Normen
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.890,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die am 10. Juli 1950 geborene Beschwerdeführerin beantragte am 15. April 1994 durch ihren Sachwalter (rückwirkend für fünf Jahre) die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe. Zur Begründung verwies die Beschwerdeführerin auf eine ärztliche Bescheinigung der Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck vom 8. April 1994, wonach die Beschwerdeführerin seit Jugend an einer Grenzbegabung und Cyklothymie leide und auf Grund dieses Leidens bzw. Gebrechens der Grad der Behinderung 60 % betrage. Wegen fehlender Therapiemöglichkeiten sei die Beschwerdeführerin darüber hinaus voraussichtlich dauernd außerstande, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Das Finanzamt wies den Antrag der Beschwerdeführerin als unbegründet ab. § 6 Abs. 5 Familienlastenausgleichsgesetz 1967 verlange, dass sich der Anspruchsberechtigte weitgehend selbst erhalte, was auf die Beschwerdeführerin nicht zutreffe, da sie ihren Lebensunterhalt ausschließlich mit Hilfe staatlicher Zuwendungen (Sozialhilfe nach dem Tiroler Sozialhilfegesetz) bestreite.
In der vom Sachwalter für die Beschwerdeführerin erhobenen Berufung wird dem entgegengehalten, die Ausnahmebestimmung des § 6 Abs. 5 FLAG 1967 sei im Beschwerdefall nicht anwendbar, da sich die Beschwerdeführerin nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinde.
Die belangte Behörde ersuchte mit Schreiben vom 2. August 1995 das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen Tirol um die Erstellung eines Gutachtens, ob und gegebenenfalls seit wann die Beschwerdeführerin voraussichtlich dauernd außerstande sei, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
In der Stellungnahme des Bundessozialamtes Tirol wird der Beschwerdeführerin auf Grund der Kombination von Grenzbegabung, cykloider Persönlichkeitsstruktur und Persönlichkeitsauffälligkeiten ein Behinderungsgrad von 60 % bescheinigt. Weiters wird darin festgehalten, dass die Erwerbsunfähigkeit erst nach dem 21. Lebensjahr eingetreten sei, da die Beschwerdeführerin vorher bei verschiedenen Reinigungsfirmen eine normale Tätigkeit ausgeübt sowie auch drei Jahre in Deutschland gearbeitet habe.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung als unbegründet ab. Laut Aktenlage befinde sich die Beschwerdeführerin zwar weder in Anstaltspflege noch auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung, doch stehe der Gewährung der Familienbeihilfe entgegen, dass die Beschwerdeführerin laut Gutachten des Bundessozialamtes erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres erwerbsunfähig geworden sei.
Über die dagegen erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Gemäß § 6 Abs. 5 Familienlastausgleichsgesetz 1967 (im folgenden: FLAG) haben Kinder, deren Eltern ihnen nicht überwiegend Unterhalt leisten und die sich nicht auf Kosten der Jugendwohlfahrtspflege oder der Sozialhilfe in Heimerziehung befinden unter den selben Voraussetzungen Anspruch auf Familienbeihilfe, unter denen eine Vollwaise Anspruch auf Familienbeihilfe hat.
Gemäß § 6 Abs. 2 lit. d FLAG haben volljährige Vollwaisen Anspruch auf Familienbeihilfe, wenn sie wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, und sich in keiner Anstaltspflege befinden.
Im gegenständlichen Fall ist ausschließlich strittig, ob die die Erwerbsunfähigkeit der Beschwerdeführerin bedingende Behinderung bereits vor Vollendung deren 21. Lebensjahres eingetreten ist.
Die belangte Behörde stützt ihre diesbezügliche Annahme auf die Feststellung im Gutachten des Bundessozialamtes, die ihrerseits auf ein (aktenkundiges) nervenärztliches Gutachten vom 14. November 1995 zurückgeht. Darin wird zu diesem Punkt ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe in der Anamnese selbst angegeben, sie habe (nach Vollendung des 21. Lebensjahres) in Innsbruck bei verschiedenen Reinigungsfirmen eine normale Tätigkeit ausgeübt. Weiters heißt es in diesem Gutachten unter dem Punkt "soziale Anamnese", die Beschwerdeführerin sei als Kleinkind in einem Heustadel gefunden, anschließend in verschiedenen Heimen aufgewachsen, in der Folge als Mithilfe auf einem Bauernhof und als Haushaltshilfe tätig gewesen sowie in der Beschäftigungstherapie als Weißnäherin angelernt worden. Anschließend habe sie drei Jahre als Prostituierte in Deutschland verbracht.
