VwGH Ra 2014/18/0061

VwGHRa 2014/18/006113.11.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revision des H H in S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Juni 2014, Zl. W182 1415930- 1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §19 Abs1;
BFA-VG 2014 §20;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGVG 2014 §24;
AsylG 2005 §19 Abs1;
BFA-VG 2014 §20;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
VwGVG 2014 §24;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I. Sachverhalt und Revisionsverfahren

1. Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Helmand, reiste im Februar 2009 in das Bundesgebiet ein und stellte am 26. Februar 2009 in Schubhaft einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, die Taliban hätten von ihm und seinem Cousin verlangt, sich ihnen anzuschließen und für sie zu kämpfen. Weil sie sich geweigert hätten, sei der Cousin ermordet worden, dem Revisionswerber sei jedoch die Flucht gelungen.

2. Mit Bescheid vom 29. September 2010 wies das Bundesasylamt den Antrag des Revisionswerbers gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab und es wies ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nach Afghanistan aus. Begründend stützte sich die Asylbehörde vor allem darauf, dass dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers kein Glauben zu schenken sei. So habe er bei der Erstbefragung lediglich behauptet, sein Cousin sei von den Taliban mitgenommen worden und seither verschwunden, während er in einer späteren Einvernahme angegeben habe, der Cousin sei von den Taliban umgebracht und einige Tage nach seinem Verschwinden tot aufgefunden worden. Widersprüchlich habe der Revisionswerber auch ausgesagt, die Zusammenarbeit mit den Taliban sei nicht nur von ihm, sondern auch von den Leuten im Dorf abgelehnt worden, während er im Laufe der Einvernahme zugegeben habe, dass viele Andere im Dorf mit den Taliban sympathisiert hätten und für diese tätig gewesen seien. Völlig unglaubwürdig erscheine auch, dass der Revisionswerber nach der Beerdigung seines Cousins eine Anklage gegen die Taliban eingebracht haben wolle, dass er die Täter gekannt habe und er von der Witwe des ermordeten Cousins (nicht aber von seinem Onkel) versteckt worden sei. Schließlich habe er sein Vorbringen auch durch Vorlage zweier ihm übermittelter Drohbriefe gesteigert. Diese Schreiben seien jedoch auf seine Person "nicht abstimmbar". Die Schreiben seien so zu werten, dass sie eine Gefälligkeit für ihn darstellten und gezielt aus Afghanistan übermittelt worden seien. Die vom Revisionswerber vorgelegte Geburtsurkunde habe sich als Fälschung erwiesen. Zusammenfassend sei zu sagen, dass der Revisionswerber in den Einvernahmen wesentliche Steigerungen der Ereignisse vorgebracht habe und sein Vorbringen im Zusammenhang mit der Vorlage von Fälschungen als unglaubwürdig einzustufen sei.

3. In der gegen diese Entscheidung erhobenen Beschwerde vom 15. Oktober 2010 trat der Revisionswerber den beweiswürdigenden Erwägungen der erstinstanzlichen Behörde entgegen. Unter anderem führte er wörtlich aus:

"Den behaupteten Mangel an Glaubwürdigkeit meines Vorbringens versuche ich hiermit zu entkräften. Ich habe bei meinen Befragungen und Einvernahmen ausführlich zu meinem Fluchtgrund Stellung genommen. Zum Beweis meiner Identität habe ich meine Geburtsurkunde, zur Untermauerung meiner Aussage ein Lichtbild und zwei Drohbriefe aus meiner Heimat nach Österreich schicken lassen. Ich habe mich auch einverstanden erklärt, dass mein Vorbringen durch Erhebungen in meinem Heimatland überprüft wird. (...) Eine Überprüfung meines Vorbringens vor Ort wurde trotz behaupteter Unstimmigkeiten und meiner ausdrücklichen Zustimmung nicht durchgeführt. (...) Wenn also behauptet wird, dass meine vorgelegten Dokumente Totalfälschungen sind, frage ich mich, warum man das nicht vor Ort überprüft hat. Das wäre nicht schwer gewesen. Fakt ist, dass es in Afghanistan kein gut ausgebautes System der Staatsverwaltung gibt, schon gar nicht in der Provinz Helmand. Es wird im ganzen Land ein und dasselbe Papier für Ausweise verwendet und auch die Formvorschriften und Stempel sollten zwar einheitlich sein - dem ist aber nicht so. Man kann aber gerne bei der Ausstellungsbehörde nachfragen, ob die Dokumente echt sind oder nicht.

