Normen
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs1;
AsylG 2005 §8 Abs4;
AVG §58;
AVG §60;
B-VG Art133 Abs4;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
MRK Art3;
VwGG §12 Abs1 Z2;
VwGG §39 Abs1 Z3;
VwGG §39 Abs1 Z5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §47;
VwGVG 2014 §29 Abs1;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2015:RA2015190106.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird in Spruchpunkt A.I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 17. Jänner 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Er machte - auf das Wesentliche zusammengefasst - geltend, zur Volksgruppe der Hazara zu gehören und schiitischer Muslim zu sein. Er habe im Alter von drei Jahren mit seiner Familie Afghanistan verlassen und sei in den Iran gezogen. Sie stammten aus der afghanischen Provinz Ghazni und seien wegen des Krieges aus Afghanistan geflohen. Seine Mutter habe dem Revisionswerber erzählt, sein Vater, der Soldat gewesen wäre, wäre in diesem Krieg getötet worden. Den Iran habe er verlassen müssen, weil er fälschlich des Diebstahles einer Batterie eines Kraftfahrzeuges bezichtigt worden sei. Er und sein Stiefvater seien geschlagen worden. Er sei von der Polizei festgenommen und so lange gefoltert worden, bis er den Diebstahl gestanden habe. Daraufhin sei er verurteilt worden; die ausgesprochene Strafe von sechs Monaten Haft habe er zur Gänze verbüßt. Da er ungeachtet dessen immer noch Angst vor jenem Mann habe, der ihn des Diebstahls bezichtigt habe, und dieser den Revisionswerber "fertig machen" wolle, habe er den Iran verlassen. Nach Afghanistan könne er nicht zurück, weil dort Krieg herrsche und er dort niemanden mehr habe.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies den Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 2. September 2014 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch des subsidiären Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und erklärte die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan für zulässig. Seine Nationalität, Volksgruppenzugehörigkeit und religiöse Gesinnung - so die Verwaltungsbehörde in den wesentlichen Teilen ihrer Begründung - hätten vom Revisionswerber glaubhaft gemacht werden können. Seine Identität stehe aber mangels Personenstandsdokumente nicht fest. Der Revisionswerber habe bezogen auf seinen Herkunftsstaat keine Verfolgung geltend gemacht. Die Gründe, die zur Ausreise aus dem Iran geführt hätten, würden keine Asylrelevanz in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan aufweisen. Daher müssten diese Gründe keiner Prüfung auf Glaubwürdigkeit und Wahrheit unterzogen werden. Im Fall der Rückkehr könne der gesunde und arbeitsfähige Revisionswerber wie bisher seinen Lebensunterhalt bestreiten und würde nicht in eine existenzielle Notlage geraten.
Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht und machte im Wesentlichen geltend, es bestehe die Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Taliban sowie der Verfolgung aufgrund seiner Ethnie. In diesem Zusammenhang verwies er darauf, dass er im Sinn einer (näher bezeichneten) UNHCR-Richtlinie zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender mehrere als Risikoprofile gekennzeichnete Merkmale in sich vereine.
Mit dem nunmehr beim Verwaltungsgerichtshof in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung die Beschwerde gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Unter einem erkannte es dem Revisionswerber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine bis 20. März 2016 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkte A.II. und A.III.).
Das Bundesverwaltungsgericht ging davon aus, der Revisionswerber sei afghanischer Staatsangehöriger, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und bekenne sich zum schiitischmuslimischen Glauben. Er habe bis zu seinem dritten Lebensjahr in Afghanistan in der Provinz Ghazni gelebt und sei dann wegen der dortigen Kriegswirren mit seinen Eltern und Geschwistern in den Iran gezogen. In Afghanistan besitze er weder ein familiäres noch soziales Netzwerk.
Aus den Feststellungen zum Heimatland des Revisionswerbers ergäben sich durchaus Hinweise auf die Vornahme von Zwangsrekrutierungen in Afghanistan. Diese würden jedoch keine Grundlage für die Annahme bilden, dass jeder afghanische Bürger jugendlichen Alters mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit gefährdet sei, von den Taliban oder anderen Bürgerkriegsparteien zwangsweise rekrutiert zu werden. Im Hinblick auf die "spezifische Situation" des Revisionswerbers seien auch keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Revisionswerber als Angehöriger der Ethnie der Hazara aktuell allein wegen dieser Volksgruppenzugehörigkeit in Afghanistan einer asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt wäre.
Es sei dem Revisionswerber aber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, weil er in Afghanistan und im Besonderen in der Provinz Ghazni über keine sozialen oder familiären Anknüpfungspunkte verfüge. Maßgeblich sei bei der Beurteilung auch, dass er Afghanistan im Alter von nur drei Jahren verlassen habe. Es hätten sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass der Revisionswerber in einer anderen Gegend Afghanistans Fuß fassen könnte. Unter Bedachtnahme auf die Feststellungen zur Versorgungslage in Afghanistan könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass seine Rückführung dorthin zu einer Verletzung seiner Rechte nach Art. 3 EMRK führen würden.
Die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG sei nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhänge. Es bestehe eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sowie eine klare Rechtslage.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision - diese richtet sich ausdrücklich nur gegen jenen Ausspruch, mit dem seine Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status eines Asylberechtigten abgewiesen wurde - nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Es habe sich nicht hinreichend mit der drohenden Verfolgung des Revisionswerbers aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit und aufgrund seines Glaubens auseinandergesetzt, sondern sich in seiner Begründung damit begnügt, asylrelevante Verfolgung aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit pauschal zu verneinen.
Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK kann nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 29. April 2015, Ra 2014/20/0151, mwN).
Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtes zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Demnach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte zudem (nur) dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgebenden Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse 28. April 2015, Ra 2014/19/0145, und vom 20. Mai 2015, Ra 2015/20/0067, jeweils mwN).
Im vorliegenden Fall geht das Bundesverwaltungsgericht zwar davon aus, dass der Revisionswerber der Volksgruppe der Hazara angehört, trifft aber zur Lage der Hazara keine Feststellungen. Ungeachtet dessen führt es im Rahmen der rechtlichen Beurteilung aus, im Hinblick auf die "spezifische Situation" des Revisionswerbers seien keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Revisionswerber allein wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit Verfolgung ausgesetzt sei.
Vor dem Hintergrund des Fehlens von - im Hinblick auf für die Begründung tragende Überlegungen: vom Verwaltungsgericht zu treffenden - maßgeblichen Feststellungen, die eine solche rechtliche Beurteilung ermöglicht hätten, kann nicht nachvollzogen werden, aus welchen Gründen das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis kommt, eine Verfolgungsgefahr aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit sei im vorliegenden Fall nicht gegeben.
Dies gilt zudem fallbezogen umso mehr, als anhand der zur Situation der Hazara in Afghanistan getroffenen Feststellungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (auf die das Bundesverwaltungsgericht allerdings gar nicht verweist) sich eine Gruppenverfolgung der Hazara nicht ohne Weiteres verneinen lässt. Dort ist nämlich von einer Verfolgung der Minderheit der Hazara durch die Taliban die Rede. Dass aber die Provinz Ghazni, aus der der Revisionswerber stammt, zu den konfliktbehaftetesten und gefährlichsten Regionen Afghanistans gehöre und in der Herkunftsregion des Revisionswerbers "derzeit eine faktische Herrschaft der Taliban und anderer jihaddistischer Gruppierungen" bestehe, hat das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Feststellungen selbst als gegeben angenommen.
Das angefochtene Erkenntnis war sohin im Spruchpunkt A.I. (im Umfang seiner Anfechtung) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 1 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. Oktober 2015
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