In der Beschwerde wird dazu vorgebracht, der Sachwalter der Beschwerdeführerin habe am 1. März 1996 zu diesen gutachtlichen Feststellungen Stellung genommen und darauf hingewiesen, bei den ausgeübten Beschäftigungen habe es sich um keine "normalen Tätigkeiten" gehandelt. Vielmehr seien die drei Jahre, in denen die Beschwerdeführerin laut Gutachten des Bundessozialamtes in Deutschland gearbeitet habe, jene drei Jahre gewesen, in denen die Beschwerdeführerin in Deutschland zur Prostitution angehalten worden sei. Auch die ab dem 24. Lebensjahr der Beschwerdeführerin aufgenommenen Tätigkeiten bei Reinigungsfirmen in Österreich könnten im Hinblick auf ihre kurze Dauer nicht als normal bezeichnet werden. Die Beschwerde rügt in diesem Zusammenhang, dass der angefochtene Bescheid auf die Stellungnahme des Sachwalters in keiner Weise eingehe. Dieser Verfahrensmangel sei auch wesentlich. Die von der belangten Behörde für ihren Standpunkt herangezogenen Gutachten seien in diesem Punkt nicht schlüssig, sie würden sich vielmehr nur auf die Angaben der unter Sachwalterschaft stehenden Beschwerdeführerin stützen. Eine darüber hinausgehende Untersuchung, warum die Erwerbsunfähigkeit der Beschwerdeführerin erst nach dem 21. Lebensjahr eingetreten sein solle, enthielten die Gutachten nicht. Es fehlten in diesen Gutachten jegliche Hinweise auf den erstmaligen Auftritt der betreffenden Krankheitssymptome. Das bloße Bestehen eines oder mehrerer Dienstverhältnisse, unabhängig von der Frage, wie lange das Dienstverhältnis gedauert habe und welche Tätigkeit dort ausgeübt worden sei, stelle keine ausreichende Grundlage für die Feststellung dar, dass die Erwerbsunfähigkeit der Beschwerdeführerin erst nach dem 21. Lebensjahr eingetreten sei. Hätte die belangte Behörde zu dieser Frage Ermittlungen angestellt, wäre hervorgekommen, dass die Beschäftigungsverhältnisse, von denen die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Begutachtung gesprochen habe, solche von sehr kurzer Dauer gewesen seien. Nach den Aufzeichnungen der Tiroler Gebietskrankenkasse gebe es ein Dienstverhältnis in der Dauer von fünf Monaten, zwei Dienstverhältnisse in der Dauer von jeweils vier Monaten und drei Dienstverhältnisse in der Dauer von einem Monat. Insgesamt habe die Beschwerdeführerin lediglich 19 Versicherungsmonate erworben.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes steht eine mehrjährige berufliche Tätigkeit der Annahme entgegen, das Kind sei infolge seiner Behinderung dauernd außerstande gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 25. Februar 1997, 96/14/0088, und die dort angeführte Vorjudikatur).
Ausgehend von dieser Rechtsprechung ist für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides von entscheidender Bedeutung, ob die ihm zu Grunde liegende Sachverhaltsannahme, die Beschwerdeführerin sei über das 21. Lebensjahr hinaus erwerbsfähig gewesen, auf einem vollständigen Ermittlungsverfahren und einer schlüssigen Beweiswürdigung beruht. Dies ist nicht der Fall, weil -
worauf die Beschwerde zutreffend hinweist - die von der belangten Behörde übernommene gutachtliche Feststellung sich ausschließlich auf die Angaben der Beschwerdeführerin gründet. Diese Angaben durfte die belangte Behörde jedenfalls im Hinblick auf das Vorbringen des Sachwalters im Verwaltungsverfahren nicht ohne weiteres ihrer Entscheidung zugrundelegen. Der Beschwerde ist in diesem Zusammenhang auch zuzustimmen, dass das Vorliegen einiger kurzfristiger Beschäftigungsverhältnisse keinen verlässlichen Hinweis darauf liefert, die Beschwerdeführerin sei zu diesem Zeitpunkt imstande gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Was die Angaben der Beschwerdeführerin hinsichtlich des Anhaltens zur Prostitution anlangt, fehlt dem Bescheid ebenfalls eine Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Sachwalters.
Wenn die belangte Behörde dazu in der Gegenschrift ausführt, die kurze Versicherungsdauer der Beschwerdeführerin sei auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass sie bis 1977 vier Kinder geboren habe und spätestens seit 1981 mit einem Frühpensionisten in einem eheähnlichen Verhältnis wohne, vermögen diese Hinweise (abgesehen davon, dass eine dem Bescheid fehlende Begründung in der Gegenschrift nicht nachgeholt werden kann) nicht in schlüssiger Weise aufzuzeigen, dass die Arbeitsleistungen der Beschwerdeführerin geeignet waren, ihr den Lebensunterhalt zu verschaffen.
Aus den dargelegten Erwägungen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
Wien, am 21. Februar 2001
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