VwGH 87/08/0139

VwGH87/08/013915.12.1988

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Seiler und die Hofräte Dr. Liska, Dr, Knell, Dr. Puck und Dr. Sauberer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Regierungsrat Dr. Fischer, über die Beschwerde der Dr. HB in H, vertreten durch Dr. Hans Pritz, Rechtsanwalt in Wien I, Schwedenplatz 3-4, gegen den Bescheid der Paritätischen Schiedskommission für Vorarlberg vom 13. Mai 1987, Zl. PSchK 2/1986, betreffend Aussetzung eines Schiedskommissionsverfahrens (mitbeteiligte Partei: Vorarlberger Gebietskrankenkasse in Dornbirn, Jahngasse 4), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §38;
AVG §66 Abs4;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1988:1987080139.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.270,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid setzte die belangte Behörde das Schiedskommissionsverfahren der Beschwerdeführerin gegen die mitbeteiligte Vorarlberger Gebietskrankenkasse betreffend Einsprüche gegen die Honorarabrechnungen der Quartale IV/1985, I/1986 und II/1986 bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes über die Beschwerde der Beschwerdeführerin vom 1. August 1986 zur Zl. B 757/86 des Verfassungsgerichtshofes (G 48/87, V 14/87) gemäß § 38 AVG 1950 aus. Begründend wurde ausgeführt, es liege den vorliegenden Einsprüchen dieselbe Rechtsansicht zugrunde, die die Beschwerdeführerin in einem anderen Schiedskommissionsverfahren vor der belangten Behörde vertreten habe. Gegen die Sachentscheidung in diesem anderen Verfahren habe die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof erhoben. In ihr seien nicht nur die formalen, sondern auch die materiellen Rechtsgrundlagen des genannten Bescheides angefochten und ferner eine Verletzung des Art. 2 StGG bzw. des Art. 7 B-VG behauptet worden. Da die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes für die Entscheidung über die gegenständlichen Einsprüche präjudiziell sei, sei gemäß § 38 AVG 1950 das Verfahren auszusetzen gewesen.

In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde macht die Beschwerdeführerin Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend und beantragt die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte in der Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 344 ASVG ist zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten aus dem Einzelvertrag in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Nach § 347 Abs. 4 leg. cit. hat unter anderem auch diese Kommission auf das Verfahren die Bestimmungen des AVG 1950 anzuwenden. Mit Erkenntnis vom 14. Juni 1988, G 48/87, V 14/87, hob der Verfassungsgerichtshof I. § 344 ASVG als verfassungswidrig auf, wobei er aussprach, daß frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit träten (kundgemacht in BGBl. Nr. 526/1988), II. hob er die §§ 2 und 3 der Verordnung des Bundesministers für soziale Verwaltung vom 8. Mai 1956, BGBl. Nr. 105/1956, als gesetzwidrig auf (kundgemacht in BGBl. Nr. 527/1988). Da gemäß Art. 139 Abs. 6 bzw. Art. 140 Abs. 7 B-VG die aufgehobene Verordnung bzw. das aufgehobene Gesetz auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlaßfalles weiterhin anzuwenden ist, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht (was im vorliegenden Fall nicht zutrifft), hat der Verwaltungsgerichtshof bei der Entscheidung von der Geltung des § 344 ASVG sowie der obgenannten Verordnungsbestimmungen auszugehen.

Gemäß § 38 AVG 1950 ist die Behörde, sofern die Gesetze nicht anderes bestimmen, berechtigt, im Ermittlungsverfahren auftauchende Vorfragen, die als Hauptfragen von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten zu entscheiden wären, nach der über die maßgebenden Verhältnisse gewonnenen eigenen Anschauung zu beurteilen und diese Beurteilung ihrem Bescheide zugrunde zu legen. Sie kann aber auch das Verfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage aussetzen, wenn die Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Behörde bildet oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird.

Unter einer Vorfrage im Sinne des § 38 AVG 1950 ist nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine für die Entscheidung der Verwaltungsbehörde präjudizielle Rechtsfrage zu verstehen, über die als Hauptfrage von anderen Verwaltungsbehörden oder von den Gerichten oder auch von derselben Behörde, jedoch in einem anderen Verfahren, zu entscheiden ist. Präjudiziell - und somit Vorfragenentscheidung (durch die hiefür zuständige Behörde) im verfahrensrechtlich relevanten Sinn - ist nur eine Entscheidung, die erstens eine Rechtsfrage betrifft, deren Beantwortung für die Hauptfragenentscheidung unabdingbar - d.h. eine notwendige Grundlage - ist, und zweitens die diese in einer die Verwaltungsbehörde bindenden Weise regelt (vgl. unter anderem die Erkenntnisse vom 24. November 1981, Zl. 81/11/0059, und vom 15. September 1986, Zl. 86/10/0129). Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, das eine Verwaltungsbehörde in einem Verfahren anzuwenden hat, sowie die Gesetzmäßigkeit einer solchen Verordnung stellt keine Vorfrage im dargestellten Sinn dar, weil die Verwaltungsbehörde an ein gehörig kundgemachtes Gesetz sowie an eine gehörig kundgemachte Verordnung trotz allfällig bestehender Bedenken gegen die Verfassungsbzw. Gesetzmäßigkeit gebunden ist, daher die Klärung der Verfassungs- und Gesetzmäßigkeit keine notwendige Grundlage für die Hauptfragenentscheidung der Verwaltungsbehörde darstellt und selbst der Ausspruch der Rückwirkung einer allfälligen Aufhebung auf rechtskräftig entschiedene Fälle keine Auswirkung hat (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 4. März 1986, Zl. 85/05/0094, und vom 24. Februar 1954, Slg. Nr. 3324/A).

Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985. Das Kostenmehrbegehren war wegen der bestehenden sachlichen Abgabenfreiheit (§ 110 ASVG) abzuweisen.

Hinsichtlich der zitierten, nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes wird auf Art. 14 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Verwaltungsgerichtshofes, BGBl. Nr. 45/1965, verwiesen.

Wien, am 15. Dezember 1988

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