VwGH Ra 2016/18/0233

VwGHRa 2016/18/023316.11.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schweda, über die Revision des A P in S, vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 3. August 2016, Zl. G304 2125678- 2/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32011L0095 Status-RL Art7 Abs2;
32011L0095 Status-RL Art8 Abs2;
62008CJ0175 Salahadin Abdulla VORAB;
AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Die Revision wird als unbegründet abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein albanischer Staatsangehöriger, stellte am 29. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Als Fluchtgrund gab er an, sein Bruder habe den Vater jenes Mannes, welcher zunächst seine Schwester heiraten habe wollen und diese nach vier Tagen wieder "zurückgebracht" habe, im Streit ermordet. Sein Bruder sei deswegen im Gefängnis, habe aber noch kein Urteil erhalten. Der Revisionswerber sei zu diesem Zeitpunkt in Griechenland gewesen und habe von diesem Vorfall nur durch Erzählungen erfahren. In Griechenland sei er von einem der Söhne des Ermordeten telefonisch mit dem Tod bedroht worden. Nach dem Vorfall sei er für vier Monate nach Albanien zurückgekehrt, um sich Dokumente zu beschaffen und weil er sich in Griechenland nicht sicher gefühlt habe; die beiden Söhne des Ermordeten hätten damals in Griechenland gelebt. Er habe gehört, dass sie sich in Griechenland und Belgien aufhalten würden, habe jedoch keine Gewissheit darüber, weshalb sie ebenso in Albanien sein könnten. Blutrache könne überall ausgeführt werden, auch in Österreich könne ihm etwas zustoßen. Des Weiteren gab der Revisionswerber an, seine Familie habe versucht, den Streit mithilfe einer Organisation zu schlichten, doch seien die Söhne des Ermordeten nicht daran interessiert gewesen. Dies habe er von seiner Mutter und seiner Schwester erfahren.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 11. April 2016 gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Albanien zulässig sei.

3 Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, das Vorbringen des Revisionswerbers, von Blutrache bedroht zu sein, sei unglaubwürdig. Er sei lediglich einmal - in Griechenland - telefonisch bedroht worden und hätte sich nach dem Vorfall wieder freiwillig nach Albanien begeben, wo er vier Monate aufhältig gewesen sei, ohne dass er irgendwelchen Bedrohungen ausgesetzt gewesen sei. Unabhängig davon lehne der albanische Staat Blutrache ab, bekämpfe diese und könne dagegen auch Schutz gewähren. Ein hundertprozentiger Schutz für betroffene Personen in Blutrachefällen sei unmöglich zu gewährleisten. Dies gelte jedoch auch für Österreich, weil Drohungen vielfach nicht ausgesprochen oder signalisiert würden und die Behörden nicht präventiv einschreiten könnten.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er zusammengefasst vorbrachte, die Behörde habe die Beweise nicht ausreichend gewürdigt und habe sich nicht mit den dem Bescheid zu Grunde gelegten Länderberichten auseinandergesetzt, welchen zu entnehmen sei, dass die albanische Regierung das Problem der Blutrache herunterspiele. Ein Gesetz zur Bekämpfung der Blutrache sei zwar angenommen, nicht aber implementiert worden, und der albanische Staat könne Opfern nur eingeschränkt Schutz bieten. Auch gehe aus den Länderberichten hervor, dass sich Betroffene nur durch Flucht oder Isolierung der Blutrache entziehen könnten, sofern eine Vermittlung nicht greife. Der Revisionswerber wies zudem darauf hin, dass er wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" asylrechtlich relevanter Verfolgung ausgesetzt sei. Zudem verwies der Revisionswerber zur Untermauerung der eingeschränkten Schutzfähigkeit Albaniens auf weitere Berichte über Fälle, in denen sich die Behörden geweigert hätten, Familien zu beschützen. Hauptsächlich in den nördlichen Gegenden Albaniens, aus denen auch der Revisionswerber stamme, käme es zu Blutrachefehden, die sich auch in der Diaspora fortsetzten. Im Übrigen fühle sich der Revisionswerber "auch im Lager in Österreich nicht sicher".