Mein Vorbringen ist in sich schlüssig. Ich habe bei meiner Aussage keine widersprüchlichen Angaben gemacht (...) Bezüglich der Aussage zum Verschwinden und der Ermordung meines Cousins möchte ich sagen, dass ich meine erste Aussage in Schubhaft vor Polizeibeamten gemacht habe, die nur eine kurze Äußerung zu meinem Fluchtgrund verlangt haben. Für weitere Ausführungen wurde ich auf die Aussage beim Bundesasylamt verwiesen. Bei dieser Befragung im Polizeianhaltezentrum Wien wurde vorwiegend über meine Identität und den Reiseweg gesprochen. Nähere Ausführungen zu meinem Fluchtgrund und somit auch zur Entführung und Ermordung meines Cousins habe ich dann auch bei der Einvernahme in Salzburg gemacht.

Im angefochtenen Bescheid wurde behauptet, dass ich einmal gesagt hätte, dass die anderen Dorfbewohner eine Zusammenarbeit mit den Taliban abgelehnt haben und einmal, dass die Dorfältesten und viele andere mit den Taliban sympathisiert haben. Die beiden Aussagen schließen einander nicht aus. Es gab Dorfbewohner, die, so wie ich, gegen die Taliban waren und andere, die mit den Taliban kooperierten oder zumindest sympathisierten.

Weiters wurde als unglaubwürdig betrachtet, dass ich nach der Beerdigung meines Cousins Anzeige in N erstattet habe und drei der Taliban namentlich genannt habe. Ich weiß nicht, warum das nicht nachvollzogen werden kann. Es war die einzige Hoffnung, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Dass ich drei der Taliban namentlich kannte, ist auch nicht weiter verwunderlich, da die lokalen Taliban praktisch alle aus unserer Region und unseren Dörfern rekrutiert werden. (...) Dass mich die Frau von Karim versteckt hat und nicht mein Onkel, lässt sich so erklären, dass ich sie als erste angetroffen habe. Da wir alle zusammen gewohnt haben, verstehe ich nicht, warum das nicht nachvollziehbar sein soll.

Außerdem wird mir vorgeworfen, dass ich mein Vorbringen durch die Vorlage der beiden Drohbriefe der Taliban gesteigert habe. (...) Dass der Beweiswert dieser beiden Schreiben nicht sehr groß ist, ist mir klar. (...). Mit dem im Schreiben Nr. 197 angeführten Ladeninhaber H, bin ich gemeint. Mit dem in Schreiben Nr. 187 angeführten A R ist der Dorfälteste gemeint. Die Schreiben sind echt. (...)"

4. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Bezug auf den begehrten Status eines Asylberechtigten ab. Im Übrigen hob es den erstinstanzlichen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG auf und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Zur Begründung seiner Entscheidung hielt das BVwG zusammengefasst fest, es könne nicht festgestellt werden, dass der Revisionswerber von den Taliban im Zusammenhang mit der Weigerung, für sie zu kämpfen, verfolgt werde. Wie das Bundesasylamt in seiner Beweiswürdigung zutreffend ausgeführt habe, sei der Revisionswerber nicht in der Lage gewesen, sein bereits in der Erstbefragung kurz geschildertes Fluchtvorbringen beim Bundesasylamt in wesentlichen Punkten gleichbleibend darzulegen. Dies insbesondere deshalb, weil der Revisionswerber sein Vorbringen zwischen Erstbefragung und Einvernahme beim Bundesasylamt wesentlich gesteigert habe. Hinzu komme, dass sich vom Revisionswerber vorgelegte Urkunden als Fälschung erwiesen hätten und seine dafür in der Beschwerde gegebene Erklärung eine bloße Schutzbehauptung sei. Da somit nicht ausreichend wahrscheinlich sei, dass der Revisionswerber in seiner Heimat in asylrelevanter Weise bedroht wäre, sei die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten zu Recht erfolgt.

