VwGH 2011/22/0148

VwGH2011/22/014822.7.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulyok und die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder sowie die Hofrätinnen Mag. Merl und Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der FH, vertreten durch Dr. Peter Philipp, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 17, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 28. April 2010, Zl. 319.803/2-III/4/10, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs3;
NAG 2005 §44a;
NAG 2005 §44b Abs1 Z3;
NAG 2005 §44b Abs2;
NAG 2005 §44b;
VwRallg;
MRK Art8;
NAG 2005 §44 Abs3;
NAG 2005 §44a;
NAG 2005 §44b Abs1 Z3;
NAG 2005 §44b Abs2;
NAG 2005 §44b;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem angefochtenen im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer serbischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" gemäß § 44 Abs. 3 und § 44b Abs. 1 Z 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) zurück.

Begründend führte die belangte Behörde aus, die im März 1992 geborene Beschwerdeführerin habe am 10. November 2008 den türkischen Staatsangehörigen H., der seit dem Jahr 1990 in Österreich lebe, geheiratet. Am 22. Dezember 2008 habe sie im Wege der Österreichischen Botschaft Belgrad einen Antrag auf Genehmigung der Familienzusammenführung mit ihrem Ehemann gestellt. Des Weiteren sei der Beschwerdeführerin von der ÖB Belgrad am 31. Dezember 2008 ein bis 30. Juni 2009 gültiges Visum C ausgestellt worden.

Der am 22. Dezember 2008 gestellte Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sei mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 21. Jänner 2009 abgewiesen worden. Maßgeblich dafür sei gewesen, dass die Beschwerdeführerin damals das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt habe und sohin nach damaliger Rechtslage die Voraussetzungen für den Familiennachzug nicht erfüllt gewesen seien. Den zwischenzeitig in Österreich besuchten Deutschkurs habe die Beschwerdeführerin ihren Angaben zufolge wegen Ablaufes des Reisevisums abbrechen müssen. Sie sei aus diesem Grund auch nach Serbien zurückgekehrt.

In weiterer Folge sei die Beschwerdeführerin mit einem vom 26. August 2009 bis 31. Jänner 2010 gültigen Visum C in Österreich eingereist. Hier habe sie am 6. November 2009 ihren Sohn F zur Welt gebracht.

Am 9. Dezember 2009 habe die Beschwerdeführerin einen Antrag auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung - beschränkt" nach § 44 Abs. 3 NAG gestellt. In diesem Antrag habe sie vorgebracht, erfahren zu haben, dass Ehepartner ab 1. Jänner 2010 bereits 21 Jahre alt sein müssten, um einen Aufenthaltstitel als Familienangehöriger erhalten zu können. Es sei für sie aber - dem weiteren Vorbringen zufolge - unvorstellbar, bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres, sohin noch drei Jahre, von ihrem Ehemann und ihrem Sohn getrennt leben zu müssen.

Daraufhin habe die Behörde erster Instanz die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien um Abgabe einer Stellungnahme ersucht. In der Stellungnahme nach § 44b Abs. 2 NAG vom 8. Jänner 2010 habe die Sicherheitsdirektion im gegenständlichen Fall "die Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen festgestellt". Die Sicherheitsdirektion habe ausgeführt, zwar die engen familiären Bindungen zum Sohn und dem Ehemann der Beschwerdeführerin nicht zu verkennen, jedoch dürfte nicht übersehen werden, dass die Beschwerdeführerin, ebenso wie ihr Sohn, noch nie im Besitz einer Niederlassungsbewilligung gewesen sei, und es ihr von vornherein hätte bewusst sein müssen, dass es ihr auf Grund der ihr erteilten Reisevisa verwehrt gewesen sei, sich auf Dauer in Österreich niederzulassen. Gerade den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden getroffenen Regelungen und deren Befolgung durch die betroffenen Fremden käme aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ein besonders hoher Stellenwert zu. Es liefe den öffentlichen Interessen grob zuwider, wenn ein Fremder bloß auf Grund von Tatsachen, die von ihm selbst geschaffen worden seien, hier: die Familiengründung, den Aufenthalt im Bundesgebiet auf Dauer erzwingen könnte. Die Sicherheitsdirektion habe zusammengefasst - so die belangte Behörde abschließend in der Wiedergabe der Stellungnahme der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien - "festgestellt, dass eine Ausweisung auch unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zulässig" sei.

