VwGH Ra 2016/11/0057

VwGHRa 2016/11/005725.5.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick und Dr. Grünstäudl als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der N M in K, vertreten durch die Beneder Rechtsanwalts GmbH in 1010 Wien, Franz-Josefs-Kai 27/DG/9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2016, Zl. W166 2119534-1/3E, betreffend Zugehörigkeit zum Kreis der begünstigten Behinderten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle NÖ), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §52;
BEinstG §14 Abs1;
BEinstG §2;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis stellte das Verwaltungsgericht gemäß den §§ 2, 3 und 14 Abs. 1 und 2 BEinstG fest, dass die Revisionswerberin mit Ablauf des auf die Zustellung dieses Erkenntnisses folgenden Monats nicht mehr dem Kreis der begünstigten Behinderten angehört.

Weiters wurde ausgesprochen, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

1.2. In der Begründung führte das Verwaltungsgericht aus, die Revisionswerberin gehöre entsprechend dem Feststellungsbescheid der belangten Behörde vom 19. April 2013 seit dem 27. Februar 2013 dem Kreis der begünstigten Behinderten mit einem Grad der Behinderung von 50 v.H. an, weil die Revisionswerberin im Anschluss an eine (nach dem Akt: unfallbedingte) Operation an der Halswirbelsäule an einem

"Cervikalsyndrom/Trigeminusneuralgie/chronisches Schmerzsyndrom" leide. Da die medizinischen Sachverständigen von einer "Besserungsmöglichkeit" des genannten Leidens ausgegangen seien, seien Nachuntersuchungen, zuletzt im Jahr 2015, durchgeführt worden.

Nach breiter Wiedergabe des Verfahrensganges (eingeholte Gutachten und Stellungnahmen) traf das Verwaltungsgericht, abgesehen vom bisherigen Grad der Behinderung von 50 v.H., lediglich die Feststellung, dass am 5. September 2015 eine Nachuntersuchung zur Überprüfung des Grades der Behinderung der Revisionswerberin durchgeführt worden sei und dass bei ihr kein Grad der Behinderung von 50 v.H. mehr vorliege.

In der Beweiswürdigung stützte sich das Verwaltungsgericht auf das Gutachten vom 5. September 2015 und die Stellungnahme vom 19. Oktober 2015, jeweils eines Facharztes für Orthopädie, die in ihren Aussagen zitiert und in freier Beweiswürdigung dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde gelegt wurden.

Zum Einwand der Revisionswerberin, ihr Zustand habe sich seit dem Feststellungsbescheid vom 19. April 2013 verschlechtert (z.B. habe im Jahr 2014 "eine Verschraubung in der Nackenwirbelsäule" durchgeführt werden müssen), was durch ein neurologisches Gutachten bestätigt sei (Einschränkung der Belastbarkeit der rechten oberen Extremität und der Kopfdrehung), verwies das Verwaltungsgericht auf die erwähnten Ausführungen des Facharztes für Orthopädie.

Insgesamt (so das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner "Beweiswürdigung") sei es aus medizinischer Sicht zu einer Verbesserung des Leidenszustandes um eine Stufe gekommen, sodass nunmehr im Vergleich ein Grad der Behinderung von 40 v.H. vorliege.

Die letztgenannten Ausführungen wurden in der rechtlichen Beurteilung nach Wiedergabe der Rechtsvorschriften im Wesentlichen wiederholt. Die Revisionswerberin sei den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen auch nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegen getreten, sodass nunmehr von einem Gesamtgrad der Behinderung von 40 v.H. auszugehen sei.

Zum Entfall der - von der Revisionswerberin im Rahmen der Beschwerde ausdrücklich beantragten - Verhandlung führte das Verwaltungsgericht nach Wiedergabe des § 24 VwGVG aus, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt vor dem Hintergrund des vorliegenden, nicht substantiiert bestrittenen Sachverständigengutachtens geklärt sei und dass seiner Meinung nach eine mündliche Verhandlung gemäß der Judikatur des EGMR zu Art. 6 EMRK nicht geboten sei. Dabei zitierte das Verwaltungsgericht ausdrücklich Judikatur des EGMR zu Verfahren, in denen es um "ausschließlich rechtliche oder hoch-technische Fragen" ging, und in denen "keine Fragen der Beweiswürdigung" auftraten und "Tatsachenfeststellungen nicht bestritten" wurden.

