VwGH Ra 2015/08/0102

VwGHRa 2015/08/010225.11.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Gruber, über die Revision der W GmbH in S, vertreten durch die Schuppich Sporn & Winischhofer Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Falkestraße 6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. Juni 2015, L510 2104487-1/8E, betreffend Abweisung einer Säumnisbeschwerde in einem Verfahren nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Salzburger Gebietskrankenkasse in 5020 Salzburg, Engelbert-Weiß-Weg 10; weitere Partei:

Bundesminister für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §73 Abs1;
AVG §73 Abs2;
B-VG Art130 Abs1 Z3 idF 2012/I/051;
VwGVG 2014 §16 Abs1;
VwGVG 2014 §8 Abs1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Salzburger Gebietskrankenkasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit Eingaben vom 1. September bzw. 10. September 2014 stellte die Revisionswerberin bei der Salzburger Gebietskrankenkasse acht Anträge gemäß § 410 ASVG, es möge festgestellt werden, dass acht namentlich genannte Personen als Handelsvertreter nicht gemäß § 4 Abs. 2 ASVG der Voll- und Arbeitslosenversicherung unterlägen.

Die Gebietskrankenkasse entschied über diese Anträge bisher nicht. Nach Ablauf von sechs Monaten brachte die Revisionswerberin hinsichtlich aller acht Feststellungsanträge Säumnisbeschwerden beim Bundesverwaltungsgericht ein.

Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der Revisionswerberin wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß § 8 Abs. 1 VwGVG ab und erklärte die Revision gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

In seiner Begründung führte es unter Zugrundelegung der Stellungnahme der belangten Gebietskrankenkasse (GKK) zusammengefasst aus, die Feststellungsanträge seien während einer laufenden GPLA-Prüfung (gemeinsame Prüfung aller lohnabhängigen Abgaben) gestellt worden, in welcher auch die in den Feststellungsanträgen enthaltene Frage geprüft werde. Während der Entscheidungsfrist habe die Gebietskrankenkasse permanent Erhebungsschritte gesetzt. Aufgrund der Komplexität des Verfahrens und des damit verbundenen Erfordernisses noch weitere Ermittlungen zu tätigen, wobei zudem bundesländerübergreifende Erhebungen erforderlich seien, könne im konkreten Einzelfall nicht davon ausgegangen werden, dass diese Säumnis auf ein überwiegendes Verschulden der Gebietskrankenkasse zurückzuführen sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.

Die Salzburger Gebietskrankenkasse hat eine Revisionsbeantwortung erstattet und beantragt, die Revision als unbegründet abzuweisen.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 2 Z 1 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass der Verfahrensgegenstand das vorliegende Säumnisbeschwerdeverfahren ist. Zu prüfen ist, ob die Abweisung der Säumnisbeschwerden vor dem Hintergrund, die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde (im Folgenden GKK) treffe an der Verzögerung der Entscheidung kein überwiegendes Verschulden, rechtsrichtig war. Eine Überprüfung des auf die Revisionswerberin bezogenen GPLA-Verfahrens ist nicht Prozessgegenstand.

Im Ergebnis wendet sich die Revision gegen die Rechtsansicht des Bundesverwaltungsgerichtes, wonach der Behörde kein überwiegendes Verschulden an der Verzögerung anzulasten ist. Die Revision bringt erkennbar vor, dass bereits im Dezember 2014 die GKK alle acht betroffenen Handelsvertreter einvernommen gehabt habe und ihr sämtliche relevanten Unterlagen vorgelegen seien. Die Rechtssache sei somit bereits zu diesem Zeitpunkt entscheidungsreif gewesen. Durch die rechtswidrige Einbeziehung der acht Feststellungsanträge in die seit 2010 anhängige GPLA-Prüfung und die Durchführung weiterer Einvernahmen sei der Zeitpunkt der Entscheidung nicht absehbar. Es sei auch im Hinblick auf die Entscheidungsreife nicht nachvollziehbar, weshalb noch weitere Einvernahmen geplant seien. Die damit einhergehende überlange Verfahrensdauer sei nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unzulässig.

