VwGH 2011/11/0025

VwGH2011/11/002527.5.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde der C P in A, vertreten durch Dr. Hans-Peter Neher, Rechtsanwalt in 4820 Bad Ischl, Pfarrgasse 5/II, gegen den Bescheid der Bundesberufungskommission für Sozialentschädigungs- und Behindertenangelegenheiten beim Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz vom 13. Oktober 2010, Zl. 41.550/914-9/10, betreffend Hilfeleistung nach dem Verbrechensopfergesetz, zu Recht erkannt:

Normen

StGB §6 Abs1;
VOG 1972 §1 Abs1 Z1;
VOG 1972 §8 Abs1 Z2;
StGB §6 Abs1;
VOG 1972 §1 Abs1 Z1;
VOG 1972 §8 Abs1 Z2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem am 3. September 2008 eingebrachten Antrag vom 2. September 2008 stellte die Beschwerdeführerin ein Begehren auf Gewährung von Hilfeleistungen nach dem Verbrechensopfergesetz (VOG) (soweit hier erheblich, Ersatz des Verdienstentgangs) und legte verschiedene Urkunden als Beweismittel vor. In der Rubrik im Antragsformular "Kurze Schilderung des Tatherganges" verwies sie auf einen näher bezeichneten Strafakt des Landesgerichts Ried im Innkreis (Anm.: betreffend das Ehepaar SD und CD) und führte weiter aus: "Einschüchterung und Bedrohung durch betrügerischen Heilpraktika".

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin auf Ersatz des Verdienstentganges ab. Nach zusammengefasster Wiedergabe des Verfahrensganges und der Rechtslage heißt es, SD und CD seien in 29 Fällen wegen gewerbsmäßigen Betruges gemäß § 146, § 147 Abs. 3 und § 148 StGB strafgerichtlich verurteilt worden. Die Beschwerdeführerin sei eines der Opfer.

Nach Wiedergabe eines Vorbringens der Beschwerdeführerin (ua., wonach sie sich in einem "seelischen und psychischen Tief" befunden habe) führte die belangte Behörde im Wesentlichen weiter aus, auf die Beschwerdeführerin treffe der Ausschlussgrund des § 8 Abs. 1 Z 2 des Verbrechensopfergesetzes (VOG) zu, da sie sich "ohne anerkennenswerten Grund grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt" habe, "Opfer eines Verbrechens zu werden". Aufgrund ihrer Ausbildung und Berufslaufbahn sei von der Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bzw. Urteilskraft der Beschwerdeführerin auszugehen. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass undifferenzierte Dienstleistungen, welche Hilfe durch Magie anböten, die Gefahr mit sich brächten, Opfer unseriöser Machenschaften zu werden. Die Beschwerdeführerin habe um ihre psychische Labilität gewusst und hätte damit rechnen müssen, durch die Vorgangsweise von SD eine psychiatrische Gesundheitsschädigung zu erleiden. Sie habe damit rechnen müssen, aufgrund der von ihr vermuteten magischen Kraft des SD in eine Situation zu geraten, die sich ihrer Kontrolle entziehen bzw. Furcht bei ihr auslösen würde. Sie habe besonders nachlässig und leichtsinnig gehandelt und die nach ihren persönlichen Fähigkeiten zumutbare Vorsicht völlig außer Acht gelassen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, zu der die belangte Behörde die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und eine Gegenschrift mit dem Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde erstattet hat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Beschwerde erwogen:

1. Vorauszuschicken ist, dass gemäß § 79 Abs. 11 VwGG, BGBl. I Nr. 122/2013, auf das vorliegende, mit Ablauf des 31. Dezember 2013 beim Verwaltungsgerichtshof anhängige Beschwerdeverfahren die Bestimmungen des VwGG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 33/2013 weiter anzuwenden sind.

Das VOG, BGBl. Nr. 288/1972, in der hier maßgebenden Fassung, BGBl. I Nr. 48/2005, lautet auszugsweise:

"§ 1. (1) Anspruch auf Hilfe haben österreichische Staatsbürger, wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass sie

1. durch eine mit einer mehr als sechsmonatigen Freiheitsstrafe bedrohte rechtswidrige und vorsätzliche Handlung eine Körperverletzung oder eine Gesundheitsschädigung erlitten haben ...

und ihnen dadurch Heilungskosten erwachsen sind oder ihre

Erwerbsfähigkeit gemindert ist.

...

§ 2. Als Hilfeleistungen sind vorgesehen:

1. Ersatz des Verdienst- oder Unterhaltsentganges;

...

