Normen
AVG §38;
AVG §47;
PaßG 1992 §4;
StbG 1985 §39;
StbG 1985 §44 Abs1;
ZPO §292 Abs1;
AVG §38;
AVG §47;
PaßG 1992 §4;
StbG 1985 §39;
StbG 1985 §44 Abs1;
ZPO §292 Abs1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.950,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
1. Mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien (der belangten Behörde) vom 23. Juni 1997 wurde das Verfahren betreffend Ausstellung eines österreichischen Reisepasses an die Beschwerdeführerin gemäß § 38 AVG "bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage durch das Amt der Wiener Landesregierung (Feststellung der österreichischen Staatsbürgerschaft) ausgesetzt".
Die Beschwerdeführerin habe am 4. Februar 1997 bei der Erstbehörde (Bundespolizeidirektion Wien, Bezirkspolizeikomissariat Hietzing) einen Antrag auf Ausstellung eines österreichischen Reisepasses gestellt. Bei den daraufhin durchgeführten Erhebungen sei hervorgekommen, daß die Niederösterreichische Landesregierung mit Bescheid vom 10. April 1987 festgestellt habe, daß die Beschwerdeführerin die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besäße. Zwar sei dieser Bescheid mit Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 22. Juni 1994, Zl. 93/01/0016, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben worden, doch bestünden nach wie vor berechtigte Zweifel, ob die Beschwerdeführerin tatsächlich österreichische Staatsbürgerin sei und damit die für die Ausstellung eines Reisepasses wesentliche Voraussetzung erfülle.
Mit Schreiben vom 4. März 1997 habe das Amt der Wiener Landesregierung (der Erstbehörde) mitgeteilt, daß nunmehr bei der dortigen Behörde ein Verfahren zur Feststellung der Staatsbürgerschaft der Beschwerdeführerin und ihres Sohnes anhängig wäre. Die Beschwerdeführerin habe anläßlich ihrer Einvernahme am 19. März 1997 (vor der Erstbehörde) bestätigt, daß sie von diesem Feststellungsverfahren Kenntnis hätte.
Da für das anhängige Verwaltungsverfahren betreffend die Ausstellung eines Reisepasses an die Beschwerdeführerin die Klärung, ob sie die österreichische Staatsbürgerschaft besitze, eine wesentliche Vorfragen, die bereits Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde sei, darstelle, sei die Erstbehörde berechtigt gewesen, das Verfahren i.S. des § 38 AVG auszusetzen.
Eine Verpflichtung der Erstbehörde, diese für ihr Verfahren wesentliche Vorfrage selbständig zu entscheiden, sei dem Gesetz nicht zu entnehmen. Vielmehr räume § 38 zweiter Satz AVG der Behörde ausdrücklich die Möglichkeit ein, das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage auszusetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bilde oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht werde. Die Behörde sei in diesem Fall auch nicht verpflichtet darzulegen, aus welchen Gründen sie von der im § 38 erster Satz AVG normierten Berechtigung, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, aus eigenem zu beurteilen, keinen Gebrauch mache.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Begehren, ihn aus diesen Gründen kostenpflichtig aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in der von ihr erstatteten Gegenschrift die Abweisung der Beschwerde als unbegründet.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1.1. § 38 AVG lautet:
"Sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, ist die Behörde berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheid zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird."
1.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter einer Vorfrage i.S. des § 38 AVG eine für die Entscheidung in der Hauptsache präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden ist. Präjudiziell - und damit Vorfragenentscheidung in verfahrensrechtlich relevantem Sinn - ist nur eine Entscheidung, die erstens eine Rechtsfrage betrifft, deren Beantwortung für die Hauptfragenentscheidung unabdingbar (d.h. eine notwendige Grundlage) ist, und die zweitens diese Rechtsfrage in einer die Verwaltungsbehörde bindenden Weise regelt (vgl. etwa die bei Hauer/Leukauf, Handbuch des österreichischen Verwaltungsverfahrens5, Wien 1996, S. 246 unter E 3 zitierten Entscheidungen; ebenso Walter/Mayer, Verwaltungsverfahrensrecht6, Wien 1995, Rz 306).
2. Gemäß § 4 erster Satz Paßgesetz 1992 dürfen (u.a.) gewöhnliche Reisepässe nur für Personen ausgestellt werden, die die (österreichische) Staatsbürgerschaft besitzen.
Über die Frage allein (nur für sich), ob eine bestimmte Person die Staatsbürgerschaft besitzt, hat die Landesregierung (§ 39 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985) zu entscheiden. Diese von der Landesregierung als Hauptfrage zu entscheidende Rechtsfrage stellt im Hinblick auf § 4 erster Satz Paßgesetz 1992 für die zur Ausstellung eines Reisepasses zuständige Behörde (§ 16 Abs. 1 leg. cit.) eine Vorfrage dar. Die Entscheidung der Staatsbürgerschaftsfrage ist für die von der Paßbehörde zu treffende Hauptfragenentscheidung - Ausstellung eines Reisepasses - eine unabdingbare (unentbehrliche) Grundlage, welche die Paßbehörde bindet (vgl. Walter/Mayer, a.a.O., Rz 308).
