VwGH 87/08/0327

VwGH87/08/032730.6.1988

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Liska, Dr. Knell, Dr. Puck und Dr. Sauberer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Kirchner, über die Beschwerde des MP in W, vertreten durch Dr. Johann Angermann, Rechtsanwalt in Wien I, Wollzeile 25/27, gegen den Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport wegen Verletzung der Entscheidungspflicht in Angelegenheit des Abzuges von Dienstnehmerbeiträgen vom Entgelt gemäß § 60 Abs. 1 ASVG, gemäß § 42 Abs. 5 VwGG, zu Recht erkannt:

Normen

ASVG §352 Z1
ASVG §355 Z3
ASVG §60 Abs1
AVG §73 Abs2
AVG §73 Abs2 implizit
BAO §311 Abs2 implizit
JN §1
JN §60 Abs1
VwGG §27
VwGG §34 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1988:1987080327.X00

 

Spruch:

Der Antrag des Beschwerdeführers vom 17. Juli/11. September 1986, die belangte Behörde wolle in Anwendung des § 73 Abs. 2 AVG 1950 über seinen an den Stadtschulrat von Wien gerichteten Antrag vom 27. Dezember 1985 auf Rückerstattung zuviel einbehaltener Dienstnehmer‑Beitragsteile gemäß § 60 Abs. 1 ASVG entscheiden, wird zurückgewiesen.

Der Bund (Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 4.995,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Der Beschwerdeführer wurde in der Zeit vom 1. September 1975 bis 31. Dezember 1985 als Vertragslehrer im Bereich des Stadtschulrates für Wien verwendet; er wurde mit Wirksamkeit vom 1. Jänner 1986 in ein öffentlich‑rechtliches Dienstverhältnis zum Bund aufgenommen.

Mit einem an den Stadtschulrat gerichteten Antrag, eingeschrieben aufgegeben am 27. Dezember 1985, begehrte der Beschwerdeführer, gestützt auf § 60 Abs. 1 ASVG, ihm die zuviel einbehaltenen Sozialversicherungsbeiträge zurückzuerstatten, da ihn an der verspäteten Zahlung kein Verschulden treffe. Der Erstattungsantrag betreffe im einzelnen angeführte Nachzahlungen für Zeiträume von 1982 bis 1985.

1.2. Mit Schreiben vom 17. Juli 1986, am gleichen Tag beim Stadtschulrat für Wien eingebracht, stellte der Beschwerdeführer einen Devolutionsantrag, da diese Behörde ihrer gesetzlichen Verpflichtung, die erwähnten Anträge mittels Bescheides einer Erledigung zuzuführen, nicht entsprochen habe.

Mit Eingabe vom 11. September 1986 an das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport stellte der Beschwerdeführer gemäß § 73 Abs. 2 AVG 1950 den Antrag auf Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung an das genannte Ministerium als sachlich in Betracht kommende Oberbehörde.

Der Antrag vom 17. Juli 1986 langte beim Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Sport am 14. August 1986, jener vom 11. September 1986 am 15. September 1986 ein.

1.3. In seiner am 23. Dezember 1987 zur Post gegebenen Säumnisbeschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, der Bundesminister für Unterricht, Kunst und Sport habe seine Entscheidungspflicht verletzt.

1.4. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

2.0. Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

2.1. Zur Erhebung einer Säumnisbeschwerde ist gemäß Art. 132 B‑VG berechtigt, wer in einem Verwaltungsverfahren als Partei zur Geltendmachung der Entscheidungspflicht berechtigt war. Die Beschwerde kann gemäß § 27 VwGG erst erhoben werden, wenn die oberste Behörde, die im Verwaltungsverfahren, sei es im Instanzenzug, sei es im Weg eines Antrages auf Übergang der Entscheidungspflicht, angerufen werden konnte, von einer Partei angerufen worden ist und nicht binnen sechs Monaten in der Sache entschieden hat.

Die in § 27 VwGG gebrauchte Wendung „in der Sache“ bedeutet nicht allein eine meritorische Entscheidung, sondern auch eine Entscheidung rein verfahrensrechtlicher Art (hg. Entscheidungen vom 5. Juni 1973, Zl. 647/73, und vom 16. Dezember 1986, Zl. 85/04/0145 = ZfVB 1987/4/1731).

Von Art. 132 B‑VG ausgehend hat der Verwaltungsgerichtshof in seinem Beschluß eines verstärkten Senates vom 15. Dezember 1977, Slg. N.F. Nr. 9458/A = ZfVB 1978/4/1532, ausgesprochen, daß jede Partei des Verwaltungsverfahrens Anspruch auf die Erlassung eines Bescheides hat, wenn ein Antrag oder eine Berufung offen ist. Dieser Anspruch bestehe auch dann, wenn die Voraussetzungen für die Zurückweisung des Antrages oder der Berufung vorlägen. In diesem Falle habe die Partei (Antragsteller, Berufungswerber) ein subjektives Recht darauf, daß über die Zurückweisung ihres Antrages oder ihrer Berufung bescheidmäßig abgesprochen werde. Auch im Streit um Parteistellung und Antragsbefugnis bestehe, insoweit diese zur Entscheidung stünden, Parteistellung und Entscheidungspflicht.