In ihren rechtlichen Erwägungen folgerte die belangte Behörde, dass durch "diese Entscheidung der Sicherheitsdirektion Wien vom 8. Jänner 2010 (…) bereits eine Abwägung im Sinne des Art. 8 EMRK durchgeführt" worden sei. An diese "Entscheidung" seien "die NAG-Behörden gebunden". Sohin sei auch eine maßgebliche Änderung des Sachverhaltes "im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 NAG iVm Art. 8 EMRK" nicht hervorgekommen.

Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 2. Mai 2011, B 784/10-6, ablehnte und diese Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

§ 44 Abs. 3 und § 44b Abs. 1 und Abs. 2 NAG (samt Überschrift; in der hier maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011) lauten:

"Niederlassungsbewilligung - beschränkt

§ 44. …

(3) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen (§ 44a) oder auf begründeten Antrag (§ 44b), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, eine quotenfreie 'Niederlassungsbewilligung - beschränkt' zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 vorliegt und dies gemäß § 11 Abs. 3 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist.

§ 44b. (1) Liegt kein Fall des § 44a vor, sind Anträge gemäß §§ 43 Abs. 2 und 44 Abs. 3 als unzulässig zurückzuweisen, wenn

1. gegen den Antragsteller eine Ausweisung rechtskräftig erlassen wurde, oder

2. rechtskräftig festgestellt wurde, dass eine Ausweisung bloß vorübergehend (§ 10 AsylG 2005, § 66 FPG) unzulässig ist, oder

3. die Sicherheitsdirektion nach einer Befassung gemäß Abs. 2 in der Stellungnahme festgestellt hat, dass eine Ausweisung bloß vorübergehend unzulässig ist

und aus dem begründeten Antragsvorbringen im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens gemäß § 11 Abs. 3 ein maßgeblich geänderter Sachverhalt nicht hervorkommt.

(2) Liegt kein Fall des Abs. 1 Z 1 oder 2 vor, hat die Behörde unverzüglich die der zuständigen Fremdenpolizeibehörde übergeordnete Sicherheitsdirektion von einem Antrag gemäß §§ 43 Abs. 2 oder 44 Abs. 3 zu verständigen und eine begründete Stellungnahme zu fremdenpolizeilichen Maßnahmen, insbesondere ob eine Ausweisung auf Dauer oder bloß vorübergehend unzulässig ist, einzuholen. Bis zum Einlangen der begründeten Stellungnahme der Sicherheitsdirektion ist der Ablauf der Frist gemäß § 73 Abs. 1 AVG gehemmt. § 25 Abs. 2 gilt sinngemäß.

…"

Den vorgelegten Verwaltungsakten ist zu entnehmen, dass die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien mit Schreiben vom 8. Jänner 2010 als Ergebnis ihrer Stellungnahme mitgeteilt habe, es bestehe die "Zulässigkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen bzw. vorübergehende Unzulässigkeit". Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 15. Juni 2010, 2010/22/0046, klargestellt, dass die Heranziehung einer solchen Stellungnahme der Sicherheitsdirektion zur Antragsversagung nicht dem Gesetz entspricht. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird insoweit auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen. Aus den dort genannten Gründen erweist sich der angefochtene Bescheid auch hier als mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet.

Mit Blick auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid sieht sich der Verwaltungsgerichtshof aber auch veranlasst klarzustellen, dass - worauf im soeben genannten Erkenntnis auch hingewiesen wurde - die Sicherheitsdirektion, wenn sie der Ansicht ist, eine Ausweisung sei zulässig, in der Folge die erstinstanzliche Fremdenpolizeibehörde zur Einleitung des Ausweisungsverfahrens anweisen müsse.

