Normen
FamLAG 1967 §2 Abs1 litc;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd impl;
FamLAG 1967 §2 Abs1 litc;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd impl;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.890,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Aufgrund eines Antrages des E.R. wurde diesem für seine am 28. Oktober 1925 geborene Schwester L.R. (als Pflegekind gemäß § 2 Abs. 3 lit. d Familienlastenausgleichsgesetz 1967 - FLAG) die erhöhte Familienbeihilfe gewährt. Weiters bezog er für sie den Kinderabsetzbetrag.
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid wurde gegenüber der Verlassenschaft nach (dem am 4. Jänner 1995 verstorbenen) E.R. die erhöhte Familienbeihilfe für die Zeit vom März 1988 bis Jänner 1994 in der Gesamthöhe von S 224.350,-- und der Kinderabsetzbetrag für die Zeit vom Jänner 1993 bis Jänner 1994 in der Höhe von S 4.550,-- zurückgefordert.
In der Begründung ihres Bescheides gab die belangte Behörde das von der Sozialversicherungsanstalt der Bauern übermittelte Gutachten Dris.R. vom 28. Jänner 1965 mit folgendem Inhalt wieder:
"Ärztliche Begutachtung zur Feststellung der Selbsterhaltungsfähigkeit der L.R., geb. 28.10.1925.
L.R. wurde als 6. von 8 Kindern geboren. Geburt normal. Sie ist normal in die Schule gegangen und hat recht gut gelernt, war nie wesentlich krank. Nach Schulentlassung war sie in der elterlichen Landwirtschaft beschäftigt, hat alle lw. Arbeiten erlernt und konnte alle diese Arbeiten selbständig verrichten, sie hat gemolken, bei allen Arbeiten in Feld und Wald selbständig mitgetan, diese Arbeitsleistungen waren bis zum
24. Lj. möglich.
Am 1.11.49, also 2 Tage nach Erreichen des 24. Lj., sei sie plötzlich umgefallen, sie habe am Tag vorher im Wald allein gearbeitet, sei dort von einem schweren Gewitter mit Hagelschlag überrascht worden und ganz durchnäßt nach Hause gekommen. Seit diesem Zeitpunkt könne sie nichts mehr arbeiten. Sie ist zunächst noch ca. ein halbes Jahr in teils völliger Verwirrtheit in der Umgebung herumgeirrt, wurde dann im Hause festgehalten und hat seither das Haus nie mehr verlassen, sie wurde bettlägrig und liegt nun seit 6 Jahren dauernd im Bett.
Vers. liegt auf der re. Körperseite, völlig zusammengekrümmt, wenn man in ihre Nähe kommt, macht sie abwehrende Bewegungen und versteckt sich unter der Bettdecke. Im Laufe der Jahre zunehmender Persönlichkeitsabbau, seit 4,5 Jahren spricht sie überhaupt nichts mehr, sie muß gefüttert werden, schluckt aber normal, selbständig. Nahrungszufuhr wird nicht getätigt. Seit mehreren Jahren auch völlige Stuhl- und Harninkontinenz, sie liegt daher unbekleidet, in ein Leintuch gehüllt, im Bett. Angeblich, so berichtet die Schwester, sei es durch diese schwere Erkältung zu einer Gehirnhautentzündung gekommen, sie habe auch vorher an einer Zahnfistel gelitten, die möglicherweise Ursache der Gehirnhautentzündung war. Sie war nie in Krankenhausbehandlung, sondern liegt immer daheim.
Untersuchungsbefund:
Asthenische Konstitution, Vers. liegt im Bett zusammengekrümmt, die Beine hoch angezogen, in den Knien maximal gebeugt, Füße in maximaler Spitzfußstellung, die Arme werden in Beugestellung gehalten, aktiv keine Bewegung, auch keine Reflexe auslösbar.
Kopf: passiv frei beweglich, Hörvermögen offensichtlich vorhanden, kleine, einfache Aufträge, wie: Mach den Mund auf, schau mich an werden befolgt, andere Anordnungen allerdings wieder nicht. Faustschluß wird auf Aufforderung nicht durchgeführt. Zähne schadhaft, Mundhöhle nicht einsehbar. Die Wirbelsäule ist vermehrt gekrümmt, sie ist aber nicht zu bewegen, sich zu rühren, bei Beklopfen der Wirbelsäule keine
Schmerzäußerungen
Thorax: schmal, ausreichend gewölbt
Lungen: klinisch unauffällig
Herz: normale Form und Größe, reine rhythm. Aktionen,
RR 95, 60
Abdomen: wegen der verkrampften Haltung nur schlecht zu untersuchen, eine patholog. Resistenz kann nicht getastet werden, keine Schmerzäußerung
H und G: äußerlich o.B.
