VwGH 85/05/0094

VwGH85/05/00944.3.1986

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Straßmann und die Hofräte DDr. Hauer, Dr. Würth, Dr. Degischer und Dr. Domittner als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Gehart, über die Beschwerde der ET in W, vertreten durch Dr. Klement Hohenberger, Rechtsanwalt in Wien XVI, Seeböckgasse 17, gegen den Bescheid des Gemeinderatsausschusses für Stadtentwicklung und Stadterneuerung der Bundeshauptstadt Wien vom 15. April 1985, Zl. MA 35-ö.B./16-5270-3/1/85, betreffend die Abweisung eines Antrages auf Wiederaufnahme eines Verfahrens, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §38;
AVG §69 Abs1 litb;
AVG §69 Abs1 litc;
AVG §69 Abs1 Z2;
AVG §69 Abs1 Z3;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1986:1985050094.X00

 

Spruch:

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat der Bundeshauptstadt Wien Aufwendungen in der Höhe von S 2.760,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Gemeinderatsausschuß für Stadtentwicklung und Stadterneuerung der Bundeshauptstadt Wien erteilte mit Bescheid vom 19. September 1983 gemäß § 70 in Verbindung mit § 133 der Bauordnung für Wien der Gemeinde Wien als Bauwerberin die baubehördliche Bewilligung zur Errichtung eines Wohnhauses auf den Grundstücken Nr. 2519/1, 2519/2, 2520 und 2521 der KG. X. Der Beschwerdeführerin wurde dieser Bescheid als Miteigentümerin der Grundstücke Nr. 2523/1 und 25.23/2 KG. X zu Handen des HT zugestellt. Die durch letzteren dagegen eingebrachte Verfassungsgerichtshofbeschwerde führte von Amts wegen zur Einleitung des Gesetzesprüfungsverfahrens bezüglich des § 133 der Bauordnung für Wien, welches beim Verfassungsgerichtshof zur Zl. G 156/84 protokolliert und in späterer Folge mangels Beschwerdelegitimation mit Erkenntnis vom 11. Dezember 1984, G 113, 134, 135, 151, 156, 157/84, eingestellt wurde. Im selben Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes wurde § 133 der Bauordnung für Wien in der Fassung der Bauordnungsnovelle 1976, LGBl. Nr. 18, auf Grund anderer Anlaßfälle als verfassungswidrig aufgehoben und ausgesprochen, daß die Aufhebung mit Ablauf des 30. November 1985 in Kraft tritt rund frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Wirksamkeit treten.

Die Beschwerdeführerin beantragte nunmehr unter Anschluß einer Ausfertigung des Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom 11. Dezember 1984, welches einen Eingangsvermerk vom 24. Jänner 1985 in der Kanzlei ihres Rechtsvertreters trägt, mit undatiertem Schriftsatz - eingelangt bei der Magistratsabteilung 35 des Magistrates der Stadt Wien am 8. Februar 1985 - gemäß § 69 AVG die Wiederaufnahme des Verfahrens. In diesem Schriftsatz wurde ausgeführt, aus der Aufhebung des § 133 der Bauordnung für Wien ergebe sich, daß der Bescheid vom 19. September 1983 gesetzwidrig erlassen worden sei.

Dieser Antrag wurde mit dem vom Magistrat der Stadt Wien auf Grund des Sitzungsbeschlusses des Gemeinderatsausschusses für Stadtentwicklung und Stadterneuerung vom 10. April 1985 ausgefertigten, nunmehr angefochtenen Bescheid vom 15. April 1985 abgewiesen. In der Begründung wurde nach Wiedergabe des § 69 Abs. 1 AVG 1950 ausgeführt, daß die Anwendung einer in der Folge als verfassungswidrig aufgehobenen gesetzlichen Bestimmung keinen Wiederaufnahmegrund gemäß § 69 Abs. 1 AVG bilde, weil sie in der taxativen Aufzählung der Wiederaufnahmegründe nicht enthalten sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

In der Beschwerde wurde lediglich ausgeführt, "daß die Aufhebung einer gesetzlichen Bestimmung durch den Verfassungsgerichtshof der klassische Wiederaufnahmegrund gemäß § 69 AVG sein sollte".

Gemäß § 69 Abs. 1 AVG 1950 ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Bescheid abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn ein Rechtsmittel gegen den Bescheid nicht oder nicht mehr zulässig ist und:

a) der Bescheid durch Fälschung einer Urkunde, falsches Zeugnis oder eine andere gerichtlich strafbare Handlung herbeigeführt oder sonstwie erschlichen worden ist oder

b) neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnisse des Verfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt hätten, oder

c) der Bescheid gemäß § 38 von Vorfragen abhängig war und nachträglich über eine solche Vorfrage von der hiefür zuständigen Behörde (Gericht) in wesentlichen Punkten anders entschieden wurde.