Im Übrigen sei der Beschwerde jedoch Folge zu geben, weil die Behörde erster Instanz zur Sicherheitslage in der Heimatprovinz des Revisionswerbers keine Feststellungen getroffen und auch keine hinreichenden Ermittlungen zur Zumutbarkeit einer allfälligen internen Fluchtalternative angestellt habe.

Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG im Wesentlichen damit, dass die Beschwerde hinsichtlich der Zuerkennung von Asyl "kein (rechtlich relevantes) neues bzw. kein ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe" enthalten habe und der Revisionswerber "in der Beschwerde auch den seitens der Behörde erster Instanz getätigten beweiswürdigenden Ausführungen in den entscheidungswesentlichen Punkten nicht in ausreichend konkreter Weise entgegengetreten" sei. Zu den klärungsbedürftigen Fragen, die zur (teilweisen) Aufhebung des erstinstanzlichen Bescheides führten, habe die Durchführung einer Verhandlung gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG entfallen können.

5. Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit und in der Sache vorgebracht wird, das BVwG habe zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen. Ein Sachverhalt sei nicht als geklärt anzusehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung - wie im vorliegenden Fall - im Rechtsmittel substantiiert bekämpft worden sei.

6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

II. Rechtslage

1. § 24 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) lautet auszugsweise:

"Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn

1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder

2. (...).

(...)"

2. § 21 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) lautet auszugsweise:

"Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht

§ 21. (1) (bis) (6) (...)

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG."

3. § 19 AsylG 2005 lautet auszugsweise:

"Befragungen und Einvernahmen

§ 19. (1) Ein Fremder, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes nach Antragstellung oder im Zulassungsverfahren in der Erstaufnahmestelle zu befragen. Diese Befragung dient insbesondere der Ermittlung der Identität und der Reiseroute des Fremden und hat sich nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen. (...)"

III. Erwägungen

  1. 1. Die Revision ist zulässig und begründet.
  2. 2. Mit Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, hat der Verwaltungsgerichtshof erkannt, dass ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig ist:

    Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

    3. Diese in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

3.1. Der Revisionswerber hat die erstinstanzliche Beweiswürdigung in seiner Beschwerde nicht bloß unsubstantiiert bestritten, sondern er ist den beweiswürdigenden Erwägungen konkret und im Einzelnen entgegen getreten. Schon deshalb lagen die Voraussetzungen für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung nicht vor.

3.2. Hinzu kommt, dass sich das BVwG den - tragenden - beweiswürdigenden Erwägungen des Bundesasylamts, der Revisionswerber habe seine Angaben im Laufe des Verfahrens im Vergleich zu jenen der Erstbefragung vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gesteigert, angeschlossen hat. Dabei lässt sich nicht erkennen, dass die in der Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts bereits aufgezeigten Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung, die sich nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, in die Erwägungen eingeflossen wären (vgl. etwa VfGH vom 20. Februar 2014, U 1919/2013-15, U 1921/2013-16, und VwGH vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, Punkt 6.3. der Erwägungen). Da die Begründung der erstinstanzlichen Beweiswürdigung somit nicht mängelfrei erfolgte, durfte das BVwG sie auch nicht ohne weiteres übernehmen und die so gewonnenen Feststellungen ohne mündliche Verhandlung seiner Entscheidung zugrunde legen.

3.3. Die Entscheidung über die Beschwerde des Revisionswerbers setzte daher eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG voraus, von der zu Unrecht Abstand genommen worden ist.

4. Das angefochtene Erkenntnis war daher - auch in Bezug auf die aufbauenden Entscheidungen betreffend den subsidiären Schutz und die Ausweisung - zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 13. November 2014

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