§ 8. (1) Von den Hilfeleistungen sind Beschädigte ausgeschlossen, wenn sie

  1. 1. an der Tat beteiligt gewesen sind,
  2. 2. ohne einen von der Rechtsordnung anerkannten Grund den Täter zu dem verbrecherischen Angriff vorsätzlich veranlaßt oder sich ohne anerkennenswerten Grund grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt haben, Opfer eines Verbrechens zu werden,

    ..."

    In den Erläuterungen (40 BlgNR 13. GP, 12) zu § 8 Abs. 1 Z 2 VOG, auf den sich die belangte Behörde stützte, heißt es auszugsweise:

    "Staatliche Hilfe soll solchen Personen nicht gewährt werden, die ihre Lage gewissermaßen selbst 'verschuldet' haben (Abs. 1 Z. 2 und 3). Dabei ist besonders an Personen zu denken, die den Täter durch Spott oder Beschimpfung zu dem verbrecherischen Angriff vorsätzlich herausgefordert oder die sich grobfahrlässig der Gefahr ausgesetzt haben, Opfer des Verbrechens zu werden. Diese Voraussetzungen werden häufig auf Gewalttaten zwischen Berufsverbrechern zutreffen."

    2. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom 29. März 2011, Zl. 2008/11/0168, zu den Anspruchsvoraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Z 1 VOG ausgeführt, maßgeblich sei unter anderem, dass sich die Gesundheitsstörung als eine vom Tätervorsatz umfasste Folge des Verstoßes gegen eine bestimmte Verbotsnorm darstelle. Gegenstand des Vorsatzes sei das Tatobjekt in seinen tatbildrelevanten Eigenschaften (Reindl in WK2 § 5 Rz 9).

2.1. Die belangte Behörde hat sich im angefochtene Bescheid nicht dahin festgelegt, ob sie die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG als erfüllt erachte (und hat auch keine sachverhaltsmäßigen Feststellungen dazu getroffen), wohl deshalb nicht, weil sie vom Vorliegen des Ausschlussgrundes nach § 8 Abs. 1 Z 2 zweiter Fall VOG ausging. Dieser ist dann gegeben, wenn der Betroffene sich ohne anerkennenswerten Grund grob fahrlässig der Gefahr ausgesetzt hat, Opfer eines Verbrechens zu werden.

Fahrlässig handelt, wer die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen verpflichtet und nach seinen geistigen und körperlichen Verhältnissen befähigt ist und die ihm zuzumuten ist (vgl. § 6 Abs. 1 StGB). Grobe Fahrlässigkeit liegt dann vor, wenn der Schaden als wahrscheinlich vorhersehbar war, wenn das Versehen mit Rücksicht auf seine Schwere oder Häufigkeit nur bei besonderer Nachlässigkeit und nur bei besonders nachlässigen oder leichtsinnigen Menschen vorkommt sowie nach den Umständen die Vermutung des "bösen Vorsatzes" naheliegt. Dabei ist auch das Element der schweren subjektiven Vorwerfbarkeit einzubeziehen: Zum Umstand, dass ein Verstoß objektiv ohne Zweifel als besonders schwer anzusehen ist, muss hinzutreten, dass er auch subjektiv schwerstens vorwerfbar ist. Bei der Beurteilung des Vorliegens grober Fahrlässigkeit sind stets die Umstände des Einzelfalles heranzuziehen (vgl. etwa die Beschlüsse des Obersten Gerichtshofes vom 12. September 2013, 10 Ob 41/13x, und vom 9. September 2008, 10 Ob 61/08f).

Die belangte Behörde ging im angefochtenen Bescheid aufgrund der Ausbildung und Berufslaufbahn der Beschwerdeführerin von deren "Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit bzw. Urteilskraft" aus, die sie dazu hätten befähigen müssen, die nach der Lebenserfahrung drohende Gefahr der angebotenen "Problemlösungen" zu erkennen.

2.2. Unberücksichtigt blieb dabei aber das im erstinstanzlichen Verfahren im Juli 2009 eingeholte Gutachten des Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, Dr. W, welches auszugsweise lautet:

"Es besteht insofern eine komplexe posttraumatische

Belastungsstörung, als bei der Patientin bereits frühere

Traumatisierungen stattgefunden hatten ... (Vater früh verstorben,

von der Mutter verlassen). Insbesondere wird im neurologischen

Pensionsgutachten ... über sexuellen Missbrauch durch den Onkel in

der Kindheit berichtet. Sie war somit bereits 'vortraumatisiert' als es zu den Vorfällen von 2004 bis 2005 kam. ... Es ist jedoch anzunehmen, dass sie bis zu Beginn der Vorfälle einigermaßen kompensieren konnte und im beruflichen Alltag 'funktionieren' konnte und dass es durch die Vorfälle von 2004 bis 2005, bei denen sie einem erheblichen psychischen Druck ausgesetzt war, zu einer Dekompensation kam und in weiterer Folge zu wiederholten stationären Aufenthalten aufgrund wiederkehrender Depressionen. ...

