VwGH 2009/13/0014

VwGH2009/13/001418.11.2009

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Hargassner und die Hofräte Dr. Fuchs, Dr. Nowakowski, Dr. Pelant und Dr. Mairinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Unger, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. Herbert Kaspar, Rechtsanwalt in 1120 Wien, Wilhelmstraße 54, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Wien, vom 30. Dezember 2008, Zl. RV/2487-W/08, betreffend Abweisung eines Antrages auf Gewährung der (erhöhten) Familienbeihilfe ab 1. Mai 2004, zu Recht erkannt:

Normen

FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
FamLAG 1967 §6 Abs2 litd;
FamLAG 1967 §6 Abs5;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid vom 24. September 2007 wies das Finanzamt einen Antrag des im März 1956 geborenen Beschwerdeführers auf Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe ab Mai 2004 ab. Es begründete diese Entscheidung unter Hinweis auf ein ärztliches Sachverständigengutachten damit, dass die Erkrankung des Beschwerdeführers "erst nach dem 21. Lebensjahr" eingetreten sei und die Anspruchsvoraussetzungen des § 6 Abs. 2 lit. d Familienlastenausgleichsgesetz 1967 (FLAG) daher nicht erfüllt seien.

Das am 3. August 2007 erstellte Gutachten beruhte auf einer Untersuchung im Bundessozialamt Wien am 27. Juli 2007 und gelangte zu einer rückwirkenden Anerkennung der schweren Behinderung des Beschwerdeführers "ab 2004-05-01 aufgrund der vorgelegten relevanten Befunde". Als "relevante vorgelegte Befunde" erwähnte das Gutachten einen solchen vom 12. Mai 2004 und einen weiteren vom 26. Juli 2007.

In der Berufung vom 16. Oktober 2007 gegen den Bescheid des Finanzamtes führte der Sachwalter des Beschwerdeführers aus, die Behinderung sei nicht erst nach dem 21. Lebensjahr des Beschwerdeführers eingetreten und dieser habe nach dem 21. Lebensjahr eine Ausbildung erhalten. Der ärztlichen Beurteilung trat er u.a. mit dem Argument entgegen, die Angaben des Beschwerdeführers über "einschlägige Beschwerden" schon seit dem 19. Lebensjahr seien nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Mit Schreiben vom 6. Dezember 2007 übermittelte der Sachwalter einen ärztlichen Befund vom 8. August 2001 mit dem Hinweis, weitere Unterlagen aus einer Klinik in Graz seien angefordert worden und würden nachgereicht werden. Im April 2008 langte beim Finanzamt die damit offenbar gemeinte Krankengeschichte vom Juli 2003 ein.

Das Finanzamt holte ein neues ärztliches Gutachten ein, das am 17. Juni 2008 erstellt wurde und auf einer Untersuchung des Beschwerdeführers am 3. Juni 2008 beruhte. Als "relevante vorgelegte Befunde" erwähnte dieses Gutachten nur dieselben wie das Gutachten vom August 2007. Das neue Gutachten gelangte aber zu dem Ergebnis, die rückwirkende Anerkennung der Behinderung sei "ab 1985-01-01 aufgrund der vorgelegten relevanten Befunde möglich". Der Beschwerdeführer sei "seit 1/85" dauernd außer Stande, sich den Unterhalt zu verschaffen. Es sei dies das "Jahr der 1. stat. Aufnahme in Graz".

Mit Berufungsvorentscheidung vom 17. Juli 2008 wies das Finanzamt die Berufung als unbegründet ab. Es gründete diese Entscheidung darauf, dass das neue Gutachten zwar die "rückwirkende Einschätzung der Behinderung" ab Jänner 1985 ergeben habe, der Beschwerdeführer aber schon im März 1983 das 27. Lebensjahr vollendet habe. Diese Entscheidung wurde dem Sachwalter am 21. Juli 2008 zugestellt.

