wäre allerdings möglich und zumutbar. Insofern bestehe für den Revisionswerber eine inländische Fluchtalternative, weshalb ihm kein Asylstatus zuzuerkennen sei. Diese Einschätzung stützte das BVwG auf Länderberichte zur Lage im Irak, die zeitlich zur Gänze vor Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides datierten.

5 In seiner rechtlichen Beurteilung argumentierte das BVwG unter anderem, der vom BFA gewährte subsidiäre Schutz hindere die Annahme einer inländischen Fluchtalternative für den Revisionswerber im Nordirak nicht. Der Verwaltungsgerichtshof judiziere zwar in ständiger Rechtsprechung, dass die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative grundsätzlich im Widerspruch zu einem gewährten subsidiären Schutz stehe, weil § 11 AsylG 2005 die Annahme einer solchen nicht erlaube, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates (auch) die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben seien. Das BFA habe in seiner Entscheidungsbegründung zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes an den Revisionswerber aber zum einen (nur) die allgemeine Feststellung getroffen, dass er bei seiner Rückkehr im Entscheidungszeitpunkt der realen Gefahr einer Rechtsverletzung im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgesetzt wäre. Auch in der Beweiswürdigung fänden sich über bloß allgemeine Hinweise auf die rechtlichen Grundlagen für die Zuerkennung eines solchen Schutzes keine weiteren individuellen Erwägungen die Person des Revisionswerbers betreffend. Demgegenüber sei das BVwG zum gegenständlichen Entscheidungszeitpunkt angehalten, nicht nur Feststellungen zum individuellen Vorbringen des Revisionswerbers zu treffen, sondern insbesondere auch im Hinblick auf die aktuelle Lage in seinem Herkunftsstaat zu eigenen, aktualisierten länderkundlichen Feststellungen zu gelangen (vgl. § 11 Abs. 2 AsylG 2005). Aus diesen sei wiederum zu gewinnen, dass sich die Lage im Irak gegenwärtig so darstelle, dass der Revisionswerber im Falle der Rückkehr in den von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten autonomen Teil des Nordiraks dort weder der realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK ausgesetzt wäre noch eine Rückkehr dorthin ihn als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aussetzen würde, woraus auch zu folgern sei, dass im gegenständlichen Fall in dieser Region aktuell nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status eines subsidiär Schutzberechtigten an den Revisionswerber gegeben wären. Über die allfällige Aberkennung des gewährten subsidiären Schutzstatus habe das BVwG im gegenständlichen Verfahren nicht zu entscheiden, sondern es sei dafür das BFA zuständig.

6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen vorgebracht wird, das BVwG sei in seiner Entscheidung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht mehr möglich sei, wenn dem betreffenden Asylwerber - wie im vorliegenden Fall - rechtskräftig der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei.

7 Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Revision ist im Sinne ihrer Zulassungsbegründung zulässig und auch begründet.

9 Gemäß § 11 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005), ist der Antrag auf internationalen Schutz wegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann. Schutz ist nach den gesetzlichen Vorgaben gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind. Nach § 11 Abs. 2 AsylG 2005 ist bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

10 Im vorliegenden Fall hat das BFA dem Revisionswerber in seinem Bescheid vom 18. März 2016 den Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Irak zuerkannt. Dieser Teil des erstinstanzlichen Bescheides wurde nicht angefochten und erwuchs daher in (Teil‑)Rechtskraft. Mit dieser Entscheidung wurde somit bindend festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung der Behörde die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf den gesamten Herkunftsstaat des Revisionswerbers gegeben waren.

11 Die rechtskräftige Gewährung von subsidiärem Schutz an den Revisionswerber und damit die Bejahung der Voraussetzungen zur Zuerkennung dieses Schutzstatus durch das BFA waren auch vom BVwG im Beschwerdeverfahren betreffend den Status eines Asylberechtigten zu beachten. Sie standen der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entgegen (vgl. etwa VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016, 0083, vom 25. März 2015, Ra 2014/20/0022, vom 17. Dezember 2015, Ra 2015/20/0048, und vom 19. Jänner 2016, Ra 2015/01/0070, mwN).

12 Eine Durchbrechung dieser Rechtskraftwirkung wäre nur dann gerechtfertigt, wenn sich nach Erlassung der Entscheidung des BFA der Sachverhalt oder die Rechtsvorschriften wesentlich geändert hätten, also eine neue Sache vorgelegen wäre, für die die Rechtskraftwirkung der ursprünglichen Entscheidung nicht mehr gelten würde. Von einer nachträglichen Änderung der Sache ist aber der Fall zu unterscheiden, in dem der Sachverhalt anders rechtlich beurteilt wird oder neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, die bereits im Zeitpunkt der Erlassung der Entscheidung vorlagen, aber erst später bekannt wurden ("nova reperta"). Die schon vor Erlassung der Entscheidung bestehende Sachlage ist von der Rechtskraft des Bescheides erfasst und bindet Gerichte und Behörden, solange diese Entscheidung dem Rechtsbestand angehört (vgl. etwa VwGH vom 24. Mai 2016, Ra 2016/03/0050, und vom 13. September 2016, Ro 2015/03/0045).

13 Die rechtskräftige Zuerkennung von subsidiärem Schutz an den Revisionswerber war daher bei der Beurteilung der Frage, ob ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative im HerkunftsstaatHer offensteht, jedenfalls solange zu beachten, als - bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BFA - keine wesentliche Änderung des Sachverhalts vorgelegen ist.

14 Vor diesem Hintergrund vermögen die zuvor wiedergegebenen Überlegungen des BVwG die Annahme einer inländischen Fluchtalternative für den Revisionswerber nicht zu rechtfertigen. Das BVwG schätzte zwar die Lage im Herkunftsstaat anders ein als das BFA, stützte sich dabei aber auf Beweismittel (insbesondere Länderberichte), die im maßgeblichen Zeitpunkt der rechtskräftigen Entscheidung des BFA über den subsidiären Schutz bereits vorgelegen waren und daher nach dem bisher Gesagten keine (wesentliche) Änderung des Sachverhalts bezogen auf diesen Zeitpunkt bedeuteten.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

16 Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. Jänner 2017

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