Folgende Gesundheitsschäden sind überwiegend auf die Vorfälle von 2004 bis 2005 zurückzuführen: Symptome einer

posttraumatischen Belastungsstörung, wobei ... bereits eine

frühere Traumatisierung bestanden haben dürfte und die Patientin bereits besonders 'vulnerabel' für weitere psychische Störungen war. Die wiederkehrenden depressiven Phasen (rezidivierende depressive Störung) können überwiegend (zu mehr als 50%) ebenfalls auf die Ereignisse zurückgeführt werden, im Sinne einer depressiven Dekompensation unter erheblichem psychischen Druck durch die Vorfälle.

... Als akausal (aufgrund einer Vorschädigung) ist zu werten:

Vermeidende (asthenische) Persönlichkeitsstörung. Unter anderem werden dabei die eigenen Bedürfnisse unter die anderer Personen untergeordnet, zu denen eine Abhängigkeit besteht, ... Die Persönlichkeitsstörung ist zwar akausal, stellt aber einen idealen Hintergrund bzw. 'Nährboden' dar, dass die Antragstellerin überhaupt erst Opfer der beiden Täter wurde.

... Zum verbleibenden kausalen Anteil:

Es besteht eine psychiatrische Mehrfachdiagnose und eine komplexe Traumatisierung mit vorbestehender Persönlichkeitsstörung, sodass eine genaue Trennung schwierig ist. Jedenfalls wird ein kausaler Anteil von über 50% anzunehmen sein. Es ist wahrscheinlich, dass es ohne die Vorfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu den wiederholten stationären Aufenthalten aufgrund der rezidivierenden Depression gekommen wäre. Beim verbleibenden Anteil handelt es sich im Sinne des § 84 StGB um eine schwere Körperverletzung, da dadurch eine jedenfalls länger als 24 Tage dauernde Gesundheitsschädigung bewirkt wurde.

...

... Zum Verdienstentgang

... Die derzeitige Arbeitsunfähigkeit ist mit

Wahrscheinlichkeit überwiegend auf das seinerzeitige Verbrechen

ursächlich zurückzuführen: es ist mit Wahrscheinlichkeit

anzunehmen, dass es erst durch die Vorfälle zu einer psychischen

Dekompensation kam ... Die Antragstellerin hatte trotz der

offensichtlich vorbestehenden Traumatisierung aus der Kindheit eine ausreichende Schulbildung absolvieren können und in weiterer Folge auch eine mehrjährige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt innegehabt, was dann durch die Vorfälle nicht mehr möglich gewesen war. ...

Die Antragstellerin wäre ohne die Vorfälle von 2004 bis 2005 mit

Wahrscheinlichkeit nicht arbeitsunfähig geworden.

...

... sie ist aus psychiatrischer Sicht derzeit nicht stabil

genug für eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt."

2.3. Die belangte Behörde hat diese Ausführungen des Sachverständigen nicht berücksichtigt und sich im angefochtenen Bescheid auch nicht dahin festgelegt, ob und wenn ja, inwieweit sie die Ausführungen des Sachverständigen teile oder nicht. Dies wäre aber geboten gewesen: Teilte man die Ergebnisse des Gutachtens, in dem der Beschwerdeführerin eine Vortraumatisierung und eine asthenische Persönlichkeitsstörung attestiert wird, welche zwar akausal ist, "aber einen idealen Hintergrund bzw. 'Nährboden' dar(stellt), dass die Antragstellerin überhaupt erst Opfer der beiden Täter wurde", wäre der Beschwerdeführerin ihr Verhalten im Zusammenhang mit der Straftat wenn überhaupt, so jedenfalls nicht in einem Ausmaß vorwerfbar, das als grob fahrlässig zu qualifizieren wäre.

3. Da die belangte Behörde eine Berücksichtigung des Gutachtens unterließ, belastete sie den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weshalb er (schon deshalb) gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war; mangels diesbezüglicher Sachverhaltsfeststellungen im angefochtenen Bescheid hatte dabei eine Auseinandersetzung mit der (von der belangten Behörde nicht behandelten) Frage, ob die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Z 1 VOG vorliegen, zu unterbleiben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff iVm § 79 Abs. 11 letzter Satz VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 27. Mai 2014

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