Schon mit Schreiben vom 18. Juli 2008 hatte der Sachwalter dem Finanzamt weitere Unterlagen über den Verlauf der Erkrankung des Beschwerdeführers übermittelt. Es handelte sich dabei um ein Gedächtnisprotokoll der in Deutschland lebenden Schwester des Beschwerdeführers vom 9. Juli 2008 und um Briefe aus dem Zeitraum 1974 bis 1977. Der Sachwalter führte dazu aus, aus den Unterlagen gehe hervor, dass die Krankheit schon in der Schulzeit des Beschwerdeführers ausgebrochen sei.

Nach Erhalt der Berufungsvorentscheidung stellte der Sachwalter mit Schriftsatz vom 4. August 2008 den Antrag auf Vorlage der Berufung an die belangte Behörde. Er brachte dazu vor, er habe offensichtlich überschneidend mit der Berufungsvorentscheidung noch entscheidungswesentliche Urkunden vorgelegt, die nicht berücksichtigt worden seien. Bei Einbeziehung dieser vom Sachwalter nur durch Zufall erlangten Unterlagen hätte der Sachverständige "die Behinderung noch weit vor 1985 feststellen können".

Die belangte Behörde sah von weiteren Ermittlungsschritten ab und wies die Berufung mit dem angefochtenen Bescheid als unbegründet ab.

In der Begründung führte sie - nach einer Darstellung des Verfahrensganges und der Rechtslage - im Wesentlichen aus, gegenständlich sei aktenkundig, dass es schon vor dem 27. Lebensjahr Krankheitszeichen und auch zeitweilige Behandlung mit Tabletten gegeben habe. Dies sei durch die vorgelegten Unterlagen glaubhaft gemacht worden. Die Schwester des Beschwerdeführers führe darin aus, die Krankheit habe bereits zwischen dem 17. und 18. Lebensjahr des Beschwerdeführers begonnen. Damals sei aber "laut Schwester" des Beschwerdeführers noch nicht absehbar gewesen, dass die Krankheit nicht heilbar sei und sich verschlimmern würde. Im Sachverständigengutachten vom 17. Juni 2008 werde ausgeführt, dass die rückwirkende Anerkennung der Erwerbsunfähigkeit erst ab Jänner 1985 möglich sei:

"Im Jahr 1985 war der Bw. bereits 29 Jahre alt, also war lt. angeführtem Sachverständigengutachten vom 17.6.2008 die rückwirkende Anerkennung des Behinderungsgrades von 70 % mit der Bescheinigung dauernder Erwerbsunfähigkeit erst ab dem 2. Jahr nach dem 27. Lebensjahr des Bw. möglich, somit war der Bw. damals bereits 29 Jahre alt."

Der Beschwerdeführer habe die Militärakademie besucht und sei 1986, also mit 30 Jahren, beim Hauptmannkurs "hinausgeflogen". Zwischen diesem Umstand und der rückwirkenden Anerkennung der Behinderung ab Jänner 1985 durch den Sachverständigen bestehe nach Meinung der belangten Behörde ein zeitlicher Zusammenhang, der den Auftritt der Behinderung zu Beginn des Jahres 1985 bestätige.

Die weiteren Ausführungen der belangten Behörde lauteten wie folgt:

"Insgesamt ist der UFS zu der Ansicht gelangt, dass bereits vor dem 27. Lebensjahr offenkundig hätte sein müssen, dass der Bw. außerstande sei, dauernd seinen Unterhalt zu verdienen, um die Voraussetzungen für den Anspruch auf Familienbeihilfe lt. FLAG 1967 idgF zu erfüllen. Nur wenn der Bw. jedenfalls ab seinem 27. Lebensjahr nicht mehr mit Dauerhaftigkeitsabsicht bzw. Dauerhaftigkeitsmöglichkeit (dauerhaft, was beabsichtigt gewesen zu sein schien: etwa Milak Hauptmannkurs) erwerbsfähig sein hätte können, hätte dem Berufungsbegehren allenfalls entsprochen werden können.

Dies war jedoch gegenständlich nicht der Fall. Laut SV-GA ist der Bw. seit 1/1985 (also mit rund 29 Jahren (Geb.Dat. 15.3.1956), d. h. der Bw. war bereits älter als 27 Jahre) außer Stande, sich dauerhaft den Unterhalt zu verschaffen. Aus diesen Gründen ist auch nicht näher darauf einzugehen, ob und wie lange sich der Bw.

tatsächlich in Ausbildung befunden hat.

Der Bw. ist beispielsweise erst im Jahr 1986 beim

Hauptmannkurs (Milak) hinausgeflogen.

Laut seinen eigenen Angaben war der Bw. unter anderem bei der

Militärakademie. Dort sei er wie bereits erwähnt 1986 beim Hauptmannkurs hinausgeflogen. Später hat er dann als LKW-Fahrer am Bau gearbeitet, er hat in einer Druckerei geputzt und ist dann 10 Jahre lang als Vermessungsingenieur tätig gewesen (vgl. Bl. 23/HA; vom Bw. selbst aufgrund eines Vorhalts vom 15.11.2007 vorgelegte Krankengeschichte: ärztlicher Bericht der Frau Dr. K. Ramskogler vom 8.8.2001 (vorgelegt vom Bw.), Bl. 20 ff/HA).

Tatsächlich hat sich erst nach dem 27. Lebensjahr gezeigt bzw. herauskristallisiert und herausgestellt, dass der Bw. auf Grund seiner Behinderung (voraussichtlich) außerstande sei, seinen Unterhalt dauernd zu verdienen.

Dies wurde auch von der Schwester des Bw. bestätigt, die ausführte, dass als der Bw. 17 oder 18 Jahre alt war, noch nicht absehbar gewesen sei, dass die Krankheit nicht heilbar sei und sich verschlimmern würde (s. oben; Bl. 36/HA).

Das o.a. ärztliche Sachverständigengutachten wurde am 17.6.2008 von einem Facharzt für Psychiatrie und Neurologie erstellt, und bestätigt, dass die rückwirkende Anerkennung der Einschätzung des Grades d. Behinderung ab 1985-01-01 aufgrund der vorgelegten relevanten Befunde möglich ist. Laut dem SV-GA ist der Bw. seit 1/1985 außer Stande sich dauerhaft den Unterhalt zu verschaffen. Angemerkt wird, dass der Bw. 1985 eben bereits 29 Jahre (also älter als 27 Jahre) alt war.

Insgesamt erscheint das SV-Gutachten vom 17.6.2008 (Bl. 29 ff/HA) iVm dem gesamten Akteninhalt inkl. der vom Bw.

selbst vorgelegten Unterlagen schlüssig.

In dem SV-GA wird dezidiert ausgeführt, dass der Bw. 'seit

1/1985 dauernd außer Stande ist, sich den Unterhalt zu verschaffen'.

Insgesamt sind zwei Sachverständigen-Gutachten (SV-GA)

aktenkundig: SV-GA vom 17.6.2008: dieses bescheinigt die rückwirkende Anerkennung des Grades der Behinderung des Bw. sowie der dauernden Erwerbsunfähigkeit ab 1.1.2005. Das SV-GA des Bundessozialamtes vom 3.8.2007 (Bl. 3/HA) bescheinigt die Behinderung und die voraussichtliche dauernde Erwerbsunfähigkeit rückwirkend mit 1.5.2004. Beide Gutachten bescheinigen eine Behinderung in Höhe von 70% mit voraussichtlich mehr als 3- jähriger Dauer.

Lediglich der Vollständigkeit halber wird erwähnt, dass aus der Zeitdifferenz von einigen Monaten zwischen den beiden Daten 1.1.2005 und 1.5.2004 für das Berufungsbegehren nichts gewonnen werden kann, was auch vom Bw. nicht behauptet wurde.