Im Hinblick auf den Ausspruch des Verfassungsgerichtshofes, daß die Aufhebung des § 133 der Bauordnung für Wien mit 30. November 1985 in Kraft tritt, und auf Grund des Umstandes, daß es sich in der vorliegenden Beschwerdesache nicht um einen Anlaßfall handelt, bestehen keine Bedenken gegen die Zuständigkeit des Gemeinderatsausschusses für Stadtentwicklung und Stadterneuerung der Bundeshauptstadt Wien gemäß der zuletzt zitierten Gesetzesstelle in Verbindung mit § 69 Abs. 4 AVG 1950, über den Wiederaufnahmeantrag der Beschwerdeführerin zu entscheiden.

In der Beschwerde wird - wie schon zuvor im Verwaltungsverfahren - nicht näher ausgeführt, welcher der Wiederaufnahmegründe des § 69 Abs. 1 AVG vorliege. Da im bisherigen Verfahren das Vorliegen des Wiederaufnahmegrundes nach § 69 Abs. 1 lit. a AVG 1950 nicht behauptet wurde und Hinweise in dieser Richtung dem Verwaltungsakt nicht zu entnehmen sind, hat der Verwaltungsgerichtshof vom Nichtvorliegen dieses Wiederaufnahmegrundes auszugehen.

Auch der Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 lit. b AVG 1950 wird durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes nicht verwirklicht (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 7. Mai 1951, Slg. N.F. Nr. 2078/A). Unter einer "neuen Tatsache" kann nicht der Umstand verstanden werden, daß eine Zuständigkeitsregelung - nach Abschluß des wiederaufzunehmenden Verfahrens in anderen Fällen als verfassungswidrig aufgehoben wurde.

Die Begründung für eine Wiederaufnahme des Verfahrens im Grunde des § 69 Abs. 1 lit. c AVG 1950 könnte nur gegeben sein, wenn der frühere Bescheid gemäß § 38 leg. cit. von Vorfragen abhängig gewesen und nachträglich über eine solche Vorfrage, nämlich die Verfassungsmäßigkeit des § 133 der Bauordnung für Wien, von dem hiefür zuständigen Verfassungsgerichtshof in wesentlichen Punkten anders entschieden worden wäre. Es liegt jedoch auch dieser Wiederaufnahmegrund nicht vor, denn sobald ein Gesetz gehörig kundgemacht ist, bindet es die Verwaltungsbehörde, und zwar auch dann, wenn diese Bedenken wegen der Verfassungsmäßigkeit hätte. Die Verwaltungsbehörde darf die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gar nicht prüfen. Eine solche Frage kann demnach auch nicht als Vorfrage im Sinne des § 38 AVG angesehen werden. Im übrigen kann unter einer Vorfrage im Sinne der angeführten Gesetzesbestimmung nur eine Frage verstanden werden, die ein konkretes Rechtsverhältnis zum Gegenstand hat, das für die Entscheidung in der Hauptsache ein Tatbestandselement bildet. Die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des § 133 der Bauordnung für Wien kann auch schon deshalb keine Vorfrage im Sinne der §§ 38 und 69 AVG 1950 bilden, weil sie nicht das Bestehen eines konkreten Rechtsverhältnisses, sondern die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zum Gegenstand hat (vgl. dazu das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 24. Februar 1954, Slg. N.F. Nr. 3324/A, wonach die Frage der Gesetzmäßigkeit einer Verordnung nicht als Vorfrage im Sinne der §§ 38 und 69 AVG 1950 angesehen werden kann).

Daraus ergibt sich, daß die belangte Behörde das Gesetz nicht verletzt hat, wenn sie die Wiederaufnahme des Verfahrens zur Erteilung einer Baubewilligung ablehnte, zumal im Wiederaufnahmeantrag das Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes nicht explizit behauptet wurde. Daran können auch die Ausführungen in der Beschwerde, daß die Aufhebung einer gesetzlichen Bestimmung durch den Verfassungsgerichtshof "der klassische Wiederaufnahmegrund gemäß § 69 AVG sein sollte", nichts ändern. Die Baubewilligung hätte nur rechtzeitig beim Verwaltungsgerichtshof oder beim Verfassungsgerichtshof von einer hiezu legitimierten Person angefochten werden müssen. Da sich aber die Beschwerdeführerin mit der damaligen Rechtslage abgefunden und die Beschwerdefrist ungenutzt verstreichen lassen hatte, konnte das Verfahren im Wege der Wiederaufnahme deswegen, weil die Zuständigkeitsbestimmung des § 133 der Bauordnung für Wien nachträglich vom Verfassungsgerichtshof als verfassungswidrig aufgehoben worden war, nicht mehr aufgerollt werden.

Die Beschwerde erweist sich daher als unbegründet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 1 VwGG abzuweisen war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit den Bestimmungen der Verordnung des Bundeskanzlers BGBl. Nr. 243/1985.

Wien, am 4. März 1986

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