Die Revision ist zulässig. Sie ist auch berechtigt.

§ 73 Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz 1991 - AVG

lautet auszugsweise:

"§ 73. (1) Die Behörden sind verpflichtet, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, über Anträge von Parteien (§ 8) und Berufungen ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach deren Einlangen den Bescheid zu erlassen. ...

(2) Wird ein Bescheid, gegen den Berufung erhoben werden kann, nicht innerhalb der Entscheidungsfrist erlassen, so geht auf schriftlichen Antrag der Partei die Zuständigkeit zur Entscheidung auf die Berufungsbehörde über (Devolutionsantrag). Der Devolutionsantrag ist bei der Berufungsbehörde einzubringen. Er ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist."

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 51/2012 erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch eine Verwaltungsbehörde.

§ 8 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013, lautet:

"Frist zur Erhebung der Säumnisbeschwerde

§ 8. (1) Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) kann erst erhoben werden, wenn die Behörde die Sache nicht innerhalb von sechs Monaten, wenn gesetzlich eine kürzere oder längere Entscheidungsfrist vorgesehen ist, innerhalb dieser entschieden hat. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Antrag auf Sachentscheidung bei der Stelle eingelangt ist, bei der er einzubringen war. Die Beschwerde ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen ist.

(2) In die Frist werden nicht eingerechnet:

1. die Zeit, während deren das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung einer Vorfrage ausgesetzt ist;

2. die Zeit eines Verfahrens vor dem Verwaltungsgerichtshof, vor dem Verfassungsgerichtshof oder vor dem Gerichtshof der Europäischen Union."

Die Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG (Säumnisbeschwerde) dient - neben dem in § 73 Abs. 2 AVG in jenen Fällen, in denen auch nach Einführung der Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Rechtsstufe (noch ausnahmsweise) Berufung erhoben werden kann, vorgesehenen Devolutionsantrag - dem Rechtsschutz wegen Säumnis der Behörden. Zweck dieses Rechtsbehelfes ist es, demjenigen, der durch die Untätigkeit einer Behörde beschwert ist, ein rechtliches Instrument zur Verfügung zu stellen, um eine Entscheidung in seiner Sache zu erlangen (vgl. Pabel, Das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten Rz 82 in Fischer/Pabel/N. Raschauer, Handbuch der Verwaltungsgerichtsbarkeit).

Anders als in § 73 Abs. 2 AVG hat der Gesetzgeber, um diesen Zweck zu erreichen, im VwGVG nicht festgelegt, dass schon mit der Antragstellung die Zuständigkeit, die fragliche Sache zu erledigen, auf das angerufene Verwaltungsgericht übergeht. Vielmehr räumt § 16 Abs. 1 VwGVG der Verwaltungsbehörde von Gesetzes wegen die Möglichkeit ein, innerhalb einer Frist von drei Monaten den Bescheid zu erlassen, ohne dass es erforderlich wäre, dass ihr dafür vom Verwaltungsgericht eine Frist eingeräumt werden müsste. Wird der Bescheid erlassen oder wurde er vor Einleitung des Verfahrens erlassen, ist das Verfahren über die Säumnisbeschwerde einzustellen (§ 16 Abs. 1 zweiter Satz VwGVG). Nach ungenütztem Ablauf dieser Dreimonatsfrist geht die Zuständigkeit jedoch auf das Verwaltungsgericht über. Nach Vorlage der Beschwerde hat das Verwaltungsgericht zu prüfen, ob die Behörde tatsächlich säumig ist. Ist die Behörde zwar objektiv gesehen säumig, ist dies aber nicht auf ihr überwiegendes Verschulden zurückzuführen, hat das Verwaltungsgericht die Beschwerde abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in Fällen der Verletzung der Entscheidungspflicht zur Frage des überwiegenden Verschuldens der Behörde bereits ausgesprochen, dass der Begriff des Verschuldens der Behörde nach § 73 Abs. 2 AVG nicht im Sinne eines Verschuldens von Organwaltern der Behörde, sondern insofern "objektiv" zu verstehen ist, als ein solches "Verschulden" dann anzunehmen ist, wenn die zur Entscheidung berufene Behörde nicht durch schuldhaftes Verhalten der Partei oder durch unüberwindliche Hindernisse an der Entscheidung gehindert war (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 26. März 2015, 2012/07/0278, und vom 18. Dezember 2014, 2012/07/0087, jeweils mwN).