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) wurde die gegen den Bescheid erhobene Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - zur Gänze als unbegründet abgewiesen. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

6 Das BVwG hielt fest, es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sei oder dass sonstige Gründe vorlägen, die einer Rückkehr oder Abschiebung in den Herkunftsstaat entgegenstünden. Des Weiteren hielt das BVwG fest, dass die Republik Albanien aufgrund der Herkunftsstaaten-Verordnung, BGBl. II Nr. 177/2009, als sicherer Herkunftsstaat gelte. Zum Vorbringen des Revisionswerbers, von Blutrache bedroht zu sein, führte das BVwG aus, dass es dem Revisionswerber unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Behauptung freistünde, sich bezüglich dieser von Privatpersonen ausgehenden Bedrohungen im Hinblick auf eine Schutzgewährung an die Sicherheitsbehörden Albaniens zu wenden. Aus den Feststellungen über die Lage im Herkunftsstaat des Revisionswerbers, wonach dort im Grunde ein wirksames System der polizeilichen Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung eingerichtet sei, gehe hervor, dass der Revisionswerber vor einer solchen Bedrohung grundsätzlich wirksamen Schutz durch die Behörden seines Herkunftsstaates in Anspruch nehmen könnte. Der Revisionswerber habe mit der bloßen Behauptung der fehlenden staatlichen Schutzfähigkeit und - willigkeit keine nachhaltigen Defizite aufgezeigt. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die staatlichen Institutionen in Albanien im Hinblick auf eine mögliche Verfolgung durch Privatpersonen tatsächlich weder schutzfähig noch schutzwillig seien, ergäben sich weder aus dem Vorbringen des Revisionswerbers, noch aus den der Entscheidung zu Grunde gelegten Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat, wobei ein lückenloser Schutz vor privater Verfolgung naturgemäß nicht gewährleistet werden könne. Auch habe der Revisionswerber in der Beschwerde nicht substantiiert dargelegt, warum die staatlichen Stellen entgegen den herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen nicht in der Lage oder willens wären, ihn vor den behaupteten Bedrohungen angemessen zu schützen bzw. inwieweit er von allfälligen Defiziten betroffen sei.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht abgewichen, weil der Sachverhalt aufgrund von näher dargestellten Verfahrensmängeln nicht aus der Aktenlage geklärt gewesen sei. Zudem sei das BVwG im Rahmen der vorgenommenen "Wahrunterstellung" nicht vom gesamten Vorbringen des Revisionswerbers ausgegangen, weil es fälschlicherweise die Schutzfähigkeit und -willigkeit der albanischen Behörden angenommen habe. Auch sei verkannt worden, dass bei einer Bedrohung durch Blutrache eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe "Familie" in Betracht zu ziehen sei.

8 Das BFA nahm von einer Revisionsbeantwortung Abstand.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. 11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, ausgesprochen, dass ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wegen geklärten Sachverhalts nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig ist:

"Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen."

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Auch eine auf keinem Konventionsgrund beruhende Verfolgung durch Private hat aber asylrelevanten Charakter, wenn der Heimatstaat des Betroffenen aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen nicht bereit ist, Schutz zu gewähren (vgl. VwGH vom 28. Jänner 2015, Ra 2014/18/0112, mwN).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH vom 28. Oktober 2009, 2006/01/0793, mwN).

Gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie), die im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts mit zu berücksichtigen ist, muss der Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden wirksam sein. Ein solcher Schutz ist generell gewährleistet, wenn etwa der Herkunftsstaat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung oder den ernsthaften Schaden zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung oder einen ernsthaften Schaden darstellen, und wenn der Asylwerber Zugang zu diesem Schutz hat. Bei Prüfung (u.a.) dieser Frage berücksichtigen die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 2 Statusrichtlinie zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Antragstellers.

