VwGH Ra 2015/22/0158

VwGHRa 2015/22/015810.5.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision der Bundesministerin für Inneres gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 23. September 2015, VGW- 151/084/8510/2015-5, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien; mitbeteiligte Partei: IU in Wien, vertreten durch Mag.a Irene Oberschlick, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Weyrgasse 8/6), zu Recht erkannt:

Normen

B-VG Art133 Abs4;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §21 Abs3;
NAG 2005 §63;
VwGG §42 Abs2 Z1;
B-VG Art133 Abs4;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §21 Abs3 Z2;
NAG 2005 §21 Abs3;
NAG 2005 §63;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (Behörde) vom 12. Juni 2015 wurde der Antrag des Mitbeteiligten, eines pakistanischen Staatsangehörigen, vom 24. April 2015 auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung "Studierender" nach § 64 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) wegen Überschreitung der Dauer des erlaubten visumfreien Aufenthaltes in Zusammenhang mit der Inlandsantragstellung gemäß § 11 Abs. 1 Z 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 und 6 NAG abgewiesen.

Die Behörde ging davon aus, dass der Aufenthalt des Mitbeteiligten in Österreich seit 4. April 2015 unrechtmäßig sei und keine besonderen berücksichtigungswürdigen Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK feststellbar gewesen seien, denen zufolge ihm der begehrte Aufenthaltstitel zu erteilen gewesen wäre.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. September 2015 gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt (Spruchpunkt I), erteilte ihm gemäß § 64 Abs. 1 NAG einen Aufenthaltstitel für den Zweck "Studierender" mit Gültigkeit bis 18. Juli 2016 (Spruchpunkt II) und erklärte die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig (Spruchpunkt III).

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der Mitbeteiligte über einen unbefristeten italienischen Aufenthaltstitel verfüge, mit Bescheid vom 16. September 2014 zum Bachelorstudium Maschinenbau an der Technischen Universität Wien zugelassen worden sei und der erlaubte visumfreie Aufenthalt in Österreich am 4. April 2015 geendet habe. Der Mitbeteiligte spreche - wie in der mündlichen Verhandlung wahrzunehmen gewesen sei - fließend deutsch. Das Verwaltungsgericht erachtete es als glaubwürdig, dass er sich bereits im September 2014 bei der belangten Behörde nach den notwendigen Unterlagen für die Erteilung des Aufenthaltstitels "Studierender" erkundigt und sich danach umgehend um den Erhalt der beglaubigten Unterlagen aus Pakistan (Geburtsurkunde, Strafregisterauszug) gekümmert habe, was aber mehrere Monate gedauert habe. Der Mitbeteiligte habe sein Studium bereits begonnen und bislang erfolgreich betrieben.

Das Verwaltungsgericht teilte die Auffassung der belangten Behörde, dass der Mitbeteiligte kein über das dreimonatige sichtvermerksfreie Aufenthaltsrecht hinausgehendes Recht auf Inlandsantragstellung bzw. kein Recht darauf habe, das Verfahren im Inland abzuwarten. Allerdings seien bei der Entscheidung über den Zusatzantrag nach § 21 Abs. 3 NAG auch die Umstände zu berücksichtigen, die zur verspäteten Antragstellung geführt hätten. Die Wartezeit auf die Dokumente aus Pakistan sei dem Mitbeteiligten nicht vorwerfbar und es sei auch fraglich, ob ein Strafregisterauszug aus Pakistan überhaupt notwendig gewesen sei, zumal der Mitbeteiligte in den letzten vier Jahren in Italien aufhältig gewesen sei. Die Tatsache, dass der Mitbeteiligte versucht habe, vor Antragstellung alle geforderten Dokumente zu erlangen, lasse darauf schließen, dass er nicht mutwillig gegen österreichische fremdenrechtliche Bestimmungen verstoßen habe, sondern dass er die sichtvermerksfreie Aufenthaltsdauer "ohne böse Absicht" überschritten habe. Der Mitbeteiligte habe sich offenbar sehr schnell in den studentischen Alltag integriert, weil er bereits vor Ablauf des Studienjahres 2014/2015 einen Studienerfolg von 16 ECTS-Punkten habe vorweisen können. Die Fortsetzung der begonnenen und erfolgreich betriebenen Ausbildung stelle ein erhebliches schützenswertes Interesse an der Aufrechterhaltung seines Privatlebens im Sinn des Art. 8 EMRK dar. Gegenüber diesen Interessen müssten die öffentlichen Interessen an der strikten Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen zurücktreten. Zudem sei der Mitbeteiligte unbescholten und verfüge über ausreichende finanzielle Mittel.

Die Unzulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass es sich vorliegend um eine Einzelfallbeurteilung ohne grundsätzliche Bedeutung handle.

3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision.

Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der die Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt wird.

Die Behörde teilte mit, dass von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung abgesehen werde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen.

4 Die Revision bringt zur Zulässigkeit vor, das Verwaltungsgericht habe den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner (näher zitierten) Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK und § 11 Abs. 3 NAG entwickelten Rahmen im angefochtenen Erkenntnis überschritten, weil ein Sachverhalt wie der vorliegende nicht geeignet sei, einen auf Art. 8 EMRK basierenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu begründen. Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen aus den nachstehenden Gründen zulässig und auch berechtigt.

5 § 21 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 70/2015, lautet auszugsweise:

"Verfahren bei Erstanträgen

§ 21. (1) Erstanträge sind vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.