Extr.: siehe Beschreibung zu Anfang des Untersuchungsbefundes
Ärztliche Beurteilung:
Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit um ein psychotisches Zustandsbild mit weitgehendem Abbau der Persönlichkeit und schwerstem Intelligenzverlust, Vers. ist total bettlägerig und pflegebedürftig, eine Änderung ist durch keinerlei Behandlung mehr zu erzielen.
Sie ist daher mit Sicherheit auf Dauer erwerbsunfähig, dieser Zustand ist aber erst mit Erreichung des 24. Lj. eingetreten, vorher war sie am elterl. Hof als Landarbeiterin voll arbeitsfähig, m.E. besteht daher keine
Selbsterhaltungsunfähigkeit
OZ: 51
An Ort und Stelle,
am 28.1.1965 Dr. H.R."
Nach den Angaben der am 8. Februar 1996 vernommenen Sachwalterin H.R. (der Witwe nach E.R.) - der nunmehrigen Beschwerdeführerin - habe L.R. nie selbständig in der Landwirtschaft beschäftigt werden können. Die Aussage im Gutachten stimme nicht, daß L.R. bis zum Alter von 24. Jahren voll erwerbsfähig gewesen sei. Ihres Wissens sei die Krankheit bereits nach Beendigung der Schule aufgetreten. Wie das Gutachten zustande gekommen sei bzw. aufgrund welcher Aussage, könne nicht mehr angegeben werden.
Nach dem Zeugnis des Amtsarztes Dr. H. vom 13. April 1993 bestehe bei L.R. seit Geburt "Angeborene Epilepsie schwerer geistiger Entwicklungsrückstand". Sie sei aus ärztlicher Sicht voraussichtlich dauernd unfähig, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen. Nach Vorhalt des Gutachtens Dris. R. vom 28. Jänner 1965 habe der Amtsarzt Dr. H. mitgeteilt, daß zur Beurteilung des Leidens der L.R. ein ärztlicher Sachverständigenbeweis vom 24. Mai 1977 herangezogen worden sei, wonach bei ihr ein "Dämmerzustand vermutlich bei angeborener Epilepsie" bestehe. Auch ihr Bruder E.R. habe am 13. April 1993 angegeben, daß bei seiner Schwester eine geistige Behinderung seit Geburt bestehe.
Aus dem Beschluß des Bezirksgerichtes G vom 16. April 1975 gehe hervor, daß L.R. seit dem 20. Lebensjahr krank sei.
Nach dem Schreiben des Amtsarztes vom 22. September 1994 sei aufgrund der vorliegenden Befunde anzunehmen, daß die geistige Behinderung von L.R. bereits vor dem 24. Lebensjahr vorgelegen sei.
In der Beweiswürdigung vertrat die belangte Behörde die Auffassung, keines der vorliegenden Gutachten stelle einen Nachweis dafür dar, daß die Erwerbsunfähigkeit der L.R. bereits vor dem 21. Lebensjahr eingetreten sei. Dem Gutachten vom 28. Jänner 1965 werde "alleine wegen der zeitlichen Nähe zu den tatsächlichen Verhältnissen mehr Glauben zu schenken sein". Es sei folglich davon auszugehen, daß L.R. weit über das 21. Lebensjahr hinaus erwerbsfähig gewesen sei. Daran würde auch die geforderte Einholung eines neuen medizinischen Fachgutachtens nichts zu ändern vermögen. Ein Anspruch auf Familienbeihilfe sei daher nicht vorgelegen. Mangels Anspruches auf Familienbeihilfe seien auch die erhöhte Familienbeihilfe und der Kinderabsetzbetrag zu Unrecht gewährt worden.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Antrag auf kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes.
Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und beantragt in ihrer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Gemäß § 2 Abs. 1 lit. c FLAG haben Personen, die im Bundesgebiet einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, Anspruch auf Familienbeihilfe für volljährige Kinder, die wegen einer vor Vollendung des 21. Lebensjahres oder während einer späteren Berufsausbildung, jedoch spätestens vor Vollendung des 27. Lebensjahres, eingetretenen körperlichen oder geistigen Behinderung voraussichtlich dauernd außerstande sind, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - die zum Teil zur insoweit inhaltsgleichen Bestimmung des § 6 Abs. 2 lit. d FLAG ergangen ist - steht eine mehrjährige berufliche Tätigkeit der Annahme entgegen, das Kind sei infolge seiner Behinderung dauernd außerstande gewesen, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen (siehe die hg. Erkenntnisse vom 25. Jänner 1984, 82/13/0222, vom 8. April 1987, 86/13/0206, vom 21. November 1990, 90/13/0129, vom 20. September 1995, 95/13/0007, und vom 24. Oktober 1995, 91/14/0197).
