VwGH 2011/23/0289

VwGH2011/23/028921.2.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl sowie die Hofräte Dr. Sulzbacher, Mag. Haunold, Mag. Feiel und Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Pitsch, über die Beschwerde des A, vertreten durch Mag. Dr. Vera M. Weld, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Himmelpfortgasse 7/2, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom 16. Juli 2008, Zl. E1/288.788/2008, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
StbG 1985 §7 Abs1 lita;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs1;
FrPolG 2005 §66 Abs2;
EMRK Art8 Abs2;
StbG 1985 §7 Abs1 lita;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein algerischer Staatsangehöriger, reiste zu einem unbekannten Zeitpunkt - nach den Feststellungen im angefochtenen Bescheid "vermutlich im Jahre 2006 oder später" - nach Österreich ein, wo er am 29. Februar 2008 mit einer österreichischen Staatsbürgerin die Ehe einging. 2008 wurde die gemeinsame Tochter in Österreich geboren. Am 30. Mai 2008 brachte der Beschwerdeführer einen Erstantrag auf Erteilung des Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" ein.

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom 16. Juli 2008 wies die belangte Behörde den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.

Begründend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe zu keiner Zeit über einen Aufenthaltstitel oder eine vorläufige Aufenthaltsberechtigung nach dem Asylgesetz verfügt und halte sich seit seiner Einreise unrechtmäßig in Österreich auf. Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 1 FPG, wonach ein Fremder mit Bescheid ausgewiesen werden könne, wenn dem nicht die Bestimmung des § 66 FPG entgegenstehe, lägen daher vor. Der Beschwerdeführer verfüge im Bundesgebiet über familiäre Bindungen zu seiner Ehegattin und dem gemeinsamen Kind, sodass mit der Ausweisung ein Eingriff in sein Privat- und Familienleben verbunden sei. Dessen ungeachtet sei dieser zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, nämlich zur Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens, dringend geboten.

Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung - so führte die belangte Behörde weiter aus - sei auf den etwa zweijährigen inländischen Aufenthalt des Beschwerdeführers Bedacht zu nehmen. Abgesehen von dieser relativ kurzen Aufenthaltsdauer sei ihm jedoch vorzuwerfen, dass er sein Familienleben zu einem Zeitpunkt begründet habe, als er sich habe bewusst sein müssen, dass er sich unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Der Fortbestand seines Familienlebens im Bundesgebiet sei vollkommen unsicher gewesen. Wegen seines erst kurzen Aufenthalts in Österreich sei auch nicht davon auszugehen, dass er über keine Bindungen zu seinem Heimatstaat mehr verfüge. Jedenfalls hätten seine privaten und familiären Interessen gegenüber den hoch zu veranschlagenden öffentlichen Interessen an der Aufrechterhaltung eines geordneten Fremdenwesens in den Hintergrund zu treten. Daher kam die belangte Behörde zur Auffassung, dass die Auswirkungen der Ausweisung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers und seiner Familie keinesfalls schwerer wiegen würden als das gegenläufige öffentliche Interesse und damit die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von dieser Maßnahme.

Der Versuch des Beschwerdeführers, seinen Aufenthalt durch einen "Inlandsantrag" auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu legalisieren sei - nach Ansicht der belangten Behörde - "nicht positiv zu bewerten", weil Aufenthaltstitel gemäß § 21 NAG nur vom Ausland aus erwirkt werden könnten. Der Beschwerdeführer, dem diese Tatsache bewusst sein müsse, habe sich aber über die für ihn maßgebende fremdenrechtliche Norm hinweggesetzt. Es würde den öffentlichen Interessen auch grob zuwiderlaufen, wenn ein Fremder "bloß auf Grund von selbst geschaffener Tatsachen (Nichtausreise trotz unrechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet)", den weiteren Aufenthalt in Österreich erzwingen könnte.

Die belangte Behörde kam somit letztlich zum Schluss, dass im Hinblick auf das Fehlen besonderer, zu Gunsten des Beschwerdeführers sprechender Umstände sein weiterer Aufenthalt auch nicht im Rahmen des ihr eingeräumten Ermessens in Kauf genommen werden könne.

Der Verfassungsgerichtshof hat die gegen diesen Bescheid an ihn gerichtete Beschwerde nach Ablehnung ihrer Behandlung mit Beschluss vom 29. September 2008, B 1516/08-4, gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten, der über diese nach auftragsgemäßer Ergänzung durch den Beschwerdeführer sowie nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der angefochtene Bescheid vom Verwaltungsgerichtshof auf Basis der Sach- und Rechtslage bei seiner Erlassung zu überprüfen ist. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG und des NAG Bezug genommen, so handelt es sich dabei jeweils um die in diesem Zeitpunkt (Juli 2008) geltende Fassung der genannten Gesetze.

Unter der Überschrift "Ausweisung Fremder ohne Aufenthaltstitel" ordnet § 53 Abs. 1 FPG an, dass Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden können, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

Sofern die Beschwerde in diesem Zusammenhang zunächst auf die (am 30. Mai 2008 erfolgte) Antragstellung auf Erteilung eines Aufenthaltstitels verweist, ist ihr entgegen zu halten, dass eine solche der Erlassung einer Ausweisung nicht entgegensteht. Dass dem Beschwerdeführer bereits ein Aufenthaltstitel erteilt worden wäre oder eine andere der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG vorläge, behauptet auch die Beschwerde nicht. Gegen die behördliche Annahme, der Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei erfüllt, bestehen somit keine Bedenken.

Würde durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Die Ausweisung darf nach dem - auch bei Ausweisungen gemäß § 53 Abs. 1 FPG zu beachtenden (vgl. das Erkenntnis vom 22. Dezember 2009, Zl. 2009/21/0348, Punkt 2.3.2.) - § 66 Abs. 2 FPG jedenfalls nicht erlassen werden, wenn die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seine Familie schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung. Bei dieser Abwägung ist insbesondere auf die Dauer des Aufenthalts und das Ausmaß der Integration des Fremden oder seiner Familienangehörigen (Z 1) und auf die Intensität der familiären oder sonstigen Bindungen (Z 2) Bedacht zu nehmen. Bei der Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt.

Unter diesem Gesichtspunkt verweist die Beschwerde auf das Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner Ehefrau, die seine Hilfe und Unterstützung benötige, und vor allem auf jenes mit dem gemeinsamen Kind, das auf seine Betreuung und Pflege angewiesen sei.

Damit zeigt der Beschwerdeführer im Ergebnis einen relevanten Begründungsmangel auf. Die belangte Behörde hat nämlich die gebotene Interessenabwägung nach § 66 FPG vor dem Hintergrund der in der Judikatur des Verfassungsgerichtshofes in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hervorgehobenen Kriterien nur unzureichend vorgenommen. So haben sich die Fremdenpolizeibehörden in Konstellationen wie der vorliegenden, also bei aufrechter Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin, nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes mit den konkreten Auswirkungen einer Ausweisung auf die Situation des Fremden und seiner Familienangehörigen zu befassen und nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners zu treffen (vgl. dazu die Erkenntnisse vom 9. November 2010, Zl. 2009/21/0031, und Zl. 2007/21/0493).

Die belangte Behörde hätte im konkreten Fall überdies unter näherer Bedachtnahme auf die Lebensverhältnisse des Beschwerdeführers insbesondere als Vater eines Kindes mit österreichischer Staatsbürgerschaft (§ 7 Abs. 1 lit. a Staatsbürgerschaftsgesetz 1985) eingehend begründen müssen, weshalb die Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers und die damit verbundene Trennung insbesondere von seinem österreichischen Kind dringend geboten iSd § 66 Abs. 1 FPG ist. In einer solchen Konstellation reicht der bloße Hinweis auf das Eingehen der Beziehung zu einem Zeitpunkt, als sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthalts bewusst gewesen sei, und die Betonung des großen öffentlichen Interesses an einem geordneten Fremdenwesen für eine nachvollziehbare Interessenabwägung nicht aus (vgl. das Erkenntnis vom 15. Dezember 2011, Zl. 2009/21/0303, mwH auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes).

Angesichts der aufgezeigten Begründungsmängel, bei deren Vermeidung die belangte Behörde in Bezug auf die Interessenabwägung zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Soweit in der Beschwerde ein Kennenlernen während eines Frankreichurlaubs der Ehefrau des Beschwerdeführers vorgebracht wird, ist anzumerken, dass im fortzusetzenden Verfahren eine Auseinandersetzung mit der Frage der Ausübung des ihr unionsrechtlich zustehenden Freizügigkeitsrechts durch die österreichische Ehefrau des Beschwerdeführers erforderlich ist.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, wobei die darin angeordnete Pauschalierung den (gesonderten) Zuspruch von Umsatzsteuer nicht vorsieht, weshalb das Mehrbegehren abzuweisen war.

Wien, am 21. Februar 2012

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