Anders als die belangte Behörde meint, kann nicht davon ausgegangen werden, sie sei jedenfalls an die Ausführungen in der Stellungnahme der Sicherheitsdirektion gebunden. Aus der Bestimmung des § 44b Abs. 2 NAG geht zweifelsfrei hervor, dass die Sicherheitsdirektion lediglich eine Stellungnahme abzugeben, nicht aber einen Bescheid zu erlassen hat. Die belangte Behörde spricht im angefochtenen Bescheid von einer "Entscheidung" der Sicherheitsdirektion und geht davon aus, dass dieser - vom betroffenen Fremden im Rechtsweg nicht eigenständig bekämpfbaren - Stellungnahme dergestalt Bindungswirkung beizulegen sei, als die Ausführungen der Sicherheitsdirektion im Verfahren zur Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels von der belangten Behörde nicht weiter überprüfbar seien. Damit unterstellt sie aber der Bestimmung des § 44b Abs. 1 Z 3 NAG insofern einen verfassungswidrigen Inhalt, als dem betroffenen Fremden jeglicher Rechtsschutz gegen die inhaltliche Beurteilung, ob ein aus Art. 8 EMRK resultierender Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels besteht, genommen wäre. Dass der Gesetzgeber die genannte Bestimmung so verstanden wissen wollte, kann ihm aber gerade vor dem Hintergrund, dass er mit den mit BGBl. I Nr. 29/2009 neu geschaffenen Bestimmungen der §§ 43 ff NAG den Ausführungen im Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 27. Juni 2008, G 246/07 u.a., Rechnung tragen und Fremden hinsichtlich der nach Art. 8 EMRK notwendigen Prüfung den verfassungsrechtlich gebotenen Rechtschutz einräumen wollte (vgl. dazu die Ausführungen im Allgemeinen Teil der Erläuterungen zur Regierungsvorlage zur mit BGBl. I Nr. 29/2009 erfolgten Änderung u.a. des NAG, 88 BlgNR 24 GP, 1 f), nicht unterstellt werden. Demgegenüber wurde in diesen Erläuterungen zu § 44a und § 44b NAG (88 BlgNR 24 GP, 12) wörtlich ausgeführt: "Die ebenfalls zur Zurückweisung führende Stellungnahme der Sicherheitsdirektion im Sinne der Z 3 wird in Fällen zum Tragen kommen, in welchen die Zulässigkeit einer Ausweisung bereits im Asylverfahren zu prüfen war, jedoch noch kein Ausspruch über den Aspekt der Dauerhaftigkeit zu erfolgen hatte. Die Fremdenpolizeibehörden sollen in diesen Fällen nicht formal abzusprechen haben, sondern lediglich die 'Dauerhaftigkeit' beurteilen (...)."; und weiter (88 BlgNR 24 GP, 13): "Ist eine Ausweisungsentscheidung in einem vorangegangen asylrechtlichen Verfahren aufgrund einer drohenden Verletzung des Privat- und Familienlebens unterblieben, so hat die Fremdenpolizeibehörde darüber im allgemeinen nicht formal abzusprechen (siehe auch § 125 Abs. 10 (neu)), sondern unter Berücksichtigung der in der asylrechtlichen Entscheidung enthaltenen Begründung, die Aufenthaltsbehörde zu informieren, ob die Unzulässigkeit der Ausweisung als auf Dauer oder bloß vorübergehend beurteilt wird, was wiederum ein Vorgehen der Aufenthaltsbehörde nach § 44a oder § 44b Abs. 1 Z 3 nach sich zieht. Selbstverständlich hat die Fremdenpolizeibehörde aber allenfalls geänderte Umstände zu berücksichtigen. Hat sich daher der Sachverhalt seit der asylrechtlichen Entscheidung maßgeblich geändert und ist die Ausweisung (z.B. auf Grund von Straffälligkeit des Fremden) gemäß § 66 FPG mittlerweile möglich, so ist diese selbstverständlich zu erlassen. Mit der Normierung der Sicherheitsdirektionen als Ansprechpartner soll der Informationsfluss auf Länderebene zentral gebündelt werden. Selbstverständlich haben die Sicherheitsdirektionen im Innenverhältnis die zuständigen Fremdenpolizeibehörden zu befassen." Schon aus diesen Erläuterungen erhellt zweifelsfrei, dass das Vorliegen einer (die Erteilung eines Aufenthaltstitels nicht befürwortenden) Stellungnahme der Sicherheitsdirektion nicht in jedem Fall Grundlage einer Antragszurückweisung sein darf (vgl. in diesem Sinn auch die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 15. Juni 2010, 2010/22/0046), zumal der - von der belangten Behörde völlig verkannte - Anwendungsbereich des herangezogenen Zurückweisungsgrundes dann gegeben ist, wenn sich die Erlassung einer Ausweisung bisher als nicht zulässig dargestellt hat, diese Unzulässigkeit aber nur als vorübergehend anzusehen ist.

Es sei aber in der Sache selbst auch noch darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Prüfung nach Art. 8 EMRK auch jenem Umstand Augenmerk zu schenken sein wird, den die belangte Behörde bislang nicht gebührend beachtet hat, nämlich dass die Beschwerdeführerin serbische Staatsangehörige, hingegen ihr Ehemann und ihr Kind türkische Staatsangehörige sind, und demnach der Prüfung Bedeutung zukommt, ob das Familienleben in einem anderen Land geführt werden kann (vgl. zur Notwendigkeit, sich auch mit diesem Aspekt auseinandersetzen zu müssen, etwa das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2010, 2009/21/0096).

Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 1 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das den in dieser Verordnung für den Ersatz von Schriftsatzaufwand vorgesehenen Pauschalsatz übersteigende Begehren war allerdings abzuweisen.

Wien, am 22. Juli 2011

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte