Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 908,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine aus Kabul stammende Staatsangehörige von Afghanistan, reiste am 9. März 1998 zusammen mit ihrem 1981 geborenen Sohn in das Bundesgebiet ein und beantragte, ebenso wie ihr Sohn, am 10. März 1998 Asyl. Bei ihren Einvernahmen vor dem Bundesasylamt am 11. März und 30. April 1998 gab die Beschwerdeführerin an, dass sie und ihr Ehemann zur schiitischen Minderheit in Afghanistan gehörten. Am 31. Dezember 1997 sei ihr Ehemann von den Taliban festgenommen worden und sei seither verschwunden. Sie und ihr Sohn seien geflüchtet, weil die Taliban sonst auch sie wegen ihrer Zugehörigkeit zu der von den Taliban unerwünschten schiitischen Minderheit verhaftet hätten. Der ebenfalls dieser Minderheit angehörende Schwager der Beschwerdeführerin sei von den Taliban bereits umgebracht worden. Weiters gab die Beschwerdeführerin an, in Afghanistan insofern Probleme gehabt zu haben, als sie sich hauptsächlich zu Hause habe aufhalten müssen, sich nicht habe frei bewegen dürfen und gezwungen gewesen sei, einen Schleier zu tragen. Im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan fürchte sie, von den Taliban sofort umgebracht zu werden.
Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 6. Oktober 1998 den Asylantrag gemäß § 7 AsylG ab. Es stellte fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Afghanistan gemäß § 8 AsylG derzeit nicht zulässig sei. Das Bundesasylamt begründete seine Entscheidung im Asylpunkt damit, dass die Beschwerdeführerin keinerlei Umstände angegeben habe, "die auf eine individuelle Verfolgung durch staatliche bzw. quasi-staatliche Institutionen" aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe hindeuten würden. Die von der Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensgemeinschaft behaupteten Verfolgungshandlungen seien nicht glaubwürdig. Im Übrigen habe die Beschwerdeführerin mit den Taliban keine Probleme gehabt, weil sie sich immer an deren Vorschriften gehalten hätte. Somit liege eine durch Übergriffe radikaler Taliban verursachte begründete Furcht nicht vor.
In der Berufung gegen diese Entscheidung brachte die Beschwerdeführerin u.a. vor, das Bundesasylamt habe es unterlassen, als weitere Fluchtgründe ihre Lage als allein stehende Frau, die von den Taliban als "Freiwild" angesehen werde, in Verbindung mit dem vom Taliban-Regime ausgehenden Terror in Afghanistan zu berücksichtigen. Darüber hinaus machte die Beschwerdeführerin auch geltend, dass sie als Frau in Afghanistan einer generell verfolgten Gruppe angehöre, worauf das Bundesasylamt zu Unrecht überhaupt nicht eingegangen sei.
Die belangte Behörde führte am 25. November und 11. Dezember 1998 eine mündliche Berufungsverhandlung durch. In dieser Verhandlung gaben die Beschwerdeführerin und deren minderjähriger Sohn, dessen Asylantrag mit einem gesonderten Bescheid vom Bundesasylamt ebenfalls abgewiesen worden war, an, Schiiten zu sein und zur Volksgruppe der Qizilbasch zu gehören. Die belangte Behörde holte unter anderem ein Sachverständigengutachten zur derzeitigen Lage der Qizilbasch-Schiiten sowie zur Lage von Frauen in Afghanistan ein.
In diesem Gutachten wird unter anderem festgestellt, dass die so genannten "Imami-Schiiten" in Afghanistan sich aus drei Hauptgruppen zusammensetzen, den Hazara, den Farsiwan und den Qizilbasch; weiters gebe es in Afghanistan schiitische Tadschiken. Sämtliche schiitische Gruppen seien diskriminiert, am schlimmsten sei die Gruppe der Hazara verfolgt. Über Verfolgungsmaßnahmen der Taliban gegen die Qizilbasch, die Farsiwan und die schiitischen Tadschiken lägen "keine Informationen" vor. Allerdings wäre es möglich, dass in den diversen Dokumenten zur Menschenrechtssituation in Afghanistan unter dem Taliban-Regime die Qizilbasch unter die Hazara bzw. deren politische Organisationen subsumiert würden, zumal es eine politische Zusammenarbeit zwischen den einzelnen schiitischen Gruppen gebe. Des weiteren könnte eine Verfolgung der Qizilbasch auch im Zusammenhang mit den gespannten Beziehungen zwischen dem Taliban-Regime und dem Irak stehen. Zur derzeitigen Lage der Frauen in den Taliban-Gebieten wurde im Gutachten festgestellt, dass die von den Taliban erlassenen Beschränkungen für Frauen - wie die Verwehrung von Bildungs- und Berufsmöglichkeiten, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Zwang, einen Schleier zu tragen - nach wie vor aufrecht seien. Weiters wurde im Gutachten ausgeführt:
"Auch Frauen wie die Asylwerberin, die verheiratet und Analphabetinnen sind und von den bildungspolitischen Maßnahmen der Taliban und ihrem Kleidungs- und Verhaltenskodex nicht direkt betroffen sind, haben unter der allgemeinen Frauenpolitik der Taliban zu leiden. Insbesondere betrifft dies die nur eingeschränkten Möglichkeiten der medizinischen Versorgung von Frauen. Das Arbeitsverbot betrifft auch Frauen, die auf Grund der allgemeinen Not, dem Verlust von männlichen Familienangehörigen (z.B. Witwen, Frauen inhaftierter Männer) dazu gezwungen sind, einer Arbeit nachzugehen um ihre Familie ernähren zu können. Da zudem ein Großteil der Bevölkerung Kabuls auf die Unterstützung durch internationale Hilfsorganisationen angewiesen ist, sind die Frauen des weiteren auch von den NGOs und UN-Organisationen auferlegten Beschränkung in Bezug auf die Beschäftigung afghanischer Frauen bzw. dem Kontaktverbot mit afghanischen Frauen betroffen. Auf Grund dieser umfassenden frauenfeindlichen Politik betrachtet Amnesty International die Frauen Afghanistans wegen der für das weibliche Geschlecht geltenden Repressionen als Gewissensgefangene."
In der Berufungsverhandlung vom 11. Dezember 1998 ergänzte der Sachverständige sein Gutachten zur Situation der Qizilbasch in Afghanistan u.a. dahin, dass aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen weiterhin nicht klar sei, ob auch Angehörige der Qizilbasch-Schiiten verfolgt würden, jedoch habe sich die Lage mittlerweile insofern geändert, als sich auch die Gebiete von Mazar-I-Sharif und Bamiyan nunmehr unter der Kontrolle der Taliban befänden, wodurch sich die Lage relativ beruhigt habe und von einer Verfolgung der Schiiten allein aus dem Grund ihrer Glaubenszugehörigkeit nicht mehr die Rede sein könne, sondern die Verfolgung gegen die Taliban Widerstand leistende schiitische oppositionelle Gruppierungen betreffe.
Zur Lage der Frauen in Afghanistan unter dem Taliban-Regime ergänzte der Sachverständige sein Gutachten wie folgt:
"Leider sind die Frauen seit der Herrschaft der Taliban von der medizinischen Versorgung beinahe ausgeschlossen, weil sie nicht vom männlichen Personal behandelt werden dürfen, und da die Frauen nicht arbeiten dürfen, gibt es wenig afghanisches weibliches medizinisches Personal, welches die Frauen behandeln könnte. Darüber hinaus gibt es ebensowenig medizinische Versorgungsstätten. Das ausländische Personal kann nur unter strenger Bewachung durch die Taliban arbeiten, und es kann nicht ohne weiteres die notwendige medizinische Versorgung durchführen. (...) Aufgrund des medizinischen Ressourcenmangels können heutzutage weniger afghanische Männer und Frauen eine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen. Die medizinischen Ressourcen können nur 10 % der Afghanen erreichen, davon 8 % männliche und, aus den oben angeführten Gründen, 2% weibliche Personen (jeweils incl. aller Altersstufen)."
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung gemäß § 7 AsylG ab. Sie unterzog den Fall einer rechtlichen Würdigung unter zwei Gesichtspunkten. Zum einen habe die Beschwerdeführerin behauptet, einer asylrelevanten Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensrichtung ausgesetzt gewesen zu sein, zum anderen begründe ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht als solche asylrelevante Verfolgung. Zum ersten Asylgrund meinte die belangte Behörde zunächst, die behauptete Ermordung des Schwagers und die Verschleppung des Ehegatten seien "wenig wahrscheinlich, wenngleich zum damaligen Zeitpunkt nicht unmöglich". Freilich komme es auf die Glaubwürdigkeit der unter diesem Gesichtspunkt behaupteten Verfolgung im gegenständlichen Fall gar nicht mehr an, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung der belangten Behörde die Ausführungen des Sachverständigen in der Berufungsverhandlung vom 11. Dezember 1998 zu berücksichtigen seien, wonach sich die Haltung der Taliban gegenüber den Schiiten insofern gemäßigt habe, als nunmehr von einer systematischen Verfolgung der Schiiten allein aus dem Grund ihrer Glaubenszugehörigkeit nicht (mehr) die Rede sein könne, sondern nur noch "von politischen Verfolgungen gegen die Opposition die Rede (ist); d. h. wenn die schiitischen oppositionellen Gruppierungen (Wahdat-Partei) gegen die Taliban Widerstand leisten, werden sie schwerstens verfolgt." Daher hätten jedenfalls Angehörige der Qizilbasch derzeit wegen ihrer Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensrichtung in Afghanistan keine asylrelevante Verfolgung mehr zu befürchten. Zum zweiten geltend gemachten Asylgrund der "Gruppenverfolgung wegen Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht" könne aus dem alleinigen Umstand, dass innerhalb derjenigen Minderheit der Personen, die derzeit in Afghanistan eine medizinische Versorgung in Anspruch nehmen (können), der Anteil der Angehörigen des männlichen Geschlechts überwiege, "aufgrund der weitgehend geschlechtsneutralen Streuung dieser unmenschlichen Behandlung" eine asylrelevante Verfolgung der Angehörigen des weiblichen Geschlechts nicht abgeleitet werden. Bei der Berufungswerberin handle es sich um eine Analphabetin, welche ihrem eigenen Vorbringen zufolge seinerzeit in Afghanistan sich "hauptsächlich zu Hause" aufgehalten und "einen Schleier