Der Umstand allein, dass es sich um eine komplexe Materie handelt, kann nicht ausreichen, um vom Vorliegen eines unüberwindlichen, einer im Sinn des § 73 Abs. 1 AVG fristgerechten Entscheidung entgegenstehenden Hindernisses auszugehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 18. Dezember 2014, 2012/07/0087). Gleiches hat für § 8 Abs. 1 letzter Satz VwGVG zu gelten.

Im gegenständlichen Fall wurden seitens der GKK alle acht Handelsvertreter, über deren rechtliche Qualifikation in den Feststellungsverfahren zu entscheiden sein wird, sowie weitere Firmenangehörige zu Art und Umfang der Tätigkeiten vernommen und (teils eingeforderte) Unterlagen zum Beschäftigungsverhältnis vorgelegt.

Die Behörde sieht es nach wie vor als unerlässlich an, weitere Einvernahmen von Personen, insbesondere zum Firmengeflecht der Revisionswerberin, aber auch wegen aufgetauchter Divergenzen in den bisherigen Aussagen durchzuführen. Dabei unterlässt sie es darzustellen, welche Personen zu welchen Beweisthemen in welchem Zeitrahmen einvernommen werden sollen, zumal sich die Behörde außerhalb ihrer Entscheidungsfrist bewegt.

Mit den Pauschalausführungen, "weitere Einvernahmen zu benötigen, um den Sachverhalt ausreichend feststellen zu können", "ein umfassendes Bild des Sachverhaltes zu erlangen" bzw. "durch die vielen Einvernahmen seien einige neue Fragen aufgeworfen worden und der durch die Handelsvertreter betreffend die Feststellungsanträge angegebene Sachverhalt würde in der Zusammenschau mit den durch das Finanzamt durchgeführten Niederschriften nicht mehr glaubwürdig erscheinen", legt die Behörde nicht dar, welche konkreten Beweisergebnisse fehlen, die weitere - zeitintensive - Ermittlungsschritte bedingen würden. Aus diesen abstrakten und wenig fallbezogenen Ausführungen kann nicht abgeleitet werden, dass unüberwindliche, einer im Sinn des § 8 Abs. 1 VwGVG iVm § 73 Abs. 1 AVG fristgerechten Entscheidung entgegenstehende Hindernisse vorliegen. Dass es in einem Verfahren unterschiedliche Beweisergebnisse zu einer Frage geben kann, ist systemimmanent. Es wäre Aufgabe der Behörde gewesen, nach Würdigung der (gegebenenfalls widersprüchlichen) Beweisergebnisse den Sachverhalt festzustellen und diesen einer rechtlichen Beurteilung zuzuführen.

Angesichts dessen ist die Beurteilung des Bundesverwaltungsgerichtes, dass die GKK das Verfahren zügig betrieben habe und die Verzögerung nicht auf ein überwiegendes Verschulden der Behörde zurückzuführen sei, unzutreffend.

Die angefochtene Entscheidung war daher wegen Rechtwidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Im fortzusetzenden Verfahren wird das Verwaltungsgericht aufgrund der der Behörde anzulastenden Säumnis inhaltlich zu entscheiden haben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013. Wegen der auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren geltenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 ASVG) war die Eingabegebühr nicht zu ersetzen.

Wien, am 25. November 2015

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