Ausgehend von dieser Rechtsprechung, von der abzugehen kein Grund besteht, ist für die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides von entscheidender Bedeutung, ob die ihm zugrunde liegende Sachverhaltsannahme, L.R. sei "weit über das 21. Lebensjahr hinaus erwerbsfähig" gewesen, auf einem vollständigen Ermittlungsverfahren und einer schlüssigen Beweiswürdigung beruht. Dies ist nicht der Fall, weil dem Gutachten Dris. R. vom 28. Jänner 1965 nicht zu entnehmen ist, wie dieser Sachverständige zu der Auffassung gelangt ist, der bei L.R. festgestellte Zustand sei erst mit Erreichung des 24. Lebensjahres eingetreten. Daß diese Aussage das Ergebnis fachlicher Schlüsse des Sachverständigen gewesen sei, ist mangels entsprechender Begründung nicht erkennbar. Dem Gutachten läßt sich auch nicht entnehmen, auf wessen Angaben sich die darin wiedergegebene Vorgeschichte stützt. Soweit darin von einer Schwester der L.R. und deren "Diagnose", eine Zahnfistel sei möglicherweise Ursache einer Gehirnhautentzündung gewesen, die Rede ist, ist nicht zu erkennen, um welche bestimmte Person es sich dabei gehandelt haben soll - L.R. hatte nach der einleitenden Schilderung im Gutachten sieben Geschwister - und inwiefern dieser die fachliche Kompetenz für eine solche Beurteilung zukam. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde, die dem Gutachten vom 28. Jänner 1965 "allein wegen der zeitlichen Nähe zu den tatsächlichen Verhältnissen mehr Glauben" schenkt, ist nicht schlüssig, weil - abgesehen davon, daß auch die dem Gutachten zugrunde liegende Untersuchung immerhin mehr als 15 Jahre nach den angeblichen Vorfällen im Jahr 1949 stattgefunden hat - der Sachverständige über keine eigenen Wahrnehmungen darüber berichtet. Das Argument, eine zeitlich nähere Angabe betreffend ein bestimmtes Ereignis sei glaubwürdiger als eine spätere, kann im Rahmen der Beweiswürdigung nur dann eine Rolle spielen, wenn die Glaubwürdigkeit verschiedener Aussagen entweder ein und derselben Person oder mehrerer Personen über einen bestimmten Vorfall zu beurteilen ist.
Der im Gutachten vom 28. Jänner 1965 enthaltenen Aussage stehen das ärztliche Zeugnis des Amtsarztes Dr. H. vom 13. April 1993, die in seinem Schreiben vom 18. Februar 1994 erwähnte Aussage des - mittlerweise verstorbenen - E.R. und die Aussage der Beschwerdeführerin bei ihrer niederschriftlichen Vernehmung vom 8. Februar 1996 entgegen. Warum diese Beweisergebnisse unerheblich sein sollen, wurde nicht entsprechend begründet. Das allein verwendete Argument, das Gutachten vom 28. Jänner 1965 liege den Ereignissen zeitlich am nächsten, ist im gegebenen Zusammenhang aus den oben genannten Gründen ungeeignet.
Es ist auch nicht von vornherein auszuschließen, daß ein entsprechender fachärztlicher Sachverständiger aus der Art der bei L.R. bestehenden geistigen Behinderung Schlüsse auf deren Ursache und damit ihren Entstehungszeitpunkt ziehen kann, sodaß auch im Unterbleiben der diesbezüglichen Beweisaufnahme ein Verfahrensmangel gelegen ist. Schließlich ist dem Akteninhalt nicht zu entnehmen, daß die belangte Behörde alle ihr zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hätte, Personen - insbesondere aus dem Kreis der Verwandtschaft der L.R. und der Umgebung der Familie R. -, die über den Zustand und allfällige Tätigkeiten der L.R. vor Vollendung ihres 21. Lebensjahres hätten Auskunft geben können, ausfindig zu machen.
Aus den dargelegten Erwägungen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.
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