Aus angeführten Gründen ist der UFS zu der Ansicht gelangt, dass sich erst nach dem 27. Lebensjahr herausgestellt hat, dass der Bw. eine erhebliche Behinderung hat, die eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit bewirkt. Dies wird untermauert durch das o.a. Sachverständigengutachten vom 17.6.2008, das rückwirkend ab 1985- 01-01 bestätigt, dass es aufgrund der vorgelegten Befunde möglich ist, zu bescheinigen, dass der Bw. eben ab 1985-01-01 aufgrund seiner Behinderung dauerhaft erwerbsunfähig sein würde.

Die Anspruchsvoraussetzungen des § 6 Abs. 2 FLAG iVm § 6 Abs. 5 FLAG sind aus angeführten Gründen nicht erfüllt.

Es ist daher spruchgemäß zu entscheiden."

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof erwogen hat:

Der Sachwalter des Beschwerdeführers hat im Berufungsverfahren Unterlagen zum Krankheitsverlauf vorgelegt, die dem Sachverständigen bei der Erstellung des Gutachtens vom 17. Juni 2008 nicht bekannt waren, und dazu im Vorlageantrag vorgebracht, der Sachverständige - dessen Schlüsse aus den ihm vorliegenden Tatsachen in diesem Schriftsatz nicht kritisiert wurden - hätte in Kenntnis der neu vorgelegten Unterlagen zu einer Feststellung der Behinderung noch weit vor 1985 kommen können. Die belangte Behörde hat davon abgesehen, den Sachverständigen zur Klärung dieser Frage beizuziehen, und ihre abweisende Entscheidung einerseits auf das Gutachten vom 17. Juni 2008 - in dem die erwähnten Unterlagen noch nicht berücksichtigt waren - und andererseits auf eigene beweiswürdigende Erwägungen gestützt.

Diese Erwägungen sind unter dem Gesichtspunkt der dem Verwaltungsgerichtshof obliegenden Schlüssigkeitsprüfung nicht geeignet, die angefochtene Entscheidung zu tragen. Die belangte Behörde stützt sich auf die Einschätzung der - nicht medizinisch sachverständigen - Schwester des Beschwerdeführers, wonach um die Mitte der Siebzigerjahre noch nicht absehbar gewesen sei, dass die Krankheit nicht heilbar sei und sich verschlimmern würde, und verwendet dies als Argument dagegen, dass der Sachverständige in Kenntnis der neu vorgelegten Unterlagen zu einer Vorverlegung des maßgeblichen Zeitpunktes von Jänner 1985 auf einen vor der Vollendung des 27. Lebensjahres des Beschwerdeführers im März 1983 liegenden Zeitpunkt gelangt wäre. Sie hält dem Beschwerdeführer im selben Argumentationszusammenhang auch den Besuch eines "Hauptmannkurses" sowie weitere Tätigkeiten aus den Jahren 1986 und danach entgegen, obwohl sie dem Gutachten folgend davon ausgeht, die auf der Behinderung beruhende voraussichtlich dauernde Unfähigkeit, sich selbst den Unterhalt zu verschaffen, sei schon ab Beginn des Jahres 1985 vorgelegen. Gegen Ende der Ausführungen wird die rückwirkende Anerkennung der dauernden Erwerbsunfähigkeit in dem Gutachten vom 17. Juni 2008 von Jänner 1985 auf Jänner 2005 verlegt und - wie im Übrigen auch noch in der Gegenschrift - erörtert, dass zwischen dem Ergebnis dieses Gutachtens und der rückwirkenden Anerkennung ab Mai 2004 im Erstgutachten nur eine "Zeitdifferenz von einigen Monaten" liege, obwohl schon im nächsten Absatz das Datum "1985-01-01" wiederkehrt.

Diese Ausführungen sind kein geeigneter Ersatz für eine Gutachtensergänzung unter Einbeziehung der zusätzlichen Unterlagen, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am 18. November 2009

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