Auf dem Boden dieser Rechtsanschauung ist auch eine Entscheidungspflicht der Behörde in Ansehung eines ausdrücklich auf § 73 Abs. 2 AVG gestützten Devolutionsantrages selbst für den Fall anzuerkennen, daß es dem Einschreiter an der Berechtigung zur Antragstellung mangelt (vgl. das hg. Erkenntnis vom 22. Jänner 1980, Zl. 977/79 = ZfVB 1980/6/1961).

Der Beschwerdeführer hat in seinem Devolutionsantrag vom 17. Juli/11. September 1986 unmißverständlich zum Ausdruck gebracht, daß er einen Anspruch auf bescheidförmige Erledigung zu besitzen vermeine und deswegen den Übergang der Entscheidungspflicht als Partei begehre.

Da auch die übrigen Prozeßvoraussetzungen nach § 27 VwGG vorliegen, ist die Säumnisbeschwerde somit zulässig.

2.2. Nach § 42 Abs. 5 VwGG ist in der Sache selbst zu entscheiden.

§ 60 Abs. 1 ASVG lautet:

„Der Dienstgeber ist berechtigt, den auf den Versicherten entfallenden Beitragsteil vom Entgelt in barem abzuziehen. Dieses Recht muß bei sonstigem Verlust spätestens bei der auf die Fälligkeit des Beitrages nächstfolgenden Entgeltzahlung ausgeübt werden, es sei denn, daß die nachträgliche Entrichtung der Beiträge oder eines Teiles dieser vom Dienstgeber nicht verschuldet ist. In der nachträglichen Entrichtung der Beiträge ohne Verschulden des Dienstgebers dürfen dem Versicherten bei einer Entgeltzahlung nicht mehr Beiträge abgezogen werden, als auf zwei Lohnzahlungszeiträume entfallen.“

Der vom Beschwerdeführer an den Stadtschulrat als Organ des Dienstgebers gerichtete Erstattungsantrag betrifft voraussetzungsgemäß (nur) Zeiträume seiner Tätigkeit als Vertragsbediensteter. Eine behördliche Entscheidungsbefugnis des Stadtschulrates für Wien als Dienstbehörde des in der Folge in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis übernommenen Beschwerdeführers kommt daher keinesfalls in Betracht. Der an den Dienstgeber gestellte Erstattungsantrag ist aber auch sonst keiner verwaltungsbehördlichen Erledigung zugänglich; er betrifft vielmehr ausschließlich die zivil(arbeits)rechtliche Beziehung zwischen dem Dienstnehmer und dem abzugsberechtigten Dienstgeber. Streitigkeiten aus dieser durch den Sozialversicherungsgesetzgeber in § 60 Abs. 1 ASVG mitgestalteten Rechtsbeziehung sind im ordentlichen Rechtsweg auszutragen.

Zu der in der Gegenschrift der belangten Behörde in Erwägung gezogenen Rechtsauffassung, es handle sich um eine Verwaltungssache im Sinne des § 355 Z. 3 ASVG (Angelegenheiten der Beiträge der Versicherten und ihrer Dienstgeber) ist zu bemerken, daß nach dem Eingangssatz des § 355 vorausgesetzt ist, daß es sich überhaupt um eine Materie handelt, auf die der Siebente Teil des ASVG nach § 352 anwendbar ist. Dies trifft aber nicht zu, soweit die Durchführung durch privatrechtliche Verträge zu erfolgen hat oder die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gegeben ist (§ 352 Z. 1 ASVG). Die belangte Behörde ist aber insofern im Recht, daß selbst dann, wenn eine Verwaltungssache vorläge, eine Zuständigkeit des Stadtschulrates zur Entscheidung nicht in Betracht käme.

Da eine Devolution im Sinne des § 73 Abs. 2 AVG 1950 voraussetzt, daß die der sachlich in Betracht kommenden Oberbehörde nachgeordnete Verwaltungsbehörde eine ihr obliegende Entscheidungspflicht verletzt hat, dies aber dann nicht zutrifft, wenn das zugrundeliegende Parteienbegehren nicht durch den Bescheid der angerufenen Verwaltungsbehörde, sondern im Verfahren vor den ordentlichen Gerichten (oder einer anderen Verwaltungsbehörde) zu erledigen ist, mußte der Antrag des Beschwerdeführers betreffend den Übergang der Zuständigkeit zur Entscheidung über den auf § 60 Abs. 1 ASVG gestützten Erstattungsantrag im Verfahren nach § 132 B‑VG aufgrund des § 42 Abs. 5 VwGG als unzulässig zurückgewiesen werden.

2.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47, 48 Abs. 1 Z. 1 und 2 sowie 55 Abs. 1 erster Satz VwGG in Verbindung mit Art. I Z. 1 der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985. Ersatz des Schriftsatzaufwandes war nur im begehrten Ausmaß zuzusprechen.

2.4. Soweit Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes zitiert wurden, die in der Amtlichen Sammlung der Erkenntnisse und Beschlüsse dieses Gerichtshofes nicht veröffentlicht sind, wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, hingewiesen.

Wien, am 30. Juni 1988

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