3.1. Die Beschwerde vertritt unter dem Titel inhaltlicher Rechtswidrigkeit die Auffassung, daß im vorliegenden Fall "keine (wesentliche) Vorfrage im Sinne des § 38 AVG vorlag", welche die Behörde erster Instanz zur Unterbrechung des Verfahrens berechtigt hätte. Es sei weder ein anhängiges Verfahren bei der zuständigen Behörde über eine zu beurteilende Vorfrage vorgelegen noch sei ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht worden. Vielmehr sei das Verfahren über die Frage der Staatsbürgerschaft der Beschwerdeführerin "seit Ausstellung des Staatsbürgerschaftsnachweises, Zl. 001323/97, vom 17.1.1997, durch das Magistrat der Stadt Wien, MA 61, rechtskräftig abgeschlossen".
3.2. Dieses Vorbringen führt die Beschwerde im Ergebnis zum Erfolg. Aus den vorgelegten Akten ist ersichtlich, daß die Beschwerdeführerin ihren bei der Erstbehörde am 4. Februar 1997 eingelangten "Antrag auf Ausstellung eines österreichischen Reisepasses" unter gleichzeitigter Vorlage (u.a.) des Staatsbürgerschaftsnachweises vom 17. Jänner 1997, Zl. 001323/97, gestellt hat. In dieser vom "Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 61" ausgestellten Urkunde wird bestätigt: "Ariane Irene Gießmann, geboren am 29. April 1952 in Gmünd, wohnhaft in Wien, besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft". Mit der Vorlage dieser öffentlichen Urkunde hat die Beschwerdeführerin den Nachweis geführt, daß sie "die Staatsbürgerschaft besitzt" (§ 44 Abs. 1 Staatsbürgerschaftsgesetz 1985; § 47 erster Satz AVG iVm § 292 Abs. 1 ZPO).
Die belangte Behörde hat nun zwar im angefochtenen Bescheid ausgeführt, daß ihrer Meinung nach im Hinblick auf den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 10. April 1987, mit dem ausgesprochen worden sei, daß die Beschwerdeführerin die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitze, ungeachtet dessen, daß dieser Bescheid vom Verwaltungsgerichtshof aufgehoben worden sei (Erkenntnis vom 22. Juni 1994, Zl. 93/01/0016), "nach wie vor berechtigte Zweifel (bestehen), ob die Berufungswerberin tatsächlich österreichische Staatsbürgerin ist", mit der Folge, daß "nunmehr" bei der Wiener Landesregierung ein Verfahren zur Feststellung der Staatsbürgerschaft der Beschwerdeführerin anhängig sei. Damit hat sie, wenn auch - mangels jeglicher Bezugnahme auf den vorgelegten Staatsbürgerschaftsnachweis - nicht ausdrücklich, so doch implizit, Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit dessen, was in der besagten beweisenden Urkunde bestätigt wurde, zum Ausdruck gebracht. Die geäußerten Zweifel entbehren indes einer nachvollziehbaren Begründung. Die Tatsache der Anhängigkeit eines die Staatsbürgerschaft der Beschwerdeführerin betreffenden Feststellungsverfahrens vermochte jedenfalls eine solche Begründung nicht zu ersetzen.
Von daher gesehen hatte die belangte Behörde für ihre Entscheidung über den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ausstellung eines Reisepasses von der vollen Beweiskraft des Staatsbürgerschaftsnachweises hinsichtlich dessen inhaltlicher Richtigkeit auszugehen. Solcherart war die belangte Behörde gehalten, das nach § 4 erster Satz Paßgesetz 1992 für die Paßausstellung wesentliche Tatbestandsmoment des Besitzes der österreichischen Staatsbügerschaft in Ansehung der Beschwerdeführerin als erfüllt anzusehen. Allein dann, wenn die belangte Behörde Bedenken dargetan hätte, die geeignet wären, begründete Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des Staatsbürgerschaftsnachweises zu wecken, hätte sie die Frage, ob die Beschwerdeführerin die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt, offen lassen und das bei ihr anhängige Verfahren unter Berufung auf § 38 zweiter Satz AVG bis zur Entscheidung der Wiener Landesregierung in dem dort geführten Feststellungsverfahren betreffend die Staatsbürgerschaft der Beschwerdeführerin aussetzen dürfen.
4. Da aus dem angefochtenen Bescheid nicht ersichtlich ist, ob die belangte Behörde die Rechtslage insoweit verkannte - sie nahm auf den vorgelegten Staatsbürgerschaftsnachweis der Beschwerdeführerin mit keinem Wort Bezug - oder sie es bloß (allenfalls aus Versehen) unterlassen hat, sich mit der vorstehend erörterten, als wesentlich erkannten Frage in der Bescheidbegründung auseinanderzusetzen, war der in Beschwerde gezogene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.
5. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 und 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
6. Bei diesem Ergebnis erübrigte sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
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