(2) Abweichend von Abs. 1 sind zur Antragstellung im Inland berechtigt:

...

5. Fremde, die an sich zur visumfreien Einreise berechtigt sind, während ihres erlaubten visumfreien Aufenthalts;

...

(3) Abweichend von Abs. 1 kann die Behörde auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist:

1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17) zur Wahrung des Kindeswohls oder

2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3).

Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.

...

(6) Eine Inlandsantragstellung nach Abs. 2 Z 1, Z 4 bis 10, Abs. 3 und 5 schafft kein über den erlaubten visumfreien oder visumpflichtigen Aufenthalt hinausgehendes Bleiberecht. Ebenso steht sie der Erlassung und Durchführung von Maßnahmen nach dem FPG nicht entgegen und kann daher in Verfahren nach dem FPG keine aufschiebende Wirkung entfalten."

6 Das Verwaltungsgericht hat seiner Entscheidung zugrunde gelegt, dass der erlaubte visumfreie Aufenthalt des Mitbeteiligten zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits beendet war. Zu prüfen war daher im vorliegenden Fall nur, ob die Inlandsantragstellung auf Grund des § 21 Abs. 3 Z 2 NAG zuzulassen war.

7 Aus § 21 Abs. 3 Z 2 NAG ergibt sich, dass die Inlandsantragstellung auf begründeten Antrag dann zugelassen werden kann, wenn - ausnahmsweise, nämlich für den Fall der Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise des Fremden - ein aus Art. 8 EMRK direkt abzuleitender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht. Bei der vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. zu allem das hg. Erkenntnis vom 21. Jänner 2016, Ra 2015/22/0119, mwN).

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat zwar - auch im Zusammenhang mit der nach § 21 Abs. 3 Z 2 NAG vorzunehmenden Abwägung - festgehalten, dass die einzelfallbezogene Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs in das Privat- und/oder Familienleben nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG darstellt (vgl. den Beschluss vom 17. März 2016, Ra 2016/22/0014, mwN).

9 Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof ebenfalls festgestellt, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. das bereits zitierte, eine etwa zweieinhalbjährige Aufenthaltsdauer betreffende Erkenntnis Ra 2015/22/0119, mwN; siehe auch das hg. Erkenntnis vom 20. Jänner 2011, 2008/22/0501). Dem zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Verwaltungsgericht ca. einjährigen Inlandsaufenthalt des Mitbeteiligten konnte daher für sich genommen keine maßgebliche Verstärkung seiner persönlichen Interessen an einer Titelerteilung beigemessen werden. Das Verwaltungsgericht hätte auch berücksichtigen müssen, dass sich der Mitbeteiligte nach Ablauf des erlaubten visumfreien Aufenthaltes seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat - im Zusammenhang mit einer Aufenthaltsbewilligung "Schüler" nach § 63 NAG - zum Ausdruck gebracht, dass mit dem Vorbringen, im Fall der Nichtzulassung der Inlandsantragstellung müsse das laufende Schuljahr unterbrochen werden, wodurch die dortige Beschwerdeführerin viel versäumen würde, sie das Schuljahr nicht abschließen könnte und ihr ein großer finanzieller Aufwand entstünde, keine Umstände im Sinn des Art. 8 EMRK dargetan wurden, auf Grund derer die Auslandsantragstellung als nicht möglich oder nicht zumutbar zu beurteilen gewesen wäre (vgl. das Erkenntnis vom 11. Juni 2014, 2012/22/0034; siehe auch das eine Aufenthaltsbewilligung "Studierender" betreffende hg. Erkenntnis vom 9. September 2013, 2011/22/0328, in dem das Vorbringen, der dortige Beschwerdeführer könnte sein Studium im Fall der Auslandsantragstellung erst zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen und müsste einen großen Zeitverlust hinnehmen, auch in Verbindung mit weiteren Umständen als nicht hinreichend angesehen wurde, um das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 3 NAG zu bejahen). Dem vom Verwaltungsgericht tragend herangezogenen Interesse des Mitbeteiligten an der Fortsetzung seines Studiums kommt somit für sich genommen keine entscheidungserhebliche Bedeutung bei der vorzunehmenden Abwägung zu. Daran vermag fallbezogen der bereits erzielte Studienerfolg nichts zu ändern. Auch in Verbindung mit den vom Verwaltungsgericht weiter angeführten Aspekten der ausreichenden finanziellen Mittel, der Unbescholtenheit und der guten Deutschkenntnisse wäre es nicht geboten gewesen, dem Mitbeteiligten, der nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtes über keine familiären Bindungen in Österreich verfügte, einen aus Art. 8 EMRK resultierenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels einzuräumen und somit die Inlandsantragstellung zuzulassen.

11 Der vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Umstand, dass der Mitbeteiligte die Wartezeit auf die Unterlagen aus Pakistan nicht zu verantworten habe, ändert nichts daran, dass er seinen Inlandsaufenthalt über den erlaubten visumfreien Aufenthalt hinaus fortgesetzt hat. Eine Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit der Ausreise im Sinn des § 21 Abs. 3 NAG resultiert daraus nicht.

12 Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Abwägung nach Art. 8 EMRK steht somit nicht mit den vom Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen in Einklang, weshalb das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

13 Bei diesem Ergebnis kommt ein Kostenzuspruch an den Mitbeteiligten nicht in Betracht.

Wien, am 10. Mai 2016

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