angehabt" habe. Die Berufungswerberin gehöre daher nicht zur Gruppe "gebildeter, vormals berufstätiger Frauen, denen jede weitere Berufs- und Bildungsmöglichkeit verwehrt wurde und denen nun der Schleier, ein von ihnen vormals nicht verwendetes Kleidungsstück, aufgezwungen wird" und die demnach von den von den Taliban erlassenen Beschränkungen für Frauen besonders betroffen seien. Die vom Sachverständigen angeführte Benachteiligung von Frauen durch das für sie geltende "Arbeitsverbot" betreffe "Frauen, die auf Grund der allgemeinen Not, auf Grund eines Verlustes von männlichen Familienangehörigen etc. dazu gezwungen seien, einer Arbeit nachzugehen, um ihre Familie ernähren zu können". Diese Situation treffe auf die Beschwerdeführerin insofern nicht zu, als sie aller Voraussicht nach nicht ohne ihren am 2. März 1981 geborenen Sohn allenfalls nach Afghanistan zurückkehren müsste und daher auf Grund der zu erwartenden Fürsorge ihres Sohnes "vom Arbeitsverbot nicht in existenzieller Weise betroffen" wäre.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 99/20/0483, in Bezug auf die von der belangten Behörde festgestellten Maßnahmen der Taliban gegenüber Frauen erkannt, dass diese gegen die Frauen insgesamt oder gegen bestimmte Gruppen der weiblichen Bevölkerung gerichteten Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt der drohenden Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu würdigen waren (vgl. dazu die Nachweise im zitierten Erkenntnis vom 16. April 2002).
In diesem Erkenntnis, auf dessen Begründung gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof erkannt, dass bei Betrachtung der von der belangten Behörde festgestellten Eingriffe der Taliban in die Lebensbedingungen der afghanischen Frauen in ihrer Gesamtheit kein Zweifel bestehen kann, dass hier einer der Fälle vorliegt, in denen eine Summe von Vorschriften gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe in Verbindung mit der Art ihrer Durchsetzung von insgesamt so extremer Natur ist, dass die Diskriminierung das Ausmaß einer Verfolgung im Sinne der Flüchtlingskonvention erreicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat in dieser Hinsicht vor allem den durch die systematische Behinderung der medizinischen Versorgung und das Fehlen von Ausnahmen von den verordneten Regeln, was zumindest im Umkreis der zuvor auch der weiblichen Bevölkerung zugänglichen Einrichtungen eine unmittelbare Bedrohung des Lebens bedeutete, gekennzeichneten Verfolgungscharakter hervorgehoben. Mit dem Argument der belangten Behörde, die fehlende medizinische Versorgung eines Großteils der Gesamtbevölkerung Afghanistans bewirke eine "weitgehend geschlechtsneutrale Streuung dieser unmenschlichen Behandlung", wird nicht dargetan, dass die aus Kabul stammende Beschwerdeführerin von den diesbezügliche Maßnahmen der Taliban nicht betroffen war. Da es im hier gegebenen Zusammenhang aus den im oben zitierten hg. Erkenntnis näher dargestellten Gründen auch nicht darauf ankommt, ob gegen diese und andere diskriminierende Regeln vom konkret betroffenen Asylwerber ein Zuwiderhandeln zu erwarten wäre, ist es auch nicht bedeutsam, ob für die Beschwerdeführerin die Möglichkeit bestanden hätte, nach dem Verschwinden ihres Ehemannes von ihrem Sohn versorgt und beim Verlassen ihres Hauses begleitet zu werden.
Hätte sich die belangte Behörde in einer ganzheitlichen Würdigung der festgestellten Beeinträchtigungen der Frage gestellt, ob der Beschwerdeführerin unter dem Gesichtspunkt der von den Taliban gegen Frauen getroffenen Maßnahmen "Verfolgung" drohte, so hätte die belangte Behörde schon aus diesem Grund zu einer anderen Beurteilung gelangen müssen. Es braucht daher nicht mehr darauf eingegangen zu werden, ob auch die wegen deren Zugehörigkeit der Beschwerdeführerin zur Gruppe der Qizilbasch-Schiiten sowie im Hinblick auf die gegen ihren Ehegatten und ihren Schwager bereits gesetzten Maßnahmen geltend gemachte Verfolgungsgefahr im entscheidungsrelevanten Zeitpunkt noch gegeben war.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2001.
Wien, am 20. Juni 2002
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