Die Statusrichtlinie sieht daher einerseits vor, dass die staatliche Schutzfähigkeit zwar generell bei Einrichtung eines entsprechenden staatlichen Sicherheitssystems gewährleistet ist, verlangt aber anderseits eine Prüfung im Einzelfall, ob der Asylwerber unter Berücksichtigung seiner besonderen Umstände in der Lage ist, an diesem staatlichen Schutz wirksam teilzuhaben (vgl. zum Ganzen VwGH vom 24. Februar 2015, Ra 2014/18/0063).

13 Im vorliegenden Fall gingen sowohl das BFA als auch das BVwG entscheidungswesentlich davon aus, dass die staatliche Schutzfähigkeit und -willigkeit Albaniens gegeben sei. Der Revisionswerber hat die von der Verwaltungsbehörde hierzu getroffenen Feststellungen in seiner Beschwerde nicht substantiiert bestritten. Der Revisionswerber ist den Länderberichten nicht konkret entgegengetreten, sondern hat in der Beschwerde selbst auf die vom BFA herangezogenen Länderinformationen verwiesen (vgl. VwGH vom 13. September 2016, Ra 2016/01/0002 bis 0005). Die in der Beschwerde (ohne nähere Begründung) zitierten Berichte wurden zum Teil bereits in der verwaltungsbehördlichen Entscheidung berücksichtigt und decken sich hinsichtlich der entscheidungsrelevanten Ausführungen im Wesentlichen mit den vom BFA getroffenen Länderfeststellungen.

14 Den der Entscheidung zu Grunde gelegten Länderfeststellungen lässt sich entnehmen, dass der albanische Staat Blutrache ablehnt und bestrebt ist, diese zu verhindern. Im Übrigen spricht auch die Tatsache, dass Albanien als sicherer Herkunftsstaat gemäß § 19 Abs. 5 Z 2 BFA-VG in Verbindung mit § 1 Z 7 Herkunftsstaaten-Verordnung, BGBl. II Nr. 177/2009 idF BGBl. II Nr. 47/2016, gilt, für die Annahme einer grundsätzlich bestehenden staatlichen Schutzfähigkeit und -willigkeit der albanischen Behörden.

15 Dass die albanischen Behörden entgegen den getroffenen Länderfeststellungen Blutrache systematisch tolerierten oder nicht ernsthaft behandelten und verfolgten, hat der Revisionswerber demgegenüber nicht vorgebracht. Auch hat er keine fallbezogenen Umstände aufgezeigt, die im Revisionsfall gegen eine Schutzfähigkeit und -willigkeit der albanischen Behörden spezifisch ihm gegenüber sprechen würden, zumal dem Vorbringen des Revisionswerbers auch nicht zu entnehmen ist, dass er sich hinsichtlich der von ihm behaupteten Verfolgung durch Private überhaupt an die albanischen Sicherheitsbehörden gewendet hätte.

16 Dem Revisionswerber ist es damit im Ergebnis nicht gelungen, substantiiert darzulegen, dass ihm der albanische Staat keinen wirksamen Schutz vor der von ihm behaupteten Verfolgung durch Private gewähren würde. Der entscheidungswesentliche Sachverhalt war somit nicht als ungeklärt zu betrachten, weshalb das BVwG letztlich von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen durfte.

17 Soweit sich die Revision gegen die vom BVwG vorgenommene "Wahrunterstellung" wendet und zudem vorbringt, das BVwG habe die Asylrelevanz des Fluchtvorbringens verkannt, ist darauf hinzuweisen, dass das BVwG die Abweisung der Beschwerde hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten tragend auf die fallbezogen bestehende staatliche Schutzfähigkeit und -willigkeit der albanischen Behörden gestützt hat, was vom Revisionswerber - wie bereits erläutert - nicht substantiiert bestritten wurde und sich diese Begründung somit als tragfähig erweist (vgl. VwGH vom 3. Mai 2016, Ra 2015/18/0206).

18 Die Revision war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

19 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 16. November 2016

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