2.1. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zu ihrer Zulässigkeit das rechtswidrige Unterlassen der mündlichen Verhandlung ins Treffen geführt wird. Außerdem sei das Verwaltungsgericht entgegen der Aktenlage davon ausgegangen, dass die Revisionswerberin den Gutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegen getreten sei. Vielmehr habe die Revisionswerberin das neurologischepsychiatrische Gutachten des Prim. Dr. D. vom 8. Oktober 2014, das u. a. die Schmerzattacken und die eingeschränkte Belastbarkeit attestiere, vorgelegt.

Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

2.2. Die Revision ist aus den von ihr dargelegten Gründen sowohl zulässig als auch begründet:

2.2.1. Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass das angefochtene Erkenntnis den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Begründung (§ 17 VwGVG iVm §§ 58 und 60 AVG) nicht gerecht wird, fehlt darin doch schon die in einem ersten Schritt (im Indikativ) zu treffende eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei und eine nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ermöglichende konkrete Feststellung des zugrunde gelegten Sachverhalts (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Oktober 2014, Zl. Ro 2014/03/0076). Die bloße Zitierung von Beweisergebnissen, im vorliegenden Fall der Ausführungen der Sachverständigen, ist demnach nicht hinreichend.

Fallbezogen hätten somit (da das Verwaltungsgericht zum Ergebnis gelangte, die Leiden der Revisionswerberin hätten sich gegenüber ihrem Zustand im Jahre 2013 verbessert) einerseits Feststellungen über die konkrete Art und den Umfang der bisherigen Leidenszustände der Revisionswerberin sowie insbesondere über die nunmehr weggefallenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und andererseits (Negativ‑)Feststellungen betreffend die von der Revisionswerberin behaupteten Leidenszustände getroffen werden müssen.

Tatsachenfeststellungen dieser Art fehlen im angefochtenen Erkenntnis gänzlich, es werden lediglich (im Rahmen der Beweiswürdigung) die unterschiedlichen Angaben der jeweiligen Sachverständigen gegenüberstellend wiedergegeben.

2.2.2. Das Verwaltungsgericht hat aber insbesondere auch die Voraussetzungen seiner Verhandlungspflicht verkannt:

Zunächst sind die (Textbausteinen gleichenden) Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Entfall der Verhandlung insoweit widersprüchlich, als Judikatur des EGMR zitiert wird, wonach die gemäß Art. 6 EMRK gebotene Verhandlung nur in solchen Fällen entfallen dürfe, in denen "keine Fragen der Beweiswürdigung" auftreten und "Tatsachenfeststellungen nicht bestritten" werden. Gleichzeitig werden in der Begründung des angefochtenen Erkenntnis aber plastisch die unterschiedlichen Standpunkte zum - strittigen -

Umfang des Leidenszustandes der Revisionswerberin wiedergegeben.

Auch stellt die Einschätzung des Grades der Behinderung auf der Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens keine Frage bloß technischer Natur dar (vgl. das auf die Judikatur des EGMR Bezug nehmende hg. Erkenntnis vom 8. Juli 2015, Zl. Ra 2015/11/0036).

Das Verwaltungsgericht durfte von der beantragten Verhandlung aber insbesondere deshalb nicht absehen, weil in Fällen wie dem vorliegenden schon die erste Voraussetzung des § 24 Abs. 4 VwGVG ("die mündliche Verhandlung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt") nicht erfüllt ist. Gerade die mündliche Verhandlung (deren Durchführung nicht im Belieben, sondern im pflichtgemäßen Ermessen des Verwaltungsgerichts steht) ermöglicht es nämlich, einerseits im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit eines Parteienvorbringens zum körperlichen Befinden, insbesondere zu Schmerzzuständen, ergänzende Fragen an den beigezogenen Sachverständigen zu stellen und andererseits auch den für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu gewinnen (vgl. zum Ganzen das bereits zitierte Erkenntnis, Zl. Ra 2015/11/0036, mwN, sowie - ebenfalls mit Hinweisen auf die mittlerweile ständige Rechtsprechung - das hg. Erkenntnis vom 21. April 2016, Zl. Ra 2016/11/0018).

3. Das angefochtenen Erkenntnis war nach dem Gesagten wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.

4. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm. der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF. BGBl II Nr. 8/2014.

Wien, am 25. Mai 2016

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