VwGH 2008/01/0583

VwGH2008/01/058328.6.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde der V R in W, geboren 1971, vertreten durch e/n/w/c Natlacen Walderdorff Cancola Rechtsanwälte GmbH in 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 23. Mai 2008, Zl. 319.047-1/2E-V/14/08, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §5;
EMRK Art8;
AsylG 2005 §10 Abs1 Z1;
AsylG 2005 §10 Abs4;
AsylG 2005 §5;
EMRK Art8;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Serbien, beantragte am 25. Februar 2008 die Gewährung von internationalem Schutz.

Bei der Erstbefragung vom selben Tag gab sie dazu an, sie wolle in Österreich bei ihren (1999 und 2002 geborenen) Kindern bleiben. Sie mache alles für ihre Kinder. Diese lebten bei deren Vater, der nach der Trennung von der Beschwerdeführerin eine andere Frau geheiratet habe. Die Beschwerdeführerin sei abwechselnd nach Serbien und dann wieder zu ihren Kindern gefahren. Sie besuche die Kinder, wenn ihr Ex-Lebensgefährte nicht da sei. Kontakt hätten sie nur wegen der Kinder.

Bei ihrer Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 11. April 2008 gab die Beschwerdeführerin an, sie sei im September 2007 mit einem spanischen Visum (wieder) in das Bundesgebiet eingereist und halte sich seither durchgehend in Österreich auf. Ihre beiden Kinder lebten seit 2004 bei deren Vater, dem ehemaligen Lebensgefährten der Beschwerdeführerin, in Wien. Bereits von November 2004 bis zu ihrer freiwilligen Ausreise am 20. April 2007 sei die Beschwerdeführerin durchgehend (unrechtmäßig) in Österreich aufhältig gewesen. Sie habe in diesem Zeitraum von der Unterstützung durch ihren Vater, Freunde und ihren früheren Lebensgefährten gelebt. Sie habe bei Bekannten gewohnt, manchmal aber auch bei ihrem Ex-Lebensgefährten und ihren Kindern übernachtet. Ihre Kinder habe sie in diesem Zeitraum nahezu täglich gesehen. Auch während eines Heimaturlaubes der Kinder in Serbien im Sommer 2007 habe sie die Kinder gesehen. In letzter Zeit - von ihrer (Wieder-)Einreise im September 2007 an bis zur Verhängung der Schubhaft über die Beschwerdeführerin am 22. Februar 2008 - habe sie wieder zumeist bei ihrem Ex-Lebensgefährten gewohnt, nur vier- oder fünfmal habe sie bei Bekannten übernachtet. Ihre Kinder würden sie auch in der Schubhaft besuchen.

Das Bundesasylamt wies den Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück und stellte fest, dass gemäß Art. 9 Abs. 4 "der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" (Dublin-Verordnung) Spanien für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Weiters wies es die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Spanien aus und erklärte "demzufolge" ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Spanien gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 für zulässig (Spruchpunkt II.).

In ihrer dagegen gerichteten Berufung verwies die Beschwerdeführerin abermals auf den Kontakt zu ihren rechtmäßig in Österreich aufhältigen Kindern und deren Vater. Zwischen der Beschwerdeführerin und ihren Kindern bestehe ein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK, da sie diese von 2004 bis April 2007 nahezu täglich gesehen und seit September 2007 vorwiegend bei den Kindern und deren Vater gelebt habe. Dieses Familienleben sei auch nie beendet worden. Ein aktuelles Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt sei nicht erforderlich, um ein Familienleben zu begründen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 23. Mai 2008 wies die belangte Behörde die Berufung gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Die Beschwerdeführerin sei im Besitz eines bis zum 9. November 2007 gültigen spanischen Aufenthaltstitels im Sinne von Art. 9 Dublin-Verordnung gewesen und habe das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten seither nicht mehr verlassen, weshalb gemäß Art. 9 Abs. 4 Dublin-Verordnung Spanien für die Prüfung ihres Asylantrages zuständig sei. Auch die belangte Behörde könne keine Anhaltspunkte dafür finden, dass durch die Ausweisung der Beschwerdeführerin nach Spanien "eine Verletzung von Art. 8 EMRK drohen" würde und somit vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen wäre. Nicht festgestellt werden könne, dass ein Familienleben der Beschwerdeführerin "zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden in Österreich" bestehe. Die Beschwerdeführerin habe ein "gemeinsames Familienleben bzw. das Bestehen eines gemeinsamen Haushaltes mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten und den beiden gemeinsamen Kindern respektive ein finanzielles Abhängigkeitsverhältnis" nicht nachzuweisen vermocht. Ihre minderjährigen Kinder lebten "bereits seit geraumer Zeit, konkret seit dem Jahr 2004, in einem selbständigen Familienverband mit ihrem leiblichen Vater und dessen Ehegattin". Mit Ausnahme "von gelegentlichen Besuchen" der Beschwerdeführerin während ihres illegalen Aufenthaltes in Österreich habe "keinerlei näherer Kontakt" bestanden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:

Die Beschwerdeführerin erachtet sich unter anderem im Recht auf Wahrnehmung des Selbsteintrittsrechts der Republik Österreich gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung aus Gründen des Art. 8 EMRK verletzt. Die Feststellung, wonach kein Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK zu einem dauernd aufenthaltsberechtigten Fremden vorliege, stehe im Widerspruch zum Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach eine enge familiäre Nahebeziehung zu ihren Kindern bestehe. Art. 8 EMRK umfasse jedenfalls die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, unabhängig davon, ob die Kinder ehelich oder unehelich oder ob die Eltern geschieden bzw. getrennt seien. Die Kinder gehörten somit nach wie vor zur Familie der Beschwerdeführerin.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind Kinder aus einer Familienbeziehung im Sinne des Art. 8 EMRK allein auf Grund ihrer Geburt und von diesem Zeitpunkt an ipso iure Teil dieser Familie. Mit der Trennung der Eltern endet nicht automatisch das Familienleben eines der Elternteile zu seinem minderjährigen Kind. Zur Beurteilung der Frage, ob ein "Familienleben" im Sinne des Art. 8 EMRK besteht, ist im Einzelfall auf das tatsächliche Vorliegen enger persönlicher Bindungen ("close personal ties") abzustellen, wobei es insbesondere auf das nachweisliche Interesse des betreffenden Elternteiles am Kind und sein diesbezügliches Engagement ankommt (vgl. etwa das Urteil des EGMR vom 3. Dezember 2009, Zaunegger gegen Deutschland, Beschwerde Nr. 22028/04, Rdnr. 37 und 38, mit weiteren Hinweisen auf die Rechtsprechung des EGMR).

Davon ausgehend hat die belangte Behörde ihre Annahme, zwischen der Beschwerdeführerin und ihren minderjährigen Kindern bestehe kein gemäß Art. 8 EMRK relevantes Familienleben, nicht nachvollziehbar begründet, fehlt es dem angefochtenen Bescheid doch an einer näheren Würdigung des Vorbringens zum Vorliegen einer engen persönlichen Beziehung. Demnach habe die Beschwerdeführerin im Zeitraum von 2004 bis April 2007 "nahezu täglich" Kontakt zu ihren Kindern gehabt und von September 2007 an (vorwiegend) bei ihrem ehemaligen Lebensgefährten und den Kindern gewohnt. Wie die belangte Behörde angesichts dieses Vorbringens - ohne weitere Ermittlungen bzw. ohne nähere beweiswürdigende Erwägungen - zu der Einschätzung gelangen konnte, mit Ausnahme gelegentlicher Besuche der Beschwerdeführerin während ihres illegalen Aufenthaltes in Österreich habe "keinerlei näherer Kontakt" zwischen ihr und den Kindern bestanden, ist nicht nachvollziehbar.

Damit lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden im gegenständlichen Fall unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch machen hätten müssen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 17. November 2009, Zl. 2007/20/0955, mit Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 23. Jänner 2007, Zl. 2006/01/0949, zur grundrechtskonformen Interpretation des AsylG 2005 unter Bedachtnahme auf die Bestimmungen der EMRK).

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 28. Juni 2011

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